Der Tod gehört zum Lügen dazu

15. April 2023. Henrik Ibsens Peer Gynt ist der größte Fantast der Dramengeschichte. Tom Gerber erzählt mit Lust aus dem Leben dieses Taugenichts. Bis am Ende die Wahrheit herauskommt. 

Von Martin Krumbholz

 

"Peer Gynt" am Rheinischen Landestheater Neuss

15. April 2023. Erst am Schluss, im Sturm-, Zwiebel- und Knopfgießerakt, kommt diese Inszenierung am Rheinischen Landestheater Neuss zu sich selbst. Die Begräbnisszene mit einem endlos salbadernden Pfarrer, an der Peer Gynt als zufälliger Passant teilnimmt, hatte die Regie an den Anfang gezogen: Gynt ist hier selbst der zu Bestattende, sein Leben zieht als große Rückschau an uns vorbei. Monströs ausladend steht die Kiste in der Bühnenmitte, der Pfarrer spricht, dann aber tritt bald ein kecker Knabe mit schneeweißer Stachelfigur auf (Luke Dopheide), und mit dem "Peer, du lügst", das seine Mutter Aase ihm hinwirft, beginnt die eigentliche Handlung des Stücks, in dem die Hauptfirgur fünffach auftritt, gestaffelt nach der jeweiligen Lebensphase.

Eine Lüge und ein Knopf

Im fünften Akt sind endlich alle fünf Gynts, schwarze Hose, weißes Smokinghemd, gleichzeitig zu sehen: Simon Rußig, Carl-Ludwig Weinknecht, Antonia Schirmeister komplettieren das Quintett. Und der achtzigjährige Heiner Stadelmann, der als Einziger ohne Perücke auskommt, weil seine weißen Haare das Rollenmodell für die übrigen vier abgeben, demonstriert eindrucksvoll, was dieses multiple Leben im Rückblick ausmacht. Der großmannsüchtige Peer Gynt, der sozusagen mit einer Lüge und einem Knopf seine Existenz begründet hat, vergleicht sich nicht nur mit einer Zwiebel, einer substanzlosen Erscheinung, die nur aus (teilweise imposanten) Schalen besteht; er muss sich auch sagen lassen, dass er ein Leben als Troll geführt hat, als jemand, der "sich selbst genug" war, wie der Trollkönig ihm einst vorgeschlagen hat. Trolle sind Wesen, die mit apokryphen Ideen Staat und Gesellschaft unterwandern.

Peer Gynt 1 Marco PiecuchNeues aus der Peer-Group © Marco Piecuch

Stadelmann, ohne groß aufzutrumpfen, macht beides deutlich, die Bosheit dieses scheinbar so erfolgreichen Menschen und auf der anderen Seite seine Enttäuschung, Bitterkeit, Angst und Verzweiflung. Hier also schließt sich der analytische Kreis der Inszenierung von Tom Gerber, die ansonsten, über weite Strecken, allzu folkloristisch, geradezu bieder mit der zugegebenermaßen sperrigen Vorlage (in der Übersetzung von Frank Günther) umgeht. Die komplette Ausstattung hat Gerber selbst entworfen, sie setzt einen märchenhaften, dezidiert düsteren Ton, eine schwarze Hütten- oder Felsenlandschaft, neckische Kostüme. Wo andere Regiehandschriften strikt reduzieren, malt Gerber sein Tableau großzügig aus, allerdings nicht allzu farbenprächtig.

Begegnung in Marokko

Denn das Todesthema soll offenbar das Ganze überwölben. Mutter Aase und die im Stich gelassene Geliebte Solveig (Nelly Politt und Hergard Engert) gleichen einander bis aufs rote Haar: vielleicht ein tiefenpsychologischer Kniff, ein Hinweis darauf, wie Peer immerzu "außen rum geht" (ein Tipp des großen Krummen), um schließlich immer wieder beim Gleichen anzukommen. Es gibt vitale Szenen, vor allem mit dem agilen Simon Rußig, der den Peer nicht als Best Ager (das ist Stadelmann), sondern im besten Alter spielt, also etwa zwischen zwanzig und vierzig. Da Gerber die Handlung, von der erwähnten Umstellung abgesehen, treu nachspielen lässt, erleben wir mit Rußig einen, der sich nicht unterkriegen lässt, eine Braut an deren Hochzeitstag schändet, eine Trollprinzessin freit und sich von ihr befreit, kurz bei seiner sterbenden Mutter vorbeischaut und der später (das ist dann Weinknecht) einen einträglichen Waffenhandel gründet, in Marokko bestohlen wird und im Irrenhaus zu Kairo einen irren Irrenarzt trifft.

Bizarre Erfindungen

Die Haremsszene war Gerber offenbar zu idyllisch, sie ist weitgehend gestrichen. Der aktuell auf nachtkritik.de gefeierte Jürgen Gosch hat seinerzeit (in Bochum) den ganzen Afrika-Komplex elegant umgangen, er konnte damit nichts anfangen; dafür hat er in der Sturmszene (in Neuss eher zaghaft instrumentiert) dann aus dem Vollen (Wassereimer) geschöpft. Mit Ibsens bizarren Erfindungen (oder Jugendsünden) haben auch die Besten ihre Probleme. Tom Gerber will die Geschichte mehr oder weniger von A bis Z (oder in gewisser Weise auch von Z bis A) erzählen, verliert sich dabei aber ein wenig in Nebensächlichkeiten. Immerhin: Take Five, das hat seinen Charme.

 

Peer Gynt
von Henrik Ibsen. Deutsch von Frank Günther
Regie, Bühne und Kostüme: Tom Gerber, Musik: Veronika Schepping, Dramaturgie: Eva Veiders.
Mit: Nelly Politt, Hergard Engert, Antonia Schirmeister, Johannes Bauer, Niklas Maienschein, Simon Rußig, Heiner Stadelmann, Peter Waros, Carl-Ludwig Weinknecht, Luke Dopheide/Kristina Harutyunyan.
Premiere am 14. April 2023
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

https://rlt-neuss.de

Kritikenrundschau

Regisseur Tom Gerber entwerfe für die Hauptfigur fünf Versionen, schreibt Helga Bittner in der Rheinischen Post (17.4.23, €). "Ständig … entern sie als Peer 1, 2 und 3 die Bühne, so dass der Zuschauer richtig reinwachsen muss in Gerbers Sicht auf Peer Gynt. Die wird erst zum Schluss wirklich klar, als der alte Peer sich die Frage stellt, wer er ist." Der Regisseur schaue "auf das Leben zurück" und setze dabei "auch auf die verhaltene Komik in der Übersetzung von Frank Günther".

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