Legende - Ruhrtriennale
Das Genie als Quergeist
18. August 2024. In der Sowjetunion wurde Sergey Paradjanov eingeschüchtert, gemobbt und inhaftiert. Kirill Serebrennikov widmet dem armenisch-georgischen Filmkünstler jetzt eine große Hommage, in der noch viel mehr zur Sprache kommt als das Verhältnis von Kunst und Widerstand.
Von Martin Krumbholz
18. August 2024. Eine Legende ist wohl eine Geschichte, die nicht unbedingt stimmt, die dazu dient, eine bestimmte Figur aus der Masse herauszuheben, sie in eine Art Adelsstand zu versetzen. Man weiß zwar nicht, ob Kirill Serebrennikov den Begriff so versteht, aber sein vierstündiges, opulentes szenisches Feature über den armenisch-georgischen Filmkünstler Sergey Paradjanov (1924-1990) lässt sich zumindest so lesen: eine Hommage, die einen geistesverwandten Künstler ehrt, indem sie sein (eher schmales) Werk respektvoll-respektlos plündert.
Allerdings ist dieser Paradjanov nicht annähernd so bekannt wie etwa Andrej Tarkowski, dessen Lebensdaten mit denen des Kollegen fast identisch sind. Serebrennikov erklärt im Interview, Paradjanov habe sich eben weniger Mühe gegeben, sich zu arrangieren, sein Lebensstil war subversiver, anarchischer, exzentrischer. Tarkowskis Meisterwerke wie "Iwans Kindheit" oder "Andrej Rubljow" zeichnen sich durch Askese und radikale Formstrenge aus, bei Paradjanov ist wohl das Gegenteil der Fall, seine Filme wie "Die Farbe der Granatäpfel" tendieren eher zum Manierismus.
Glückwünsche von Fellini
Der Italiener Fellini ist eine Referenzgröße, er wird an diesem Abend auch nicht zufällig zitiert, mit einem freundschaftlichen Gruß an den Kollegen, Fellini wünscht ihm Glück und Durchhaltevermögen. Paradjanov hat es brauchen können, der "einzige arbeitslose Filmregisseur der Sowjetunion" (Selbsteinordnung) ist diesem Staat, so kann man es wohl sagen, zum Opfer gefallen, er wurde eingeschüchtert, gemobbt, ins Gefängnis gesteckt; er starb früh. Unnötig zu sagen, dass die Funktionäre des Arbeiter- und Bauernstaats mit diesem Quergeist nichts anfangen konnten.
Was aber können wir hier und heute, in der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg-Nord, damit anfangen? Serebrennikov macht es uns nicht leicht. Mit einem großen Ensemble, gemischt aus Spielern des Thalia Theaters und der "Kirill & Friends-Company", verstärkt durch einen gewaltigen georgischen Männerchor, also mit vielen und allen Mitteln, die das Power-Theater des Meisterregisseurs aufbieten kann, stürzt er sich in eine Session, die weniger informieren und aufklären als überraschen und überwältigen will. Das gelingt, vor allem vor der Pause, mit wechselndem Erfolg.
Und ewig erschießt sich Werther
Zehn einzelne "Legenden" (eigentlich einfach Kapitel) sind es, die erzählt werden, sie tragen Titel wie "Der alte Mann bricht das Eis" oder "Die Infantin Margerita" (in Anspielung auf ein Gemälde von Velasquez). Den Regisseur spielt jeweils jemand anderes. Man weiß manchmal nicht recht, was von Paradjanov und was von Serebrennikov ist, aber vielleicht ist das auch nicht wichtig. Die beiden scheinen ohnehin zu einer Art überzeitlichem Gesamtkünstler zu verschmelzen.
Die einzelnen Episoden als Sinneinheiten zu entschlüsseln, ist ohne Kenntnis der jeweiligen Filmzitate allerdings schwierig beziehungsweise unmöglich. Es beginnt im ersten Kapitel gleich mit dem Tod, der überhaupt allgegenwärtig ist; Werther (aus der Oper von Jules Massenet) erschießt sich mehrfach. In einer Szene, die vom Baum der Wünsche handelt, wünschen sich die Leute, was man sich so wünscht, ein Haus mit Meerblick, den Tod des Geschäftspartners, so etwas; am Schluss steht der schöne Jüngling, der all das erfüllen soll, nur noch als Skelett da.
Um Einfälle und vor allem um Effekte ist Serebrennikov nicht verlegen. Das zeigt sich vor allem nach der Pause. Serebrennikov ist ein ausgezeichneter Musiktheaterregisseur; hier allerdings ist die Musik kein bindendes und zügelndes Element, sondern ein grandioser Geschmacksverstärker. Da wird buchstäblich georgelt, was das Zeug hält. Wenn der gewaltige vierzigköpfige Männerchor auf die Bühne marschiert, der Dirigent mit ausgreifenden Gesten an der Rampe steht, wenn Orgel, Chor, Perkussion zu einem markerschütternden Dreiklang finden, dann stellt sich natürlich der vielzitierte "Gänsehautmoment" ein, der das Publikum unfehlbar in Bann schlägt und am Schluss zu endlosem Jubel animiert.
In aller Bescheidenheit
Standing Ovations, zweifellos verdient. Und doch fehlt dem Abend ein erzählerischer Faden, der aus bestechendem Stückwerk ein überzeugendes Ganzes macht. "I'm genious", lesen wir in roter Leuchtschrift. Das gilt natürlich dem Helden des Stücks, Sergey Paradjanov, den wir nun ein bisschen kennengelernt haben; aber kaum wagt man zu hoffen, dass der geschätzte Kirill Serebrennikov damit nicht beiläufig ein wenig auch sich selbst in aller Bescheidenheit in den Fokus des Betrachters rückt.
Legende
von Kirill Serebrennikov
Übersetzt von Irina Bondas
Regie, Bühne, Kostüme: Kirill Serebrennikov. Komposition und musikalische Leitung: Daniil Orlov. Choreografie: Evgeny Kulagin, Ivan Estegneev. Chorleiter: Svimon Jangulashvili. Dramaturgie: Joachim Lux, Anna Shalashova.
Mit: Filipp Avdeev, Odin Lund Biron, Campbell Caspary, Pascal Houdus, Felix Knopp, Nikita Kukushkin, Svetlana Mamresheva, Karin Neuhäuser, Daniil Orlov, Falk Rockstroh, Gurgen Tsaturyan, Tilo Werner.
Georgian State Chamber Choir.
Premiere am 17. August 2024 auf der Ruhrtriennale
Dauer: 4 Stunden, eine Pause
www.ruhrtriennale.de
Kritikenrundschau
"'Legende' ist das Ergebnis der Arbeit eines mutigen Künstlers, der einen mutigen Künstler feiert. Es ist eine Materialschlacht, mit einem brausenden georgischen Männerchor, aufwendigen Kostümen und exzellenten Darstellern, die alles geben. Das ist wunderbar." Und doch ziehe sich der Abend. "Diese allegorische, bildstarke Überhöhung einer fraglos faszinierenden Figur würde sehr von einem gestrafften Director's Cut profitieren", so Alexander Menden von der Süddeutschen Zeitung (19.8.2024).
"Obgleich in Kooperation mit dem Hamburger Thalia Theater entstanden, trägt 'Legende' typische Merkmale einer Triennale-Kreation: experimentell, langatmig, teils verworren, sich im eigenen Schaffensprozess verlierend. Das Schauspiel balanciert lustvoll auf den Grenzen zur Performance, zum Musical, zur Oper", schreibt Anke Demirsoy von der Rheinischen Post (18.8.2024). "Serebrennikow hat eine Collage geschaffen, in der vieles hart aufeinanderprallt: Erhabenes auf Ordinäres, Poetisches auf Politisches, Ernst auf Klamauk. Das grandiose Schauspiel-Ensemble wirbelt virtuos und vehement durch dieses Kaleidoskop."
Serebrennikovs Legenden "ergeben nicht unbedingt eine Biografie Paradschanows, aber spielen so burlesk wie geistreich mit den Motiven seines Lebens", schreibt Jens Dirksen in der WAZ (18.8.2024). "Schön zu hören, schön zu sehen" seien sie alle und der Abend biete einen "Rausch der Kostüme und Farben, der Geschichten und des Chorgesangs" sowie eine "überragende Ensemble-Leistung".
"Tatsächlich wirkt der Abend wie ein im Rausch geknüpfter Teppich, dessen Muster man nicht versteht. Es sei denn, man studierte das 200 Seiten starke Programmbuch. Und selbst dann erscheint die Assoziations- und Ausstattungswut eher beliebig." So berichtet Katrin Ullmann für die Zeit (€ | 22.8.2024). "Das Spiel auf der leeren weißen Schräge ist frontal und expressiv. Es erinnert zuweilen an das einer Wandertheatertruppe."
Ein "Wahnsinnsprojekt" und den "Höhepunkt des Eröffnungswochenendes" der Ruhrtriennale erlebte Jakob Hayner von der Welt (22.8.2024) hier. "Legende" sei "ein überbordendes und fantastisches Spektakel, das immer wieder mit unglaublichen Bildern überrascht – und bei der ausufernden Spieldauer erst gegen Ende einige Längen und Rhythmusschwächen aufweist. Die bleiben aber angesichts der zahlreichen zwar hart an der Kitschgrenze balancierenden, aber umwerfenden Gänsehautmomente verzeihlich."
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Dennoch bleiben Bezüge und ein roter Faden meistens unerkennbar …. die Lear-„Legende“ ist wirklich albern bis ärgerlich … Zum Schluss wird es lang und man befürchtet, dass alle Bekenntnisse / Schriftstücke von Paradjanov zitiert werden. Bei manchen sich verselbstständigenden Manirismen hätte der Regisseur „bremsen“ müssen (wohl ein Sprachproblem und als Gastregisseur für ihn nicht erkennbar). Aber sie werden durch Charme und zum Schluss Innigkeit kompensiert … Und ja: es ist auch eine Selbstfeier! Und wahrscheinlich ist die „maskuline“ Ästhetik nicht jedermanns Sache. Aber es ist stimmig.
Es ist schon pure Freude, der musikalischen Zusammenstellung und Bearbeitung von Daniil Orlov, mit dem Serebrennikov als Dramaturg - in seinen Operninszenierungen - arbeitet, zu lauschen und die stimmlichen Qualitäten der „Friends“ zu bewundern.
Wenn es statt 10 nur 7 bis 8 Legenden gegeben hätte, wäre es fast das perfekte Din … g geworden trotz einer Ratlosigkeit, die es hier und da hinterläßt. (Aber Serebrennikov mag die 10).
Drei der zehn „Legenden“ stechen heraus: unmittelbar vor der Pause eine sehr freie „Lear“-Adaption mit Nikita Kukushkin als Narr über eine Welt, die in Dunkelheit und Wahn versinkt. Hieran schließt sich ein tolles Gitarren-Solo von Campbell Caspary an, der „Hallelujah“ von Leonard Cohen singt und von der Meute bis auf das Skelett demontiert wird. Und natürlich ist es wieder mal Karin Neuhäuser, die einer Thalia-Produktion den Stempel aufdrückt: sie brilliert als launische „Traviata“-Diva, die allen anderen zeigt, wie man seinen Bühnentod angemessen zelebriert.
Doch jenseits dieser Kabinettstückchen bleibt viel Leerlauf. Thalia-Intendant Joachim Lux, der wie schon bei früheren Serebrennikow-Arbeiten an seinem Haus als Co-Dramaturg mitwirkte, wäre gut beraten, wenn er gemeinsam mit dem Regisseur die ursprünglich auf drei Stunden angelegte, auf vier Stunden ausfransende Inszenierung dem Hamburger Publikum ab November in einem „Director´s Cut“ vorstellen würde, wie Alexander Menden in der SZ vorschlug.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/08/22/legende-theater-kritik/
die Verfasserin des Telegram Channel "Natasha Daily against the war" (https://t.me/natashadaily) hat eine, wie ich finde, sehr berührende Einschätzung des Abends geschrieben. Die Übersetzung ist direkt von Telegram, also keine Gewähr dafür, aber es kommt trotzdem rüber, was Serebrennikovs Kunst für Zuschauende aufmachen kann.
"Vor zwei Tagen bin ich um 5:30 Uhr morgens aufgestanden und mit Anschlusszügen nach Duisburg, auf die andere Seite des Landes, 578 Kilometer nördlich von Dresden, gefahren, um mir die Aufführung anzusehen. Bei der Ruhrtriennale gab es eine Festivalpremiere von Serebrennikows „Legende“.
Ich wollte zwei Tage lang nicht darüber schreiben. Nein, nicht weil ich es nicht konnte. Wissen Sie, es gibt Auftritte, die einen niederschlagen und zerstören, und man kann weder schreiben noch sprechen. Ich wollte es nicht. Ich wollte dies aus egoistischen Gründen mit niemandem teilen, damit all diese Gedanken, alle Gefühle, Emotionen zumindest ein wenig nur mir gehörten. Ich wollte, dass all das in mir spritzt und brodelt, durch meine Adern fließt, in die Haut eindringt, entweder im unteren Rücken oder im Herzen schmerzt und niemand anderem gehört. Ich wollte das alles gar nicht mit Kirill teilen, also schrieb ich ihm nur „Nun, das ist P//DETS!!!“. Natürlich ohne Schrägstriche.
Die Theatersaison öffnet erst in einer Woche ihre Pforten, aber sie hat mich bereits umgehauen. Und es ist unmöglich, darüber zu sprechen, ohne die Stadt zu beschreiben.
Nun, ich sage Ihnen: Duisburg ist ein Loch. Großneffe von Tscheljabinsk und Omsk. Eine Fabrikstadt, in der alles hässlich und deprimierend ist. Auch die Nachbarstädte Dortmund und Essen sind, offen gesagt, nicht Elbflorenz. Das schöne Dresden hat mich natürlich verwöhnt. Um solche Städte zu überdenken und sie irgendwie aus der kollektiven Depression zu befreien, locken Kulturminister und lokale Stadtverwaltungen Künstler, Regisseure und Musiker dorthin.
Symbolischerweise findet auch die Ruhrtriennale (Kunstfestival an der Ruhr) auf dem Gelände der ehemaligen Fabrik statt. Riesig. Parallel zu „Legend“ gab es das Stück „I Want Absolute Beauty“ mit Sandra Hüller in der Titelrolle.
Und so steigt man am dreckigen Duisburger Bahnhof aus, rennt hinter die mit Zigarettenkippen und Lebensmittelverpackungen übersäte Bushaltestelle, steigt in den Bus, aus dem Fenster sieht man nur die Schornsteine der Fabriken und die Fabriken selbst. Niemand lächelt und sagt Hallo, wie in Dresden, Berlin oder München, Tscheljabinsk, sage ich Ihnen, und Sie kommen auch in die Fabrik. Sie kommen herein und „wenn Sie nur wüssten, aus welchem Müll Poesie erwächst, ohne Scham zu kennen.“ Ein riesiger, trendiger und luxuriöser Raum mit einer Infinity-Decke. Riesiges Bild. Riesige Bühne. Mehr habe ich wahrscheinlich nur bei den Opernfestspielen in Verona gesehen, dort gibt es eine Arena aus dem 1. Jahrhundert, aber das ist Oper. Das Theaterpublikum ist angenehm, einfühlsam und offen.
„Legend“ ist natürlich kein Stück über Parajanov. Das ist überhaupt keine Aufführung. Und es geht nicht um Multi-Genres und Cross-Formate. Du fühlst dich sofort ganz klein in etwas Großem, „Legend“ verschlingt dich liebevoll. Es ist, als ob man sich in einer Art Universum wiederfindet, in einen Traum verfällt oder von einer Roskomnadzor-Reise überwältigt wird. Und damit sind Sie nicht allein, der ganze Raum ist gleichzeitig bei Ihnen. Kann man beschreiben, worum es im Universum oder in einem Traum geht? Kann man beschreiben, worum es in Parajanovs Filmen geht?
Wie unglaublich schön Freiheit und freies Theater sind. Noch nie war Kirill in seinen Überlegungen und Äußerungen so radikal und meiner Meinung nach so verletzlich. Es ist sehr schön. Brecht weint leise in der Ecke mit seiner Philosophie der Distanziertheit. Hier ist alles lebendiges Hackfleisch aus zehn Legenden. In den ersten paar Legenden haben wir alle gelacht, bis wir Schluckauf und Husten bekamen.
er geliebte Philip Avdeev in einem luxuriösen grünen Seidengewand versucht, entweder einen russischen Schauspieler oder einen russischen Hund an einen Sammler zu verkaufen. Und dann das ohrenbetäubende „Die Legende von König Lear“, die Geschichte eines Diktators in einer Inkontinenzwindel, den sein Narr „hu//lom“ nennt. Ich frage mich, um wen es geht? Der Narr wird von Nikita Kukushkin gespielt, und schließlich sieht das europäische Publikum all seinen typischen Wahnsinn und das gleiche typische nackte Gesäß. Und eine geschwollene Vene auf der Stirn. Brecht rannte hinaus, um in eine Papiertüte zu atmen. Und dann, Legende um Legende, eilen Sie zum Gesang des georgischen Chores. Anscheinend sendete meine Uhr bei der siebten Legende eine Nachricht: „Achtung, Herzfrequenz ist zu hoch, 130 Schläge, es sieht aus, als würden Sie eine steile Treppe hinauflaufen, stoppen Sie.“
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich anfing, Tränen in meinem Dekolleté zu vergießen, aber ich weiß noch, warum. Ich habe verstanden, warum ich die deutsche Sprache nicht mag und warum mein Gehirn sie ablehnt. Deutsch ist für mich die Sprache des Lagers und der Verweigerung.
Wenn Sie durch die schwarzen Eisentore mit Stacheldraht gehen, werden Sie auf Deutsch durchsucht. Und auch die Wärter im Lager, die Sie seit neun Monaten auf Schritt und Tritt überwachen, sprechen Deutsch. Wo sich Ihr Bett befindet, erfahren Sie auf Deutsch. Ihr Pass mit einer Seriennummer anstelle Ihres Namens in deutscher Sprache. Die Krankenschwester, die Ihnen das Insulin verweigert, spricht auch Deutsch. Von ihr erfahren Sie, was „Shaize“ ist. Shaize bist du. Dann verweigern sie auf Deutsch die Eröffnung eines Bankkontos. Und sie weigern sich, eine SIM-Karte zu verkaufen. Sie verstehen schnell, was „nur für Ukrainer“ ist. Auf Englisch werden Sie im Krankenhaus behandelt und Ihr Anwalt teilt Ihnen auf Englisch mit, dass Ihr Status genehmigt wurde.
Wenn Deutschland nicht mit einem Lager mit Stacheldraht, sondern mit einer „Legende“ oder einem Theater begonnen hätte, würde ich schon lange Deutsch sprechen. Die Aufführung ist auf Deutsch mit englischen Untertiteln, mehrere Legenden sind auf Englisch und teilweise auf Russisch. Sie befinden sich im Universum der schönen und blauen deutschen Sprache und möchten sie bereits lernen. Und sei es nur, um alle Auftritte mit der brillanten Karin Neuhauser zu sehen, einem verrückten Chamäleon, das hier entweder eine Diva spielt, oder eine Mutter, oder einen alten Mann im Gefangenenlager, der mit brennendem Besen Stacheldraht von der Bühne fegt und sagt : „Nach uns bleibt nur die Schönheit, die wir uns erlaubt haben. Ich habe mir viel, viel Schönheit erlaubt. Nun, das ist gut.“ Ich wünschte, ich könnte diesen Draht mit diesem Besen aus mir herausfegen.
Und gleichzeitig weinst du vor Freude und Glück um deine Lieben, die dieses riesige Universum erschaffen haben, die so talentiert und so frei sind. Und dann trifft einen die 145. Welle, wenn man eine fast wörtliche Szene aus „Ein Sommernachtstraum“ sieht, der ersten Aufführung, die ich vor 11 Jahren im GC gesehen habe, oder einen Kimono, fast wie in „Playing the Victim“. Wenn man sieht, hört und spürt, wie die Öffentlichkeit sie annimmt. Wenn das Publikum aufsteht und die Künstler auffordert, sich viermal zu verbeugen. Und am nächsten Morgen fahren Sie mit einem glückseligen Lächeln im Gesicht zurück nach Dresden. Und alles in dir funkelt und spritzt.
Die Premiere findet am 30. November im Thalia Theater in Hamburg statt, Tickets sichern Sie sich im Voraus. Wenn in Duisburg alle Tage ausverkauft waren, dann im luxuriösen Hamburg umso mehr. Erlaube dir Schönheit, erlaube dir viel Schönheit, viel Schönheit. Schließlich wird wirklich nichts mehr übrig bleiben."