We Are Family - Schauspiel Köln
Weiber gegen Mamorstatuen
29. September 2024. Eine gegen drei: Tine Rahel Völcker hat sich die griechischen Tragöden Aischylos, Sophokles und Euripides zur Überschreibung vorgenommen. Mit bitterbösem Humor und aus queerfeministischer Sicht erzählt sie von den Familienmorden in der Tantaliden-Sippe. Und Regisseurin Jorinde Dröse setzt in ihrer Inszenierung noch eins drauf.
Von Karin E. Yeşilada
29. September 2024. Eine Antikenüberschreibung gleich dreier gewichtiger Dramatiker scheint doch ziemlich gewagt, oder? Zumal es sich um Aischylos, Sophokles und Euripides handelt. Doch Tine Rahel Völcker hat es gewagt und gewonnen.
Ohne falsches Pathos
Für ihre Neufassung des traditionsreichen Tragödienstoffes über König Agamemnon, der seine Tochter Iphigenie opfert, um siegreich gegen die Trojer zu ziehen, dann von seiner Frau Klytaimnestra ermordet und von seinem Sohn Orest, der die Mutter erschlägt, gerächt wird, für ihre feministisch-subversive Neufassung des Tantaliden-Mythos in nur zwei Akten also wurde Völcker am Schauspiel Köln zu Recht bejubelt.
Ihr Auftragsstück für das Haus haben die Dramaturgin Sibylle Dudek und die Regisseurin Jorinde Dröse klug umgesetzt. Die Inszenierung kommt völlig ohne falsches Pathos oder vergossenes Theaterblut aus und lässt dem Text, aber auch dem Spiel der hervorragenden Schauspieler*innen viel Raum.
Rebellische Hetäre
Gleich zu Beginn tritt eine neue Figur auf, die Hetäre Phryne, kraftvoll gespielt von Hilke Altefrohne. Sie setzt den Ton für diese kritische Sichtung des antiken Dramenstoffs, der die Geschichte männlicher Machtansprüche ist: Für Ruhm und Ehre, Macht und Reichtum opfern sie Frieden und Frauen gleichermaßen. Das bürstet die als Kriegsbeute bezwungene Hetäre gründlich gegen den Strich und eröffnet den Zuschauer*innen eine weibliche Lesart.
Erwartungsgemäß kommen die Machtmänner dabei nicht gut weg. Phryne, im engen Satinkleid (Kostüme: Juliane Kalkowski), feuert ihre sarkastischen Spitzen gegen machtgeile Typen ab, die es im patriarchalen System ordentlich krachen lassen: "Die herrlichen Symposien im alten Griechenland!", sagt sie. "Da wird gevögelt, was das Zeug hält und von der Freiheit und Selbstbestimmung der Hetären geschwafelt!" Und schon gesellen sich im Geiste Typen wie Trump und Berlusconi zu Agamemnon.
Trophäenfrauen im Babydoll
Völckers Humor ist knallhart und bitterböse, das macht richtig Spaß. Witzig auch, wie der in Unterwäsche auftretende König Agamemnon (schön unsympathisch: Ronald Kukulies) seinen Heldenmonolog bringt, während er von Phryne in einer Art umgekehrtem Striptease eingekleidet wird. Natürlich behandelt er sie dabei mies, betatscht und begrapscht sie, nur um ihr dann ein "Färb' dir die Haare, du siehst alt aus" an den Kopf zu schmeißen.
Seine beiden Frauen sind von anderer Natur, wie sich in der folgenden Szene zeigt: Klytaimnestra (klasse Performance: Yvon Jansen) und Iphigenie geben die Trophäen-Püppies in knietschfarbenen Babydolls mit passenden Pumps und Schleifchen im hochtoupierten Haar. Paris Hilton lässt grüßen. Kurz vor der anberaumten Hochzeit mit Achill versucht die Mutter noch schnell, ihre nicht ganz helle Tochter (hinreißend naiv: Hannah Müller) auf Zack zu bringen. Wie die beiden da das "Lächeln: mit Zähnen, ohne Zähne!" üben, ist sehr lustig.
Im Gegensatz dazu liefern sich Agamemnon und sein kampfeswütiger Bruder Menelaos (kraftvoll: Benjamin Höppner) ein testosterongeladenes Kriegsherrengeschrei, das die Gewalt der bevorstehenden Schlacht unheilvoll ankündigt. Achill wirkt dagegen wie ein eitler Pfau, der sich mehr aus der Affäre stiehlt als mit Ruhm bekleckert (schön selbstverliebt: Leonard Burkhardt).
Überschreibung in die Gegenwarts-Utopie
Während der erste Akt als unterhaltsames Kammerspiel sehr gut funktioniert, fällt der zweite etwas ab. Elektras Wut über den grausamen Mord ihrer Mutter am geliebten Vater (ebenfalls im Babydoll: Maddy Forst) und der Konflikt zwischen der um die Herrschaft ringenden Klytaimnestra und Phryne kommen nicht in Fahrt. Auch die Auflösung gegen Ende hin, als die Figuren erwägen, aus ihren Rollen auszusteigen, überzeugt nicht ganz: Klar, wenn das Patriarchat und damit die Welt untergeht, entsteht Raum für einen Neuanfang. Die Figuren – oder die Schauspieler*innen an ihrer Stelle? – entwickeln also Utopien und wünschen sich Freiheit für diverse Geschlechtsidentitäten, Entfaltungsmöglichkeiten für Frauen, gesunde Familien, Lohngerechtigkeit, Anerkennung von Pflegekräften und Ähnliches. Das ist wohlgefällig und kommt entsprechend gut an, zumal abschließend die Frage ins Publikum gerichtet wird: Und was wünschen Sie sich?
Dieses etwas beliebige Wohlfühl-Ende nimmt der gelungenen Inszenierung indes nichts von ihrem Erfolg. Und das liegt nicht nur an der angenehmen Zurückhaltung der Bühnengestaltung – Magdalena Gut hat mit den schlichten Holzwänden für den ersten Teil eine Konferenzraumatmosphäre geschaffen, die sich im zweiten Teil zu einem von Jürgen Kapitein geschickt ausgeleuchteten Vorplatz und Palast erweitert –, sondern vor allem an den vielen guten Einfällen. Die drei Kriegsherren im zweiten Akt als kalkweiße Marmorfiguren posieren und den indignierten Chor geben zu lassen, ist eine ebenso großartige Idee wie die, den Rächer Orest als kleinen Jungen auftreten zu lassen. Begeisterter Applaus, auch für die anwesende Autorin.
We Are Family. Eine Antikenüberschreibung
von Tine Rahel Völcker
Regie: Jorinde Dröse, Dramaturgie: Sibylle Dudek, Bühne: Magdalena Gut, Kostüme: Juliane Kalkowski, Licht: Jürgen Kapitein, Musik und Komposition: Lars Wittershagen.
Mit: Hilke Altefrohne, Leonard Burkhardt, Yasin Demirci / Alessandro Diaz y Köster, Benjamin Höppner, Yvon Jansen, Ronald Kukulies, Hannah Müller, Maddy Forst.
Uraufführung am 28. September 2024
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause
www.schauspiel.koeln
Kritikenrundschau
Trotz vieler "düsterer Handlungsstränge" bekomme man an diesem Abend doch reichlich zu lachen, findet Axel Hill in der Kölnischen Rundschau (30.9.2024) – "und die Gags gehen meist zulasten der alten weißen Griechen". Das Ensemble agiere "mit großer Lust auf der dünnen Linie zwischen authentischem Drama und dessen Veralberung". Dass die Inszenierung mit einem "beliebig-banalen Wunschkonzert" ende, sei sei da nur eine kleine Enttäuschung zum Ausgang eines "starke(n) und bis dahin kurzweilige(n) Abend(s)".
Tine Rahel Völcker unternehme nichts weniger, als den Versuch, dieses transgenerationale Trauma und seine Wiederholungszwänge in den Stücken von Aischylos, Sophokles und Euripides zu durchbrechen, so Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (30.9.2024). Ob sich 2500 Jahre Kulturerbe einfach so locker flockig überschreiben lassen? "Warum denn nicht, denkt man sich schon nach wenigen Minuten in Jorinde Dröses Inszenierung." Dröse und Völcker karikieren stark. "Dennoch spürt man den Ernst der Lage" und diese Balance halte eine ganze Weile lang. Dann aber löst Iphigenie die Trauma-Tragödie in einer Art Stuhlkreis auf. Und irgendwann fühle man sich wie in einer Schulaula-Aufführung, oder, schlimmer noch, wie in Friedrich Schillers selbstzufriedener Version von der Schaubühne als moralischer Anstalt.
Im Kosmos der Blödelei verbleibe die Antiken-Überschreibung, herrlich überspielt würden die männlichen Helden dem Spott preisgegeben, so Christoph Ohrem bei Deutschlandfunk Kultur (28.9.2024). Kritik am Patriarchat, an dessen Frauenfeindlichkeit und Kriegsrhetorik, gebe es auch, aber "der Abend lebt eher von humoristischen Momenten, der Brechung dieser Figuren, im Ton sogar teils boulevardesk und derb wie hier geflucht und gealbert wird". Im ersten Teil fühlt sich Ohrem gut unterhalten, der zweite Teil werde "etwas zäh".
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