Penelope zieht in den Krieg

11. Februar 2023. Der ukrainische Autor Pavlo Arie und der Regisseur Stas Zhyrkov ändern in ihrer Adaption der "Odyssee" die Perspektive und behandeln sie als Sache der Frauen. Auf der Bühne: ukrainische und Düsseldorfer Spieler:innen, die beklemmende wie niederschmetternde Erfahrungen ukrainischer Frauen vergegenwärtigen.

Von Martin Krumbholz

Wohin? Die "Odyssee" von Autor Pavlo Arie und Regisseur Stas Zhyrkov am Düsseldorfer Schauspielhaus © Sandra Then

11. Februar 2023. Nachdem er vom blutigen Gemetzel zwischen Griechen und Trojanern in Kleinasien Zeugnis abgelegt hat, berichtet Homer von der zehnjährigen Heimreise des Helden Odysseus, die in Wahrheit eine spektakuläre Abenteuerfahrt mit gefährlichen, teilweise grotesken Episoden, aber auch mit lustvollen, sich jahrelang hinziehenden Intermezzi gewesen ist. Daheim in Ithaka wartet treu die Gattin Penelope, umgeben von lüsternen "Freiern", die der heimkehrende Krieger erledigen muss. Das gemeinsame Söhnchen Telemachos wächst heran und wird der Mutter eines Tages den Mund verbieten: Komm, geh an deinen Webstuhl, wird er so ungefähr sagen, das Reden ist Sache der Männer. Einer der ganz großen Gründungsmythen der abendländischen Geschichte ist damit geschaffen, unvergänglich, immer wieder gelesen, vielfach transformiert, parodiert, verfilmt, im kollektiven Bewusstsein der Menschheit aufgehoben.

Der ukrainische Dramaturg und Autor Pavlo Arie verändert in seiner Adaption des Stoffs die Perspektive, indem er den nun fast ein Jahr währenden Krieg in der Ukraine als eine Sache der Frauen behandelt. Auf der Düsseldorfer Bühne steht kein einziger erwachsener Mann; es sind ukrainische und Düsseldorfer Frauen und Kinder, die sie bespielen und entweder von sich selbst erzählen, von ihrer (Flucht-)Geschichte, oder mit beeindruckender Empathie die beklemmenden, ja niederschmetternden Erfahrungen ukrainischer Frauen vergegenwärtigen.

Sache der Frauen

Dass man beides nicht immer auf den ersten Blick unterscheiden kann, liegt an der Akribie, mit der Regisseur Stas Zhyrkov gearbeitet haben muss: Immerhin haben wir es ausschließlich mit Laien zu tun, es handelt sich um eine Aufführung des Stadt:Kollektivs am Düsseldorfer Schauspielhaus, vielleicht der besten, jedenfalls berührendsten bisher.

Odyssee6 Sandra ThenIn den Fängen der Politik: Die "Odyssee" des Stadt:Kollektivs am Düsseldorfer Schauspielhaus, von Pavlo Arie und Stas Zhyrkov © Sandra Then

Penelope ist allgegenwärtig. "Sie wartet nicht, sie handelt", heißt es im Programmheft. Das stimmt, und es stimmt auch nicht. Denn Penelope zieht in den Krieg, als Soldatin, als Sanitäterin, als Hundeführerin wie in der erstaunlichen Szene mit Kristina Karst-El Scheich, die allein in einer maroden Toilette stehend erzählt, wie es einer Frau im Krieg ergeht, in einem Keller zum Beispiel, in den Granaten geworfen werden. Penelope wird aber auch vergewaltigt, wird auf eine Weise zum Opfer gemacht und gedemütigt, wie es Männern selbst im Krieg selten widerfährt, und hier erreicht die Aufführung eine Schmerzgrenze: Die letztlich triumphale Aufnahme des Abends zeigt indessen, dass das Publikum es akzeptiert, mit einer grauenvollen Realität konfrontiert zu werden.

Gehen oder bleiben?

Dennoch wird auch viel gelacht. Die Form der Collage, die Pavlo Arie und Stas Zhyrkov gewählt haben, ermöglicht die unterschiedlichsten Temperaturen des Performens. Die Auftritte von Olaksandra Doloboyska und Vasylysa Furmanova mit ihren Gitarren sind kleine temperamentvolle Feuerwerke und voller mimetischer Lust, ob sie nun bei ihren Fluchtgeschichten von mitreisenden Katzen, Hunden oder welchen animalischen Gegebenheiten auch immer berichten: Wäre es nicht etwas deplatziert, könnte man sagen, die beiden jungen Frauen haben es raus, sie rocken den Saal.

Odyssee7 Sandra ThenAn den Gitarren: Vasylysa Furmanova und Oleksandra Dolobovska © Sandra Then

Sein schlechtes Gewissen, bekennt Pavlo Arie, der die Ukraine im März 2022 verlassen und nicht zur Waffe gegriffen hat, sei auch eine Energiequelle, er arbeite unermüdlich, pausenlos, "ohne Kaffee trinken zu gehen". Zhyrkow hat der Ukraine ebenfalls nach Kriegsbeginn den Rücken gekehrt, nachdem er vorher schon mehrfach in Deutschland gearbeitet hat.

Im falschen Zug

Es gibt dann in dieser "Odyssee" noch die Teenagergeschichten, auf ihre Art ebenfalls herzzerreißend. Eine junge Düsseldorferin hat sich zum ersten Mal verliebt, in einen ukrainischen Jungen, das sei so ein Gefühl, meint sie, "nicht ganz wie bei Mike Tyson, aber es trifft heftiger." Der lockenköpfige Junge ist gar nicht abgeneigt, aber wie Telemachos muss er sich auf die Suche nach seinem Vater begeben, und der befindet sich nicht etwa auf irgendeiner Odyssee, sondern in einem Krieg, der Europa aufwühlt. Die ICEs, in die die Flüchtenden steigen, wenn sie nicht gecancelt werden, haben alle die Nummer "2402". Der 24. Februar, der sich bald zum ersten Mal jährt, ist ein magisches Datum. Niemand weiß, wann es ein zweites Datum geben wird, das das Ende dieses Irrsinns markiert.

Odyssee
frei nach Homer von Pavlo Arie
Regie: Stas Zhyrkov, Autor: Pavlo Arie, Bühne und Kostüm: Paulina Barreiro, Musik: Mariana Sadovska, Oleksandra Dolobovska, Vasylysa Furmanova, Video: Lev Gonopolskiy, Dolmetscher: Sebastian Anton, Licht: Konstantin Sonneson, Dramaturgie: Birgit Lengers.
Mit: Renat Bezpaliuk, Marta Bezpaliuk, Yuliia Birzul, Oleksandra Dolobovska, Olha Fish, Vasylysa Furmanova, Viktoria Gershevskaya, Alrun Juman Göttmann, Illia Ivliev, Kristina Karst-El Scheich, Greta Kolb, Tetiana Kuleba, Charlott Lindecke, Iryna Marchenko, Julie Marienfeld, Alexandra Peschke.
Premiere am 10. Februar 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.dhaus.de

 

Mehr von Stas Zhyrkov und Pavlo Arie: Im September 2021 inszenierten sie an der Berliner Schaubühne Sich waffnend gegen eine See von Plagen, ein Abend, der zeigt, was der Krieg mit den Menschen macht

 

Kritikenrundschau 

Der Inszenierung gelinge es, "einen hohen Spannungsbogen zu halten" und die "Leistung des gesamten Ensembles" sei "umwerfend", gibt Regina Goldlücke in der Rheinischen Post (13.2.2023) zu Protokoll. Man vergesse angesichts der "vielen wunderbaren Talente", dass alle Stücke fürs Düsseldorfer Stadtkollektiv mit Laien einstudiert werden.

"Großartig und herzzerreißend" findet Dorothea Marcus in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandfunk (11.2.2023) diesen Abend: "Mit unglaublicher Power und Präsenz berichten die Ukrainerinnen, wie sie sich blitzschnell zur Flucht entschieden." Sie bieten grandiose Gitarrenduelle zur Ankunft in Deutschland; dann verdüstere sich die Geschichte. "Pavlo Arie hat seine Interviews literarisch klug bearbeitet, mit anderen ergänzt; nicht immer sind die Geschichten konkreten Personen zugeordnet." Fazit: "Auch wenn manches sehr pathetisch, manche Geschichte zu konstruiert wirkt, der Abend vibriert mit seiner emotionalen Wucht und Vitalität."

Kommentare  
Odyssee, Düsseldorf: Erzählkraft
Eine tolle, bewegende und berührende Aufführung, die von der Erzählkraft der Protagonistinnen lebt. Nicht unerwähnt bleiben sollte das stimmige, zurückhaltende Bühnenbild, das durch Abbilden mehrerer Ebenen sowohl durch die Schauspielenden (mal oben, mal unten, vorne, hinten, rechts, links) als auch verschiedenster Projektionen gekonnt genutzt wird. Empfehlung!
Odyssee, Düsseldorf: Einspruch
Ist Einspruch erlaubt? Ja zu dem Abend, weil die von den Spielerinnen vorgetragenen Erfahrungen erschütternd sind und bewegen. Da erfahre ich, selbst nie Krieg, Gewalt, Vergewaltigung ausgesetzt, sehr viel. Nein zu dem Abend, weil zu viel "gemacht" wird. Videos, die keinen Mehrwert bringen, rockiger Gesang, der das Grauen übertönt, eine Verbiegung von Homers Frauenbild, indem Penelope zu einem Opfer stilisiert wird, das sie so bei Homer nicht ist. Und wieso wird ein Bild Deutschlands 2023 mit TV-Aufnahmen aus den 1960er und 70er Jahren gemalt, durch Rudi Carrell und ein Seemannslied von Freddy Quinn? Zum Ende, wenn das Schicksal einer unerfüllten jungen Liebe gar zur Seifenoper zerredet wird, gerät der Abend gefährlich in die Nähe profitabler Kriegspornografie. Wie schon geschrieben: Wenn die erwachsenen Frauen schlicht eigenes Erleben schildern oder zumindest über wirklich Erlebtes von anderen Frauen sprechen, dann ist das wirkungsvoll, weil es über die Erschütterung hinaus Nachdenken provoziert. Das Schlichte hat Größe. Aber wenn "Theater gemacht" wird, dann wird es für mich oberflächliche und falsche Effekthascherei.
Odyssee, Düsseldorf: Besonderer Abend
Diese Odyssee ist ein ganz besonderer Abend, aus vielen Gründen. Für mich waren das, neben der erstaunlichen Bühnenpräsenz der Darstellerinnen und Darsteller und natürlich auch der Wucht der Bezeugung dieses Krieges aber gerade die "Gemachtheit" des Stückes: die sorgfältige Verwebung von Interviews mit sonst wenig betonten Teilen von Homers Odyssee, die Konfrontation eines uralten Textes mit dem Heute ganz konkreter Menschen, die hohe Kunstfertigkeit der musikalischen Ebene (enorm berührend der Moment als ein deutsches und ein ukrainisches Lied zu einem Choral zusammenfinden), die mit enormer Präzision gestalteten Gänge, Licht- und Toneffekte. Es ist gerade kein (reines) "Experten des Alltags"-Stück, das seine Kraft vor allem aus der Authentizität bezieht, und das obwohl auf der Bühne ausschließlich Laien stehen.
Zum Schluß hin drehen sich drei Frauen zum Publikum und sagen "Odysseus, komm' heim, es sind Feinde in deinem Haus" und es schließt sich der Kreis zum Anfang, zu den betrunkenen russischen Soldaten in der eigenen, verlassenen Wohnung, und da trifft es mich ganz tief. Ein Theatermoment. Gemacht, aber echt.
Odyssee, Düsseldorf: Kraft der Kunst
Das Besondere der Odyssee von Pavlo Arie ist, da stimme ich #3 zu, dass die authentischen Geschichten dramaturgisch geschickt verwoben werden mit den überzeitlichen Motiven des Epos. Dadurch weisen sie über sich hinaus und es bleibt nicht beim schlichten Dokumentartheater. Der Sound und Gesang, der vielschichtige Einsatz von Bilder (TV, Live-Kamera, Projektionen) geben der Inszenierung eine ästhetische Höhe und Kraft. All das ist absichtsvoll "gemacht" und natürlich auf Wirkung aus. Für mich standen die starken Spielerinnen und das, was sie zu sagen haben, aber immer im Vordergrund.
Odyssee, Düsseldorf: Frauen im Krieg
Kleine Ergänzung zur Kritikenrundschau, die uns wichtig ist:
„Der Abend vibriert mit seiner emotionalen Wucht und Vitalität, die mitreißt, und immer wieder beklemmend zeigt, die Heldinnen und Opfer des Krieges sind auch Frauen. Nur werden sie viel seltener gehört.“
Hier die Kritik von Dorothea Marcus im Deutschlandfunk zum Nachhören:
https://www.deutschlandfunk.de/odyssee-pavlo-arie-inszeniert-mit-ukrainischen-menschen-in-duesseldorf-dlf-027d8b6c-100.html
Odyssee, Düsseldorf: Bewegend
Stand weinend und lachend am Ende da. Dafür geht man überhaupt ins Theater. Dafür existiert Theater.
Odyssee, Düsseldorf / München: Sehenswert bei "Radikal jung"
Das Stück Odyssee war nun auch in München auf dem Festival Radikal jung zu sehen. Das Festival, dass am Münchner Volkstheater jährlich veranstaltet wird, widmet sich jungen Talenten im Bereich der Theaterregie. Das Thema der Frauen im Ukrainekrieg wurde ja zuletzt auch an den Münchner Kammerspielen in „Green Corridors“ aufgerufen. Beides sehenswert.
Hier meine Besprechung von „Odyssee“: www.qooz.de
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