Tödlich endet’s sowieso

21. Mai 2023. Thomas Manns Roman über Lebenssinn und Zeitlichkeit landet öfter auf den Bühnen. Jetzt auch in Wuppertal, wo Henri Hüster ihn publikums- und ensemblefreundlich als Gang durch die wichtigen Episoden inszeniert.

Von Martin Krumbholz

"Der Zauberberg" am Schauspiel Wuppertal © Jakob Schnetz

21. Mai 2023. Wuppertal ist nicht nur die Stadt der Schwebebahn und der Pina Bausch. Es ist auch die Stadt, in der Simon Rattle lieber dirigiert als im Münchener Gasteig. Vieles ließe sich über diese schöne Stadt sagen. Nicht zuletzt, dass es hier als Pilotprojekt seit 2017 eine Kooperation des städtischen Schauspiels mit der Glanzstoff-Akademie gibt, einer Ausbildungsstätte für Künstler mit Beeinträchtigungen. Regelmäßig gehen gemeinsame Aufführungen über die Bühne des kleinen Theaters am Engelsgarten. (Das Schauspielhaus ist seit Jahren dicht und wird in ein Pina-Bausch-Zentrum verwandelt.)

Gratwanderung zwischen Realität und Traum

Vom "Zauberberg" ist Wuppertal allerdings ungefähr so weit entfernt wie vom Südpol. Thomas Manns Roman (1085 Seiten) ist ein einziges Kokettieren mit dem Tod. In der Industriestadt Wuppertal gibt es viele Sekten und solide Bestattungsinstitute, den Tod nimmt man hier sehr ernst. Aber im Theater darf man ja träumen. Und so träumt das Theater im Schatten des Engels-Hauses (auch der Marxismus-Miterfinder war sehr pragmatisch veranlagt) drei Stunden lang von der Reise des jungen Hans Castorp auf den Berg in der Schweiz, ins Lungensanatorium zu den Moribunden, zum Vetter Ziemßen, zum Hofrat Behrens, zu den Streithähnen Settembrini und Naphta, zur türenknallenden Madame Chauchat. Aus drei Wochen werden sieben Jahre, und dann ist Krieg.

Der Zauberberg3 Jakob Schnetz uIm Schnee: Julia Wolff, Rebekka Biener © Jakob Schnetz

Henri Hüsters Inszenierung beginnt mit dem Kapitel "Schnee". (Man könnte es das berühmte Kapitel "Schnee" nennen, aber im "Zauberberg" sind alle Kapitel berühmt, jedes auf seine Art.) Gestaltet ist es als Duett zwischen der Erzählerin Julia Wolff und der Castorp-Darstellerin Rebekka Biener, beide in Schneeweiß. Wolff steht meistens am Mikrofon, während Biener sehr geschmeidig, zart und empathisch von der Gratwanderung zwischen Realität und Traum erzählt: Die Welt versinkt im Schnee, Castorp mit ihr, und der Schnee ist diffus, kantenlos, suppig und gefährlich. Das "Sorgenkind des Lebens", wie der Literat Settembrini den jungen Castorp nennt, ist damit etabliert. Und es geht zurück auf Anfang.

Was fehlt: eine Zuspitzung

Diese Aufführung kennt keine Eile, und das ist ja auch angemessen. Gemächlich wird Episode um Episode entfaltet: Madame Chauchat (Aline Blum) taucht auf und vergisst bei keinem Auftritt und bei keinem Abgang, die Tür zuzuschlagen (Peng!), der bizarre Dr. Krokowski (beeindruckend: Nora Krohm) in einem blauen Fantasiegewand misst die Temperaturen (37,5 – klingt harmlos) und stellt sarkastische Prognosen, vor allem aber liegt, isst und flirtet man. Alles gleich wichtig. Auch die Dispute zwischen Settembrini und Naphta sind Formen des Flirts, selbst wenn das Ganze tödlich endet; aber tödlich endet hier ja sowieso fast alles. Den mit dem Terror sympathisierenden Naphta spielt Hans Richter, der seit einem halben Jahrhundert im Wuppertaler Ensemble ist (über 200 Rollen): eine Art Zeitmaschinenschauspieler – wie schön, dass es so etwas gibt.

Der Zauberberg2 Jakob Schnetz uJulia Wolff gliedert die Zeit © Jakob Schnetz

Liberalismus versus moralisches Chaos und Terror: Trotz der drei Stunden bleibt keine Zeit, das Thema zu vertiefen, schließlich brauchen alle ihre gepflegten Auftritte. Auch die gute Frau Stöhr, deren von Mann’schem Mansplaining getriebenen Fremdwörtermissbrauch man gestrichen hat. Wenn der (tadellos liebevollen) Aufführung etwas fehlt, dann eine Zuspitzung auf einen Diskurs, eine Fragestellung, ein Motiv. Hier geht es offensichtlich um Schauspielerpflege, vier Mitglieder des inklusiven Schauspielstudios sind beteiligt und machen ihre Sache prächtig, teilweise in großen Rollen (Nora Krohm, Aline Blum, Tim Alberti, Marvin Löffler).

Selbstironische Publikumspflege

Und Julia Wolff, unser "Thomas Mann", teilt uns freundlicherweise öfters mit, in welcher Etappe wir uns gerade befinden: Es ist 21.15 Uhr, wir sind auf Seite 576 von 1085 Seiten. Diese Form der selbstironischen Publikumspflege ist vielleicht ein bisschen gefährlich, aber nicht unsympathisch. Es erspart einem, hin und wieder auf die Uhr zu schauen. Thomas Manns großer Roman ist schließlich nicht langweilig, der Autor sagt es selbst ganz ausdrücklich. Ob etwas unterhaltend sei, so der Lübecker, habe nichts mit Länge oder Kürze zu tun. Und da kann man nur beipflichten.

Der Zauberberg
von Thomas Mann
Bühnenfassung von Henri Hüster
In Zusammenarbeit mit dem Inklusiven Schauspielstudio
Regie: Henri Hüster, Bühne und Kostüme: Hanna Rode, Choreografie: Vasna Aguilar, Musik: Florentin Berger-Monit & Johannes Wernicke, Dramaturgie: Christofer Schmidt.
Mit: Rebekka Biener, Julia Wolff, Alexander Peiler, Konstantin Rickert, Aline Blum, Nora Krohm, Marvin Löffler, Hans Richter, Lara Sienczak, Tim Alberti.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.wuppertaler-buehnen.de


Kritikenrundschau

Wie Thomas Manns Roman "die Zeit verlierend, zäh und kurzlebig zugleich", gestalte auch das Team seine Inszenierung des Stoffs, schreibt Alina Komorek in der Westdeutschen Zeitung (22.5.2023). "Wunderbar gespielt wird der Autor, der zur Interpretation des Romans seinerzeit viel beigetragen hat, von Julia Wolff." Und: "All die seltsamen und schönen Begegnungen, die Hans Castorp macht, bringt Schauspielerin Rebekka Biener dem Publikum einfühlsam nah." 

"Wenn der vielfach aufgeführte Stoff bei Regisseur Henri Hüster und seinem Dramaturgen Christofer Schmidt eine Zuspitzung erfährt, dann findet man sie hier: in der queeren Inszenierung des Körpers“, schreibt Salomé Meier in der FAZ (30.5.2023). "Der Körper wird hier in all seiner Diversität, als Quell der Lust und des Lebens gefeiert, als Stätte der Krankheit und des Todes gefürchtet."

"Kein Spaziergang, dafür beeindruckende Bilder", so Stefan Seitz in der Wuppertaler Rundschau (1.6.2023). Ein Brennglas menschlicher Existenz sei das Sanatorium, zwischen Liegekur, philosophischen Debatten, Vollpension und Verliebtsein schwinge das Pendel. Vollgastheater sei das nicht, "Vollblut-Theater sehr wohl schon".

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