"Spielen Sie nicht das Opfer!"

6. Mai 2023. Letztes Jahr raste ein Tornado durch Paderborn. Als Vorbote der Extremwetterereignisse, die durch den Klimawandel auch bei uns zunehmen werden. In Chris Bushs "(Kein) Weltuntergang" beharken sich zwei Klimaforscherinnen unterschiedlicher Generationen. Und Paderborns Intendantin Katharina Kreuzhage findet den richtigen Ton für das Stück.

Von Karin Yeşilada

"(Kein) Weltuntergang" von Chris Bush in Paderborn © Meinschäfer Fotografie

6. Mai 2023. Einen Tag vor der Premiere machten zwei Paderborner Aktivistinnen von sich reden: Parteiaustritt aus Bündnis 90/Die Grünen, aus Protest gegen deren lasche Politik, mit der sich die Pariser Klimaziele nicht erreichen lassen. "Wir müssen etwas verändern, und zwar schnell!" Nur wie? Durch Forschung, radikalen Aktivismus oder individuelle Opfer? Schaffen wir es noch, die Erderwärmung zu stoppen?

Intendantin Katharina Kreuzhage bringt das Stück "(Kein) Weltuntergang" der preisgekrönten britischen Autorin Chris Bush (Übersetzung von Gerhild Steinbuch) mit der richtigen Mischung aus ironischer Leichtigkeit und philosophischem Tiefgang auf die Bühne. Der Klimawandel macht auch vor ihrem Haus nicht Halt: Vor knapp einem Jahr raste ein Tornado durch Paderborn und verwüstete auch die Freilichtbühne des Theaters.

Ein Bewerbungsgespräch mit Tiefgang

Auf der schlicht gehaltenen Studiobühne von Ariane Scherpf bildet ein weißer, sich zur offenen Wand nach hinten verengender Kasten den Raum, in dem sich mehrere Wirklichkeiten abspielen. Wir sehen ein Bewerbungsgespräch zwischen einer Postdoktorandin und der Professorin, das bereits in der ersten Minute misslingt. Doch dann wiederholen sich die Szenen, und es wird neu gestartet, mit anderem Verlauf, ein Satz wird verändert, eine Betonung oder gleich die ganze Machtposition. Die parallelen, imaginierten Welten bilden ein Multiversum der unbegrenzten Möglichkeiten – leider nur auf der Bühne und nicht in Sachen Klimakrise.

Weltuntergang3 Meinschäfer Fotografie uBeim Vorstellungsgespräch: Veronika Wider als Jungforscherin und Kirsten Potthoff als Professorin. Dunkel im Vordergrund: Mirjam Radovic © Meinschäfer Fotografie

Während das Bewerbungsgespräch als Rahmenhandlung also typische Wegmarken durchläuft (Vorstellung, Biografisches, Motivation) und den ganzen Bewerbungswahnsinn zunächst herzhaft karikiert, knüpfen sich unter der Oberfläche tiefsinnige Überlegungen daran: Ist die Unpünktlichkeit der Bewerberin eine Untugend, wenn sie dem öffentlichen Transport und damit der Nachhaltigkeit geschuldet ist? Zählt bei der Besetzung der Klimaforschungs-Postdoc-Stelle Qualifikation oder Leidenschaft? Ist Fortpflanzung noch verantwortungsvoll und hohes Alter noch wünschenswert in einer klimazerstörten Welt? Solche Fragen unterfüttert Chris Bush mit Inputs aus Wissenschaft und Wirtschaft, so dass die beiden Akademikerinnen immer neue Argumente aufeinander abfeuern.

Generationenclash: Babyboomer versus Millennials

Veronika Wider verkörpert ihre Figur der Jungakademikerin Dr. Anna Vogel überzeugend zwischen Unsicherheit und Entschlossenheit, Respekt und Selbstbewusstsein. Kirsten Potthoff wiederum gibt die arrivierte Starprofessorin Uta Oberdorf mit glänzender Lässigkeit und professioneller Arroganz.

Auch visuell konstrastieren dunkel-biederer Anzug und cool-beige Edel-Kombi (Kostüme: Ariane Scherpf). Hier prallen Generationen aufeinander und machen sich gegenseitig Vorwürfe über die jeweilige Schuld am Klimawandel: Die Millenials (zu denen Chris Bush selbst zählt) müssen ausbaden, was die Babyboomer angerichtet haben, und sehen einer unerträglichen Zukunft entgegen. Und bekommen noch eins auf die Nuss: "Spielen Sie nicht das Opfer, verändern Sie was!", herrscht die Professorin ihre jüngere Kollegin an. Hinter ihrer akademischen Kälte verbirgt sich nämlich ein leidenschaftlicher Kampf um die schicksalhafte 1,5 Grad-Marke.

Zwischen den beiden Generationen steht noch Lilly (energisch gegeben von Mirjam Radovic) in ihrer Multifunktion als Sekretärin, Psychiaterin oder Umweltaktivistin, die Dr. Vogels vielfältige Identitäten ausleuchtet.

Der fahle Trost der Eisbärin

Kreuzhage und ihr Team haben das Ganze brillant inszeniert. Vor allem die Staccato-Dialoge der aufeinanderfolgenden Multiversum-Realitäten sind ein höchst dynamisches Wechselspiel zwischen Spiel und Technik. Fast im Sekundentakt werden diese Wechsel mit dem (aus den Gag Reels von Filmproduktionen her bekannten) typischen "Beep"-Ton und zusätzlich mit plötzlicher Verdunkelung markiert. Was Markus Krömers und Viviane Wiegers (Licht) und Tim Klöpper und Till Herrlich-Petry (Ton) mit den Schauspielerinnen veranstalten, ist ganz große Extraklasse.

Weltuntergang3 Meinschäfer Fotografie uDie Starprofessorin im Angesicht der Bärin: Kirsten Potthoff und Johanna Graen © Meinschäfer Fotografie

Und dann ist da noch dieses in Bärenfell gehüllte Wesen mit der Tiertotenschädel-Zottelperücke, das in ganz eigenem Tempo um die Bühne herumgeistert: Ist es ein Tier, ein verstoßenes Kind, ein Seher? Johanna Graen spielt diese Figur jedenfalls herzzerreißend zart und unnachgiebig. Sie kontextualisiert und theoretisiert die Klimakrise (Hyperobjekt, positive Feedbackschleife, whatever), macht aber auch einen mythologischen Raum auf und erzählt die Geschichte vom berühmten Eisbär auf der schmelzenden Scholle als Fabel, in der die Bärenmutter den kleinen Bären nur noch durch ein Märchen über die brutale Realität hinwegtrösten kann.

Engagiertes Theater

Das Paderborner Publikum (am Premierenabend zumeist Babyboomer) diskutierte einst heftig über die nahegelegenen Windparks und bekommt nun Gelegenheit, über die Klimakrise zu reflektieren: Kreuzhage und Dramaturg Michael Kaup haben an drei Abenden Gäste aus Politik und Umweltschutz zu Diskussionsabenden eingeladen. Ein solches Engagement des Theaters kann dem Tornado-gebeutelten Paderborn, wo die Grünen mittlerweile im Rathaus sitzen, nur guttun.

(Kein) Weltuntergang
von Chris Bush
Deutsch von Gerhild Steinbuch
Regie: Katharina Kreuzhage, Bühne und Kostüme: Ariane Scherpf, Video: Valerij Lisac, Licht: Markus Krömer, Programmierung und Betreuung Licht: Viviane Wiegers, Einrichtung Ton und Video: Tim Klöpper, Till-Herrlich-Petry, Dramaturgie: Michael Kaup.
Mit: Johanna Graen, Kirsten Potthoff, Mirjam Radovic und Veronika Wider.
Premiere am 5. Mai 2023
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.theater-paderborn.de


Kritikenrundschau

"Eine Inszenierung, die mit Sehgewohnheiten bricht und nach Diskussion verlangt" hat Ann-Britta Dohle gesehen und schreibt in der Neuen Westfälischen / Paderborner Kreiszeitung (8.5.2023): "Die Regie verlangt den Spielenden wie dem Publikum eine hohe Konzentration ab." Geradezu schmerzhaft und anstrengend sei es, den unzähligen "Blacks", den Tausendundeins Wendungen und Neustarts zu folgen. "Da wächst körperlich spürbar die Sehnsucht nach einer einzigen Geschichte, einer einzigen Wahrheit heran. Doch kann es die geben?" Veronika Wider spiele emotional, fließend und transparent die breite Palette gegensätzlicher Empfindungen. "Kirsten Potthoff verkörpert großartig die Unerschütterliche, die nur in winzigen, persönlichen Momenten Verunsicherung zeigt." 

Mit einer "großen Portion Tiefgründigkeit und hoher Komplexität" wage sich das Theater mit der Inszenierung an die großen Fragen des Lebens, schreibt Rebecca Borde im Westfälischen Volksblatt (8.5.2023). "Der Anspruch ist hoch, denn um der Handlung folgen zu können, müssen sich die Zuschauer darauf einlassen, Zeit und Raum wenig Achtung zu schenken." Die Sprünge zwischen Zeiten und Handlungen erforderten auch großes schauspielerisches Talent, "das vom vierköpfigen Ensemble gekonnt unter Beweis gestellt wurde".

 

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