Snowflakes müssen leider draußen bleiben

30. September 2022. Stefan Bachmanns Molière-Inszenierung wendet sich gegen Politische Korrektheit und eine vermeintliche "Opferrhetorik". Mit einem Humor, der nach unten tritt.

Von Cornelia Fiedler

"Der eingebildete Kranke" in der Regie von Stefan Bachmann am Schauspiel Köln © Thomas Aurin

30. September 2022. Ein Tabu, besser noch ein Sprech- oder Denkverbot zu behaupten, um dieses dann öffentlich zu brechen, ist rhetorisch extrem wirkungsvoll: Outlaw-mäßig, rotzig, unerschrocken. Das lässt sich aber noch toppen. Indem ein Humor-Verbot behauptet wird, ein diktatorisches Lach-Tabu. Damit ist nicht zu spaßen.

Als Rettungstrupp für das freie Gelächter rücken daher in Köln an: Schauspiel-Intendant Stefan Bachmann und sein Dramaturg Thomas Jonigk, das Autor*innen-Duo Plinio Bachmann und Barbara Sommer sowie das Kölner Ensemble in Strumpfhosen. Alles bereit zum Schenkelklopfen? Dann aufgelacht: Mit Molières "Eingebildetem Kranken" an Bord startet der Gute-Laune-Express in unendliche Witzwelten. Spaßbremsen, PC-Trullas und Snowflakes müssen leider draußen bleiben.

Vorhang auf für den Fäkalhumor

Sichere Lacher liefert zunächst einmal das Genre Kack-und-Furz-Humor – wie in anderen aktuellen Inszenierungen von Molières Darm-zentrierter Hypochonder-Komödie auch. Klar, es funktioniert eben. Das verschämte Kichern beim Wort "Scheiße" haben wir alle von frühster Kindheit an gelernt. Folglich müssen sich in der Nähe von Argan, dem titelgebenden, nur eingebildet Kranken, sämtliche puffärmeligen Verwandten und schwarzberockten Ärzte ständig die Nasen zuhalten. Klistiere und Stuhlkonsistenz sind dessen Lieblingsthemen, dicht gefolgt vom Topos der Erektion. Ein Hit für jede Schulvorstellung.

Die Endgegnerinnen in diesem theatralen Schein-Gefecht für Humorfreiheit sind allerdings andere: Sie heißen "Politische Korrektheit", gewaltfreie Kommunikation und gendersensible Sprache. "Soll ich dir mal spiegeln, was das mit mir macht?", nölt Argan seine gelangweilte Hausangestellte Toinette an. Seine Tochter Angélique will gebetsmühlenartig niemanden "emotional erpressen". Und ihr Schwarm Cléante verbittet sich nicht nur die Ansprache "Mein Herr" als "Atavismus", er will auch "niemenschen bedrängen" und erst Mal einen "sicheren Raum" schaffen.

Woher der Wind weht

Das finden die Einen lustig, die Anderen nicht, soweit, so offen. Woher der Wind weht, auf der bis auf einige Stühle und eine Chaiselongue leeren Bühne im Depot 2, macht aber spätestens der Stück-Teaser auf der Theater-Website deutlich: In ihrer Überschreibung würden Sommer und Bachmann das Stück zu "einem Kreisel der Überempfindlichkeit" aktualisieren, heißt es da, "dessen Fliehkräfte Betroffene, Behandelnde und Unbelehrbare aus der Mitte treiben und ihre Positionen radikalisieren. Nur wer sich selbst als verletzt darstellt, darf noch mitreden. Opferrhetorik dient zur Expansion von Macht". "Überempfindlichkeit" und Sich-verletzt-Fühlen als Ursache der gesellschaftlichen Spaltung, ernsthaft? Dass das ein beliebtes Narrativ im rechts-konservativen Spektrum ist, muss wohl nicht wirklich erwähnt werden.

Gelacht werden soll auch über die Versuche, jetzt, nach diversen #metoo-Skandalen, Liebes- und Sexszenen in Film und Theater frei von Übergriffen zu halten. Die Konstellation, die Bachmann und Sommer dafür finden, ist durchaus lustig: Statt als angeblicher Gesangslehrer verschafft sich Cléante (Lola Klamroth) hier als Schauspiel-Coach Zutritt zum Haus seiner Angebeteten Angélique. Die beiden werden aufgefordert, etwas vorzuspielen und Cléante schlägt eine improvisierte Liebesszene vor. Dabei verstricken sie sich umgehend in Widersprüche zwischen ihrem realen Begehren und dem Wunsch, alles einvernehmlich nach dem Prinzip "Context, Communication, Consent, Choreography und Closure" abzuwickeln – und das vor Publikum. In der gesamten Szene ist allerdings wenig Sympathie mit den Figuren oder ihren Anliegen spürbar. Sie werden derb parodiert und vorgeführt.

Öl ins Feuer gießen

Das zieht sich durch Bachmanns gesamte Inszenierung. Rosa Enskat darf als Argan zwar mal kurze Momente echten Leidens unter den als real empfundenen Krankheiten zeigen, kehrt aber schnell zur melodramatischen Persiflage zurück. Argans clownesk geschminkte Tochter Angélique, gespielt von Paul Basonga, ist durchweg als Travestienummer angelegt, mit betont larmoyanten Ausflügen in die Theorien der gewaltfreien Kommunikation. Die Hausangestellte Toinette, ebenfalls stark überzeichnet gespielt von Melanie Kretschmann, betätigt sich als Troll in alle Richtungen. Sie stachelt hier an, hetzt dort auf und gießt großzügig Öl ins Feuer.

Klar bekommen in dieser Inszenierung alle Beteiligten ihr Fett weg, auch der alte weiße Mann Argan. Aber Attacken, auch witzig verpackte, gegen Privilegierte sind nun einmal etwas anderes, als gegen Nicht-Privilegierte. In der Premiere dominiert in Text und Bild eine Sorte Humor, der nach unten tritt. Zugleich liefert die Selbstinszenierung als humoristische Tabubrecher*innen das Totschlag-Argument gegen jegliche Kritik gleich mit: Sie ist halt verkrampft, spaßbefreit, prüde, Ende der Debatte.

 

Der eingebildete Kranke
von Molière
in einer Überschreibung von Barbara Sommer & Plinio Bachmann
Regie: Stefan Bachmann, Dramaturgie: Thomas Jonigk, Bühne & Kostüm: Jana Findeklee, Joki Tewes, Komposition & musikalische Leitung: Sven Kaiser, Choreographie: Sabina Perry, Licht: Michael Gööck, Live-Musik Pauline Buss, Radek Stawarz.
Mit: Paul Basonga, Rosa Enskat, Lola Klamroth, Melanie Kretschmann, Anja Laïs, Justus Maier, Kei Muramoto, Kais Setti.
Premiere am 29. September 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspiel.koeln

 

Kritikenrundschau

"Letztlich entsteht der merkwürdige Eindruck einer Quasi-Volkskomödie mit Analfetisch, die sowohl der Diversitäts- als auch der Querdenker-Lobby verbale Arschtritte verpasst", schreibt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (4.10.2022). Man dürfe das nicht als Teil eines echten Kulturkampfes missdeuten, schließlich könne man nach straffen anderthalb Stunden Spielzeit draußen auf ein "divers" beschriftetes Klo gehen. "Gelacht wird so oder so, und das ist in Köln ja ohnehin immer das Wichtigste."

Lächerliche Figuren, die viel zu sehr mit ihrer Selbst-Viktimisierung beschäftigt sind, als das sie jenseits von Mikro-Aggressionen miteinander in sinnvollen Austausch treten könnten, so Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (4.10.2022). "Die krankhaften Selbstbeobachter werfen sich gegenseitig Empathielosigkeit, manipulatives Sprechen oder mangelnde Distanz vor, oder verlieren sich im Labyrinth politischer Korrekturen und neugeschaffener Gender-Pronomen." Lustig seien die gut anderthalb Stunden allemal. Die Spielenden verwandeln sich mit einer Wonne in groteske Schießbudenfiguren." Aber der Abend wähle auch den Weg des geringsten Widerstands, "Tabus rennt er hier jedenfalls keine ein".

Stefan Bachmann schicke die Figuren wie zur Gruppentherapiesitzung in einen Stuhl-Halbkreis um die schmuddelige Chaiselounge des Kranken. "Das alles könnte kreischend lustig sein, doch es wird wenig gelacht im Theater. Sehr wenig", schreibt Felicia Englmann in der Kölnischen Rundschau (3.10.2022). "Die verfremdeten Figuren mit ihren Bewegungsstereotypien verfangen nicht. Ihr Geschwätz ist ein ad absurdum geführter Diskurs voller Totschlagargumente, Buzzwörter und Empörtheiten und ermüdet mehr als zu erheitern."

Stefan Bachmann habe es seinen fabelhaften Schauspielern zu verdanken, dass sein Ex­periment glücke, so Patrick Bahners von der FAZ (17.10.2022). "Die Überarbeitung wirkt nicht wie eine Verfremdung, sondern im Gegenteil wie eine Naturalisierung des rhetorischen Materials. So zwanglos entfaltet sich pathologische Kommunikation." Der Kritiker schließt: "Dieser Abend grassierenden Wortwitzes und ansteckender Spielfreude ist eine konservative Therapie im besten Sinne."

Kommentare  
Der eingebildete Kranke, Köln: Witze über Nicht-Privilegierte?
Ein „Totschlags“-Argument benutzt in meinen Augen eher die Kritikerin als die kritisierte Aufführung, wenn sie schreibt, dass die Witze über Nicht-Privilegierte darin schwerer wiegen als die Witze über Privilegierte. Dabei treten in dem Stück, wie in fast allen großen Charakterkomödien Molières gar keine Nichtprivilegierten auf. (Eher geht es um Systeme der Mittäterschaft, nur darum sind diese Komödien heute noch zum Lachen.) Die am wenigsten privilegierten Charaktere - wie die Angestellte Toinette - sind meist die autonomsten. Das zu übersehen, verwandelt die Debatte, die die hier besprochene Überschreibung lustvoll zitiert, dann wirklich in eine spaßbefreite. Und das schadet der Debatte eher als es nützt.
Der eingebildete Kranke, Köln: Zu viel Fäkalsprache
Ich habe bisher jede Eröffnungspremiere des Intendanten in den letzten Jahren gesehen, resp. geniessen dürfen.

Die Premiere gestern war etwas enttäuschend, sehr viel Fäkalsprache. Da wäre der Originaltext sicher die bessere Wahl gewesen.
Der eingebildete Kranke, Köln: Klamauk
Schon das Infoblatt zum Stück fordert uns auf, uns selbst kritisch lachend auf die Schippe
zu nehmen. Ein jeder kriege sein Fett weg, egal ob Frau, Lungenkranker, Geistlicher oder Intellektueller.
De facto werden hier aber sehr fokussiert die Leute verarscht, die heutzutage versuchen, nicht-privilegierte Gruppen in den Fokus der gesellschaftlichen Debatte zu rücken. Wo Molieres Vorlage in einer heutigen Überschreibung viele Anknüpfungspunkte zu wichtiger Kritik über den Weg des Humors liefern könnte, verarschen Bachmann und sein Team nun gezielt und unermüdlich diejenigen, die sich um politische Korrektheit bemühen. Ein Gegengewicht dazu gibt es nicht wirklich, auch wenn Argan als nervig macht-hungriger Kranker (Mann) natürlich eine Rolle spielt.

Interessante Fragen wirft Bachmanns Inszenierung also nicht auf, eine definitive Antwort erhalten wir aber schon, nämlich die, dass der heutige Trend zur politischen Korrektheit auf jeden Fall lächerlich ist. Alle die, die also neue Bestrebungen nach Veränderungen für mehr Gleichheit unangenehm, übertrieben oder völlig furchteinflössend finden, können bestärkt aus dieser Inszenierung gehen. Das ist schwach!

Die tollen schauspielerischen Leistungen und die wirksam eingesetzten theatralen Mittel können daher auch nicht drüber hinwegtäuschen, dass man die Inszenierung nicht empfehlen kann.
Der eingebildete Kranke, Köln: Rechts-konservativ?
„ein rechts-konservatives Narrativ“: Der Logik der Rezensentin zufolge muss mindestens 3/4 der Deutschen „rechts! - konservativ“ sein. Will sie uns das ernsthaft weismachen? - „Humor, der nach unten tritt“ konnte ich nicht entdecken, eher einen, der nach allen Seiten austeilt, die eigene Inszenierung eingeschlossen.
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