Lost in Space

7. Mai 2023. Onlinetheater-Pionier Roman Senkl inszeniert für das Schauspiel Köln eine Performance auf dem Gaming-Kanal Twitch: In "Hinter den Zimmern" (Text von Wilke Weermann) verschwinden Menschen in mythischen Parallelwelten. Die Twitch-Community freut's.

Von Petra Paterno

"Hinter den Zimmern" von Wilke Weermann und Roman Senkl online aus Köln © Ana Lukenda

7. Mai 2023. "Hallo Twitch, wir sind gleich soweit!" Die Zuschauer:innen vor den Computerbildschirmen, die sich über den interaktiven Livestreaming-Dienst eingeklinkt haben, werden höflich begrüßt. Gewöhnlich wird das Tool Twitch genutzt, um Videospiele zu übertragen; angeblich wird die Plattform Tag für Tag von über 20 Millionen Menschen frequentiert.

An diesem Abend treffen allerdings zufällig anwesende Twitch-Gamer:innen auf Theatergeher:innen. Für das Twitch-Theater das hier gleich stattfinden wird, wird nicht Platz genommen im Podium und auch nichts bezahlt: Das Schauspiel Köln streamt die Uraufführung von Wilke Weermanns Auftragswerk "Hinter den Zimmern", einen einstündigen Mix aus Live-Spiel, filmischen Elementen und interaktiven Chatdiskussionen.

Das Rätsel des verschwundenen Mannes

"Wir sind Toto und Henni!" Der Schauspieler Alexander Angeletta und die Schauspielerin Kristin Steffen stellen sich als Fernsehreporter und -reporterin vor, die für die Sendung "Face the Fakes" das Verschwinden eines Mannes ergründen wollen. Angeblich, so lautet der dringende Tatverdacht, wurde er mit Haut und Haaren von einer Wand verschluckt. Dieser eine Moment des sogenannten "Glitchens", wie das in der Gamer-Sprache heißt, wurde aufgezeichnet und ging unter dem Titel "Sinking Man" viral. Seitdem ist die Internetgemeinschaft gespalten: Ist das Video echt – oder nicht? Und: Wo hält sich der Verschwundene auf?

Um das Rätsel zu lösen, begeben sich die beiden Investigativ-Journalist:innen an den Tatort, die ehemaligen Werkstatthallen des Schauspiel Köln. Angeletta und Steffen interviewen den Bruder des Verschwundenen (Yuri Englert) und dessen offenbar an Demenz leidende Mutter (Margot Gödrös).

"Lol, die sind live"

Die Fernsehreportage dient als Rahmenhandlung. Dreh- und Ankerpunkt der Aufführung ist das Phänomen der "Backrooms". Das ist der Clou dieses Projekts, das so ungewöhnliche Schnittmengen bildet: Nicht allzu viele Theaterbesucher:innen dürften von der Urban Legend der "Backrooms" gehört haben, ehe sie Teil von "Hinter den Zimmern" wurden. Klassische Twitch-User wiederum sind in der Regel mit den Konventionen des Live-Theaters eher unvertraut. Mit einem Wort: eine Win-Win-Situation. Im Live-Chat bei "Hinter den Zimmern" meldet sich irgendwann ein User namens "DanielTV" zu Wort: "Jo, was ist das hier?" Dann: "Lol, die sind live, nice idee."

Gespenstischer Recherchetrip mit Kristine Steffen und Alexander Angeletta © Ana Lukenda

Was aber sind Backrooms? Das sind Räume hinter der Realität, die sich angeblich über bestimmte Portale betreten lassen. Von diesen Parallelwelten – seit je ein beliebtes Sujet der Literatur, siehe "Alice im Wunderland" und "Harry Potter" – werden via Social Media seit geraumer Zeit stetig neue Gruselgeschichten gepostet, sogenannte "Creepypastas", ein Kettenwort aus "creepy" (gruselig) und copy-paste.

Den digitalen Geisterjägern geht es, genauso wie den Protagonisten in "Hinter den Zimmern", darum, die Existenz von Backrooms entweder final zu beweisen oder ein für alle Mal zu widerlegen. Spitzenreiter der Backroom-Postings ist der Kurzfilm eines US-amerikanischen Teenagers, der auf YouTube bislang 48 Millionen Mal aufgerufen wurde. Der zehnminütige Film zeigt menschenleere Räume, gelb tapezierte, schier unendlich lange Gänge, die labyrinthartig nirgendwo hinführen. Ab und zu gibt es eine effektvolle Bildstörung, wobei alles mit einer beunruhigenden Geräuschkulisse unterlegt ist und auch Monster lassen sich kurz blicken.

Unheimliche Urban Legend

Bühnenbildner Simon Lesemann nimmt für "Hinter den Zimmern" Maß an diesem YouTube-Clip: Henni geht bei ihren Recherchen bis ans Äußerte, wobei ihr ausgerechnet eine Tonbandkassette, diese vorsintflutliche Technologie, hilft, durch die Wand zu glitschen. Sie landet in dem gelben Alptraumszenario aus dem YouTube-Hit und stöbert den Verschwundenen (Paul Basonga) tatsächlich auf. Gemeinsam finden sie weitere Portale und landen in ganz anderen Welten. Ein Raum steht zur Hälfte unter Wasser, ein anderer erinnert an die Landschaften des Computerspiels "Minecraft", in denen man das Gefühl für Raum und Zeit verlieren soll.

Zugleich versucht Toto, Henni wiederzufinden. Eine große Suchbewegung in den unendlichen Virtuell-Weiten. Auch er steigt in die Backrooms ein und will mit Hilfe eines Stricks wieder herausgelangen. Obacht! Ariadnefaden! Antiker Minotaurus-Mythos!

Hinter den Zimmern 3 AnaLukenda uMysteriöse Familie: Die Angehörigen des Verschwundenen (Margot Gödrös und Yuri Englert) werden vom Reporter Toto (Alexander Angelatta) besucht. © Ana Lukenda

Regisseur Roman Senkl arbeitet mit einem sechsköpfigen Team an der Umsetzung dieser Bildwelten. Der 39-jährige Grazer zählt zu den Pionieren des digitalen Theaters; seit gut zehn Jahren lotet er mit der Digital-Theater-Formation minus.eins und mit Projekten wie onlinetheater.live die Grenzen des digitalen und hybriden Theaters aus. Senkl ist Impresario der ersten digitalen Spielstätte, die in diesem Juni am Staatstheater Nürnberg als "Extended Reality Theater – XRT" starten wird.

"Hinter den Zimmern" ist Senkls jüngster Streich. Ästhetisch ist bei dem gewagten Unternehmen fraglos einiges gelungen, inhaltlich bleibt das Stück indes hinter den Erwartungen. Autor Wilke Weermann verwebt geschickt Urban-Legend-Motive mit einer durchaus sinnfälligen Narration und einer überraschenden Schlusspointe. Nur: Die Dialoge der Figuren bleiben blass und nichtssagend, ein weiterer Creepypaste unter vielen. "Nice idee", bemerkte Neo-Theatergänger "DanielTV" im Chat – viel mehr ist es aber leider nicht.

Hinter den Zimmern
von Wilke Weermann
Regie: Roman Senkl, Bühne: Simon Lesemann, Kostüm: Julie Véronique Wiesen.
Mit: Alexander Angeletta, Paul Basonga, Yuri Englert, Margot Gödrös, Andreas Grötzinger, Kristin Steffen.
Premiere am 5. Mai 2023
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.schauspiel.koeln

 

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Gemeinsam mit Nürnbergs Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger spricht Roman Senkl über seine Pläne für das Extended Reality Theater (XRT) in Nürnberg: im Interview mit Andreas Thamm.


Kritikenrundschau

"Roman Senkl verknüpft den atemlosen Live-Stream mit aufwendigeren Einspielern und die echten Zimmer sehr geschickt mit zunehmend fantastischen im virtuellen Raum", lobt Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (8.5.2023). "Die technische Umsetzung allein lohnt den Besuch." Inhaltlich glitche das Stück allerdings, "wirkt mal wie das 'Blair Witch Project',, mal wie eine 'Drei ???'-Folge, während man den tiefer bohrenden Monologen der Figuren deutlich die Bühne anmerkt: Muss man eingreifen, statt immer nur die Kamera draufzuhalten? Was ist Fake, was echt? Woher rührt das moderne Gefühl, das Leben finde immer im Nebenraum statt?" So überzeugend wie die oben erwähnten Vorbilder verknüpfe Autor Wilke Weermann Unheimlichkeit und Erkenntnis noch nicht, so Bos, "aber es ist ja auch erstmal ein Experiment - und als solches mehr als gelungen."

"Autor Wilke Weermann will offenbar die Grenzbereiche von Wahrnehmung und Halluzination, Fakten und Fälschungen ausloten. Ein ambitioniertes Unterfangen, das letztlich vor allem pseudo-tiefsinnige Sprüche zeitigt", schreibt Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau (8.5.2023). Regisseur Senkl nutze die Kombinationsvielfalt von Schauspiel, Film und virtueller Realität "streckenweise durchaus frappierend". "Auch wenn hier nicht wie bei David Lynch Schleusen zu verstörenden Triebwelten aufreißen – auf intellektuell eher schmaler Spur läuft der Abend nach zähem Auftakt in ein visuell faszinierendes Finale."

 

Kommentare  
Hinter den Zimmern, Köln: Langatmig
Digitales Theater kann so viel mehr als diese Inszenierung. Der Großteil der Zeit stehen die Darsteller:innen vor Green Screen Flächen, auf denen digitale 3D Welten gezeigt werden. Das wird auf Twitch ausgespielt. Was ist daran pionierhaft oder ein Experiment? Film und auch Theater machen das seit Jahren.
Die Erzählweise von Senkl ist langatmig, unentschieden zwischen theater und digital und nix dazwischen und nix davon. Auch die Erzählung selbst ist öd: Digitale und analoge Welt berühren sich und dann passiert was dazwischen, irgendwer kommt nicht wieder oder muss gerettet werden. Und Digital Natives, die vloggen. Abgedroschenere Motive sind schwer zu finden.
Es wird von Senkl wieder mal eine Wand aus angeblicher Vielschichtigkeit aufgebaut, hinter der nichts ist außer Fragezeichen und Langeweile.
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