Verschwörung der Tiere

4. Mai 2023. "Rage und Respekt" lautet das Motto der diesjährigen Ruhrfestspiele. Und besser als durch Janina, die Hauptfigur aus der Eröffnungsproduktion der legendären Company Complicité, lässt sich das gar nicht verkörpern: Wütend und mit akuten ökologischen Fragen im Gepäck bewegt sie sich durch einen atmosphärischen Überwältigungsthriller. 

Von Dorothea Marcus

"Drive Your Plow Over the Bones of the Dead" von Complicité bei den Ruhrfestspielen © Marc Brenner

"Drive Your Plow Over the Bones of the Dead" von Complicité bei den Ruhrfestspielen © Marc Brenner

4. Mai 2023. "Rage und Respekt" lautet diesmal das Motto der Ruhrfestspiele Recklinghausen, jenes legendären Festivals, das in der Nachkriegszeit entstanden und aus dem Mythos der Bergarbeiter gespeist ist, die mit Kohle einst die Kunst retteten. Bis heute ist es das wohl einzige Theaterfestival der Welt, das von einer Gewerkschaft (DGB) und einer Kommune gemeinsam finanziert wird.

Zur Eröffnung spricht die Schriftstellerin Anne Weber über das süße Gift des Kapitalismus, das jeder Einzelne so genüsslich inhaliert, schon mit dem Mikroplastik-Schnuller, und dabei in den Abgrund rast. Und dass wir deshalb aufhören sollten, dem System die Schuld zu geben, uns wütend und klagend zu Opfern machen, sondern uns stattdessen erst mal selbst fordern.

So richtig internalisiert hat den Abgrund der Welt auf jeden Fall Janina Duszeijko, die einsam auf einer schlesischen Hochebene lebt und Ferienhäuser hütet, während um sie herum mysteriöse Morde geschehen. Der Roman der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk "Drive your Plow Over the Bones of the Dead" heißt – rekurrierend auf William Blakes "Sprichwörter der Hölle" – soviel wie "Pflüge über die Knochen der Toten" und ist im Deutschen etwas verdruckst romantisch mit "Gesang der Fledermäuse" übersetzt sowie als "Öko-Thriller" gelabelt: Die ehemalige Ingenieurin, Tierliebhaberin, Englischlehrerin und Astrologin Janina, chronisch krank, glaubt, dass die Tiere sich nun gegen die Menschen verschworen haben und zurückschlagen. Oder ist alles ganz anders?

Grelle Lichtblitze, brutale Warnrufe

Der Abend beginnt in größtmöglicher Schlichtheit: Die große, kleine Ausnahmeschauspielerin Kathryn Hunter steht in Turnschuhen, Jogginghose und lila Daunenjacke bei Saallicht am Mikro und wünscht mit ihrer tiefen, heiseren Stimme einen guten Abend, hustet etwas, erzählt vom positiven Corona-Test. Just kidding. Die Zeiten, in denen dies Schreckensmomente verursachte, sind vorbei – hier geht es um Größeres.

Und dann geht das Licht aus, und eine umfassende Dunkelheit erfüllt den Saal: Der Übergang in den Zauber-Kosmos der legendären Complicité-Company wirkt wie ein Schock. Genau wie die grellen Lichtblitze, die uns vom Bühnenhintergrund in den drei Stunden immer wieder direkt in die Augen knallen: brutale Warnrufe, ja nicht einzuschlafen. Oder sich auszuruhen auf einer Geschichte, die vermeintlich jemand anderem passiert, obwohl sie in Wahrheit unsere ist. Rage und Respekt: Das Motto der Festspiele passt perfekt auf diesen Abend.

Hunter, die etwa einen Kopf kleiner ist als all ihre acht Mitspieler*innen, dominiert alles und alle: Sie erzählt die Geschichte der Morde und ihrer Aufklärung radikal aus ihrer Sicht, und sie ist wütend. Aus Respekt vor den Tieren, die sie für radikal gleichberechtigt mit den Menschen hält.

CREATOR: gd-jpeg v1.0 (using IJG JPEG v80), quality = 100Illustrative, grandiose Bilder: Die Complicité-Company © Camilla Adams

Und zugleich agiert die Schauspielerin so souverän, selbstironisch und auktorial allwissend, dass auch wir uns gern von ihr beherrschen lassen. Mit ihrer dunklen Kleidung und ihren Kapuzen sind die acht Darsteller*innen hinter ihr fast unsichtbar, bleiben Material, werfen Schnee, strecken ihre Arme als Hirschgeweihe, spielen Hunde, tote Wildschweine, Reh-Rudel oder Schüler aus Janinas Klasse. Wie Puppen treten sie erst dann hervor, wenn Janina sie vorstellt. Alles findet in ihrem Kopf statt: Die Mitglieder des Jagdvereins, aus dem alle Toten kommen. Der Polizeikommandant, der sich das Horoskop deuten lässt, aber auch Jäger ist und bald stirbt. Die Freunde von Janina, die nach und nach dazukommen: der Nachbar "Oddball" mit dem Testosteron-Syndrom (Altersbegeisterung für Werkzeug und Weltkriege), der besessene Student und William-Blake-Übersetzer "Dizzy", der mit Janina auf Detektivjagd geht. "Good News", die keine Haare mehr hat und in einem Second Hand-Laden arbeitet.

In wenigen Szenen wird die Verbindung der Figuren zu Janina illustriert, leuchtet ein Klassenzimmer auf, fahren Kleidungsstücke herunter für den Second-Hand-Laden – die Freundin verkauft ihr die lila Daunenjacke wie ein zweites, schützendes Fell ihres zu wachen Bewusstseins: Janina, das Übergangswesen zwischen Mensch und Tier.

Theatraler Bewusstseinsstrom

Und dann ist die Überblendung zu Ende, und die Hauptgeschichte geht weiter: Ein weiterer Mord geschieht. Stets erscheinen ihre Namen wohlgeordnet in weißer Schrift auf einer der vielen Gaze-Wände, die das unsichtbare Bühnenbild darstellen. Denn das ist wohl das wichtigste Stilmittel im Universum des Regisseurs Simon McBurney: die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart. Innenleben und Außenwelt.

Die Videoprojektionen (Dick Straker), die Sounds (Christopher Stutt) und Lichtinstallationen (Paul Constable) erschaffen jene immersive Theater-Atmosphäre, für die Complicité berühmt ist. Wenn der Pfarrer bei Janina zu Besuch ist, fragt sie ihn, ob er Tee will, aber er hat ihn schon in der Hand. Wenn Janina wütend und verzweifelt die Jagdgesellschaft angreift, die vermutlich auch ihre beiden Hunde-"Mädchen" getötet hat, wächst auf der Leinwand ein Jägerstand. Windgeräusche und eine weiße Horizontlinie erzeugen die winterliche Hochebene, im nächsten Moment wird getanzt, wummern die Bässe einer Jagd-Party: Die Szenen und Momente verschwimmen und treffen unmittelbar aufeinander, verändern sich blitzschnell: ein theatraler Bewusstseinsstrom.

Drive3 Marc Brenner uAusnahmeschauspielerin: Kathryn Hunter als Janina © Marc Brenner

Wenn Janina dem Kommandanten ein Horoskop erstellt, drehen sich auf den Gazewänden die astrologischen Schablonen, unterlegt mit einem Sternenhimmel, durch den wir alle rasen wie in einer 3D-Installation. Janina spricht dann wie eine Seherin, eine kosmische Gesandte, davon, dass sich das Größte stets im Kleinsten findet, dass alle Lebewesen zutiefst gleich sind, sie zitiert Blake. Und lässt uns an ihren Krankheiten, Wein-Anfällen, Albträumen teilhaben, hinter vielen Gazewänden taucht ihre Mutter auf und ruft. Und fast unmerklich verwandelt sie sich vor unseren Augen in eine psychisch Kranke, die ihren Wahn vor uns ausbreitet.

Oder sind wir selbst der Wahnsinn der vermeintlichen Normalität? Symbolische Vertreter*innen der lahmen Bürokratie, die an die Einhaltung von Regeln und Gesetzen und an wirtschaftliche Grundsätze erinnern – während Janina der Sachbearbeiterin ein blutiges Wildschweinherz auf den Tisch knallt? Die Frage, wie radikal auch wir in der Klimakrise noch werden müssen, schwebt immer mit. Zugleich ist am Romanstoff von Olga Tokarczuk zu spüren, dass die Autorin selbst ausgebildete Psychologin ist, die die zwei Wahrheiten psychisch Kranker kennt. (Und sie dann auch noch mit den poetischen Wahrheiten des Dichters und Naturmystikers William Blake vergrößert, der ebenso chronisch krank war wie Janina.)

Wer ist hier verrückt?

Immer mehr fordert uns der Stoff an diesem Abend zur inneren Stellungnahme auf. Sind wir mit den Bösen, die in die Katastrophe führen? Oder Terroristen, die gegen Gesetze verstoßen? Was ist weiß, schwarz und grau? Am Ende – Vorsicht, Spoiler – wird klar, dass Janina es war, die all die Männer ermordet hat, mit einer Plastiktüte mit Eiswürfeln darin. Als Massenmörderin im Namen des Tierschutzes entpuppt sie sich: ein selbsternanntes Werkzeug im Kampf gegen das, was sie als das "Böse" identifiziert hat. Oder wer ist hier verrückt? Am Ende fallen alle, auch ihre Freunde, tot um, nachdem sie ihnen die Wahrheit gestanden hat, und sie geht vollends in ihre Wahnwelt ein, lebt fortan im wunderschön verschneiten Video-Dschungel bei ihrem Entomologen-Freund Boros, in den ewigen Abgründen des menschlichen Bewusstseins. "I still have plenty of time" ist der letzte Satz – was sind schon winzige Menschenleben gegen das Überleben des Universums.

Das atmosphärische Überwältigungstheater von Complicité ist zwar etwas lang geworden, und manchmal auch ziemlich demonstrativ illustrativ in seinen grandiosen Bildern. Aber es zieht doch tief hinein in die größten Konflikte unserer Zeit – das muss man mit Theater erst einmal schaffen. Standing Ovations brausen auf – und ausnahmsweise gibt es beim anschließenden DGB-Büffet auch nur vegetarische Speisen.

 

Drive Your Plow Over the Bones of the Dead
von Complicité nach dem Roman "Gesang der Fledermäuse" von Olga Tokarczuk
Konzept und Regie: Simon McBurney, Bühne und Kostüme: Rae Smith, Lichtdesign: Paule Constable, Sounddesign: Christopher Stutt, Video: Dick Straker, Regiemitarbeit: Kirsty Housley, Dramaturgie: Sian Ejiwunmi-Le Berre, Laurence Cook, Bewegungsregie: Toby Sedgwick, Originalkomposition: Richard Skelton.
Mit: Thomas Arnold, Johannes Flaschberger, Amanda Hadingue, Kathryn Hunter, Kiren Kebaili-Dwyer, Weronika Maria, Tim McMullan, César Sarachu, Sophie Steer, Alexander Uzoka.
Koproduktion: Ruhrfestspiele Recklinghausen, Barbican London, Belgrade Theatre Coventry, Bristol Old Vic, Comédie de Génève, Holland Festival, Les théatres de la Villes de Luxembourg, L’Odéon Théâtre de l’Europe, The Lowry, The National Theatre of Iceland, Oxford Playhouse, Theatre Royal Plymouth.
Deutschlandpremiere am 3. Mai 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.ruhrfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

Lob für die "unglaubliche Schauspielerin" Kathryn Hunter und das ganze Ensemble schenkt Stefan Keim in der Sendung "Mosaik" auf WDR 3 (4.5.2023) aus. Wenn die Darsteller in ihre Rollen schlüpften, sei sofort "ein psychologisch genau ausgeleuchteter Mensch auf der Bühne" und dieses Spielen mache es "unglaublich spannend und auch witzig teilweise, diese drei Stunden zu verfolgen". Die "Komplizenschaft mit dem Publikum" (die im Namen des Kollektivs Complicité steckt) habe bei dieser Premiere geklappt; "es gab einen langen Jubel".

Kai-Uwe Brinkmann von den Ruhr Nachrichten (4.5.2023) kritisiert, die Inszenierung könne "ein statisches, etwas ermüdendes Momentum" nicht wirklich abstreifen. "Was unterhält, ist Janinas trockener, zupackender Wortwitz oder die köstliche Szene mit dem Joint, wo drei Darsteller komödiantisch auftrumpfen.
Stark sind auch Licht, Dia-Projektion und Bühnenbild, die Ansichten nahe an 3DIllusionen kreieren."

Tokar­czuks Roman formuliere sein "radikalökologisches Anliegen" mit ungebremstem Enthusiasmus, schreibt Hubert Spiegel von der FAZ (5.5.2023). Simon McBurney habe das Werk facettenreich und virtuos inszeniert: "wütend, sensibel, humorvoll, dabei Pathos und Empathie – beides ist reichlich vorhanden – durch ironische Brechungen abfedernd". Im Zentrum stehe Kathryn Hunter. "Mit ihr und dem Ensemble von Complicité haben die ersten Ruhrfestspiele nach der Pandemie glanzvoll begonnen."

"Simon McBurneys Transfer des Romans ist eine solide Literaturadaption, von einem Theaterwunder ist die Regie weit entfernt. Es ist der Bauchladen konventioneller Avantgarde, aus dem der Brite sich bedient." Die "handzahme Performance" hätte um eine Stunde gekürzt deutlich mehr Sogwirkung entfaltet, so Lars von der Gönna von der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (5.5.2023). Und doch werde der Abend lange in Erinnerung bleiben, wegen Kathryn Hunter. "Zart und zäh zugleich erobert sie mit ihrem ersten Satz (Reibeisentöne der Sorte Thalbach) den Saal. Was für ein Gespür für Pointen und Timing!"

"Man könnte bei McBurneys Produktion über weite Strecken die Augen schließen und würde wenig Wesentliches verpassen", schreibt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (6.5.2023) in seinem Auftaktbericht zu den diesjährigen Ruhrfestspielen. Das Stück biete "im Wortsinne episches Theater, weil hier weniger ausagiert als illustriert wird. Prinzipiell ist dass, was man sieht, fast immer Dopplung des verbal Vorgetragenen"; was den Abend "zum Ereignis macht, ist die Hauptdarstellerin Kathryn Hunter, seit Jahrzehnten eine der konstant brillantesten Bühnenschauspielerinnen des britischen Theaters. Sie ist mit scheinbar unerschöpflicher Energie das Gravitationszentrum vieler Complicité-Produktionen gewesen."

Kommentar schreiben