Auf dem Trümmerfeld von Ich und Ich

1. April 2023. Agota Kristóf erzählt in ihrer Romantrilogie die Geschichte zweier Brüder, deren Aufwachsen geprägt ist vom Überleben im Krieg. Sie haben nur sich – und entwickeln eigene Moralbegriffe. Das Chiffrenhafte betont die verdichtete Regie von Mina Salehpour: Zwei Schauspieler, Spiegelungen voneinander, in der fortschreitenden De-Zivilisation.

Von Andreas Wilink

Das große Heft / Der Beweis / Die dritte Lüge am Schauspiel Köln in der Regie von Mina Salehpour © Andreas Schlager

1. April 2023. Ein Zerfall. Die große Mauer stürzt in der ersten Sekunde nieder und geht auf der Bühne des Kölner Schauspiel-Depots entzwei in Bruchstücke. So zerspringt auch der feste Umriss des Ich. 

Von Zweien, die auszogen, das Fürchten zu besiegen

Anders als der Kriegsverbrecher Wladimir Putin sagt, war nicht die Auflösung der Sowjetunion die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts – welche er rückgängig zu machen versucht –, sondern vielmehr die Verhöhnung, Verwerfung und Verkehrung des Guten und Gütigen durch Nationalsozialismus und Stalinismus. Agota Kristóf hat ihre Lehre daraus gezogen und sie an der Romantrilogie über die Zwillinge Lucas und Claus unerbittlich gehärtet. "In der Ohnmacht der gedankenlosen Güte liegt das Geheimnis ihrer Unsterblichkeit", heißt es in Wassili Grossmans gewaltigem Roman "Leben und Schicksal" von 1960, der sich wie die vorweggenommene Antithese dazu liest. Jeder findet – und erfindet – die ihm mögliche Wahrheit, um mit dem Unlebbaren zu leben.

Ach, könnte es ein Märchen sein: von Zweien, die auszogen, das Fürchten zu besiegen, Schmerz zu ertragen, Mitgefühl zu verlernen. Die Geschichte, die Kristófs "Das große Heft" von 1986 erzählt, ist eine eindringliche Parabel auf das, was Gewalt, Lieblosigkeit und Trägheit der Herzen mit dem Menschen machen. Und wie sie ihn verwandeln. Wenn nicht Märchen, dann Mythos, insofern als "der Mythos eine Botschaft ist" (Roland Barthes). Die Dinge sind archetypisch, nicht individuell: der Krieg, die Soldaten, die Befreier, die Zwillinge, die Eltern, die Großmutter...

Sisyphos-Untote zwischen Gestein

Das Chiffrenhafte betont in Köln die – extrem verdichtete – Regie von Mina Salehpour, die das Personal auf das Brüderpaar allein konzentriert und Bruno Cathomas und Sean McDonagh ihr Haupt- und Barthaar wie feucht gemörtelt tragen und ihre Gesichter dadurch wie unter einer Maske erscheinen lässt. Auf Andrea Wagners Bühne verteilt sich das brüchige Gestein, an dem die Männer sich abplagen: Sisyphos-Untote, zeitlose Existential-Figuren in einem namenlosen und geschichtsfernen Welt-Raum, gekleidet in Weiß und schmutzig schwarze Anzüge. Als Handelnde und Erzählende sind sie fixiert auf "Tatsachen", Empfindungen sind tabu.

Heft2 c Andreas Schlager uBruno Cathomas und Sean McDonagh als Brüderpaar im Überlebenskampf © Andreas Schlager

"Das große Heft" spielt 30 Jahre nach Michael Hanekes "Das weiße Band" und könnte dessen Dorfchronik am Vorabend des Ersten Weltkriegs beeinflusst haben. Eine Generation "nicht-zu-Ende-geborener" Gewaltopfer-Täter, wie Klaus Theweleit in seinen "Männerphantasien" analysiert.

Der Vater zieht in den Krieg. Er gibt Lucas und Claus zum Abschied das leere "Große Heft", damit die Söhne es mit ihren Gedanken und Erleben füllen sollen. Sie können schreiben, was sie wollen, aber: "Es muss wahr sein". Die Mutter bringt sie aufs Land zu ihrer eigenen Mutter, die sie lang’ gemieden hat. Die alte Frau, die als "die Hexe" gilt und nicht von den Enkeln wusste, nennt sie "Hundesöhne". Sie lässt sie hart arbeiten und darben, schlägt sie, hat kein gutes Wort.

Sie stählen sich 

Cathomas und McDonagh wachsen in ihr Kind-Sein zurück, halten sich brav bei der Hand, wiegen sich, formieren sich, marschieren, variieren ihre Paarbildung, sprechen wie mit einer Zunge und als mache ihr Mund gewissermaßen staunend große Augen, oder sie reden stockend, rhythmisch Zäsuren setzend im chorischen Duett und synchronen Ticktack. Gemeinsam modulieren sie den Tonfall für sich und die episodisch Anderen, während aus Lautsprechern maschinenartige Geräusche und organisierter Lärm auf uns eindringen.

Die Knaben, wachsam und klug, reagieren auf Einsamkeit und Grausamkeit, indem sie sich mit "Übungen" wappnen, Schimpfnamen füreinander haben, sich stählen. In ihren Exerzitien töten sie das Gefühl ab, machen die Seele unverwundbar, verbrennen Reste von Erinnerung an ihr früheres Leben. Sie lernen zu lügen, zu erpressen, zu töten. Die Welt um sie her lehrt sie das Übrige: ein Soldat erfriert, Menschen werden abtransportiert, die Deutschen errichten ein Lager, Erwachsene haben Lust auf sie; später kommen die Befreier mit dem Roten Stern, die ebenfalls vergewaltigen und töten.

Ein Prozess der De-Zivilisation

In kühler, knapper Präzision schildert Kristóf den Prozess der De-Zivilisation. Die Kölner Inszenierung schraubt die Methode weiter und verwischt die Vorlage wie in Gerhard Richters Maltechnik. Alles außerhalb der Brüder findet statt in deren Kopf: Begegnungen und Zeitschnitte.

Die Mutter zerfetzt eine Granate. Der Vater taucht auf. Die Brüder schicken ihn in den Tod. Als ihre "letzte Übung" vollziehen sie die Trennung, auch die der Unzertrennlichen voneinander. Meister des Schicksals? Überlebenstechniker jedenfalls. Die Geschichte geht durch die stalinistische Nachkriegszeit weiter voran, von Kristóf fortgesetzt in den Romanen "Der Beweis" und "Die dritte Lüge", in denen ein Leben und seine Dichtung sich in Facetten splittert, zu Fragen spaltet, ins Uneindeutige changiert.

Heft3 c Andreas Schlager uÜberlebenstechniker im Licht © Andreas Schlager

Ein berührender Moment in Köln ist diese Trennung: Der Eine tastet nach dem sich Entfernenden. Nicht gewohnt, allein zu sprechen ohne die zweite Hälfte, stammelt McDonagh als Lucas und artikuliert mühsam das ABC des isolierten Ich in seinem solistischen Defizit. Dann sprudelt es manisch und bis an die Grenze des Schizoiden aus ihm heraus, wenn er seine Abenteuer mit wieder anderen Versehrten wie dem verkrüppelten kleinen Mathias berichtet.

Gibt es überhaupt zwei?

Aber gibt es überhaupt zwei Brüder, ist der eine Anagramm des anderen, Spiegelung, Fiktion, Funktion? Lucas bleibt und wartet. Claus übertritt die Grenze und kehrt Jahrzehnte später in die Stadt der Kindheit zurück, wo man ihn inhaftiert. Der Übergang zum dritten Roman, der reflektierend besonnen von Bruno Cathomas verkörpert und vorgetragen wird und Claus' Biografie neu ausleuchtet, zeigt die Zwei bei dem Versuch, das zerborstene Gestein aufzurichten zum Stelen-Feld, zum Memorial. Auch dies ist wohl bedachte Montage: Identitäts-Re- und Dekonstruktion. Das Phantastische, das Kristóf entwirft und Mina Salehpour eigenwillig formuliert, ist ebenso hyperreal wie surreal und irreal: Der Bezirk der vergangenen, zu Wahrheit und Lüge unauflöslich verwobenen Erinnerungen, in dem die Brüder aus Not und Notwendigkeit Aufenthalt nehmen, hat in der Gegenwart ihre Selbstneutralisierung zu Folge.

 

Das große Heft / Der Beweis / Die dritte Lüge
Von Agota Kristóf
Fassung: Mina Salehpour & Ensemble
Regie: Mina Salehpour, Bühne: Andrea Wagner, Kostüme: Maria Anderski, Komposition und musikalische Einrichtung: Sandro Tajouri, Licht: Jan Steinfatt, Dramaturgie: Stawrula Panagiotaki.
Mit: Bruno Cathomas, Sean McDonagh.
Premiere am 31. März 2023
Dauer: 2 Stunden

www.schauspiel.koeln

 Kritikenrundschau

In der Fassung von Mina Salehpour bekomme der Text (hier: "Das große Heft") einen "Anstrich von absurdem Theater", schreibt Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (3.4.2023): "Das ungleich-unzertrennliche Duo McDonagh und Cathomas könnte aus einem Beckett-Stück stammen. Wirkt unbehaust wie Wladimir und Estragon - und von ebenso grimmiger Komik." Zu sehen sei ein "berückender, bitterer, ausgezeichnet gespielter Abend", so der Kritiker.

Die Schauspieler Bruno Cathomas und Seán McDonagh "sprechen eine Stunde lang unisono, wie echte Zwillinge mit einer Stimme. Eine großartige Leistung", zeigt sich Felicia Englmann in der Kölnischen Rundschau (3.4.2023) angetan. Eine "ans Herz greifende Kälte" entstehe aus den "eisigen Worten". Ohnehin habe Mina Salehpour mit dem Ensemble eine Textfassung zusammengestellt, die "ganz auf die Kraft der Worte" setze. Individuen, Ort und Zeit der Handlung seien zwar unbestimmt, aber gerade daraus wachse "die Relevanz dieser Produktion: Krieg, Missbrauch und Flucht und die daraus entstehenden Traumata verlieren nie an Aktualität".

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