Ein Königreich für eine Wasserpistole

15. April 2023. Mit einer Frischzellenkur für Shakespeares Dänenprinzen verabschiedet sich Bettina Bruinier als Schauspieldirektorin aus Saarbrücken – und lässt von rasanten Action-Szenen über einen düsteren Horrorfilm-Soundtrack bis zur Königshaus-Berichterstattung im Sportkommentar-Stil nichts aus.

Von Katharina Kovalkov 

"Hamlet" in der Regie von Bettina Bruinier am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken © Astrid Karger

15. April 2023. "Sein oder Nichtsein?" Diese Frage hallt nun seit vier Jahrhunderten über die Theaterbühnen dieser Welt. Und damit auch das "Drama aller Dramen": William Shakespeares "Hamlet" zu inszenieren, gehört bis heute zu den Königsdisziplinen jedes Schauspielhauses, den Titelhelden zu spielen zu den großen Herausforderungen für Schauspieler.

Ein König (Bernd Geiling) wird ermordet – vom eigenen Bruder, der sich habgierig Amt und Witwe des Verstorbenen aneignet. Als Geist sucht der König seinen Sohn, den Prinzen und übergangenen Thronfolger Hamlet, heim und beschwört ihn, sich für den Mord zu rächen. Die auferlegte Last treibt den Sohn immer tiefer in den Wahnsinn und alle Beteiligten immer weiter ins Unglück. Bis es zum fatalen Duell kommt zwischen dem halluzinierenden Prinzen und dessen heimtückischem Onkel. Am Ende – wie so oft bei Shakespeare – sind nicht nur die Duellanten tot. Dass sich die scheidende Schauspieldirektorin Bettina Bruinier, die zum Herbst ans Tiroler Landestheater Innsbruck wechselt, für ihren Abschied vom Staatstheater ausgerechnet an diesen Klassiker der Weltliteratur gewagt hat, zeugt von Courage – ebenso wie die inszenatorische Frischzellenkur, die sie ihm verpasst.

Getrennte Welten

Die Bühne eine nahezu leere, weiße und hell erleuchtete Fläche. Keine Requisiten, keine atmosphärische Dekoration. Nur einige Stühle, die im Verlauf des Stücks des Öfteren ihre Positionen wechseln werden – und auch mal durch die Luft fliegen. Noch bevor der Saal abgedunkelt wird, treten die Schauspieler in einer Linie vor das Publikum und blicken sich bedeutungsschwer an. Und noch ehe das Stück beginnt, wird der Vorhang geschlossen – sozusagen. Denn tatsächlich wird er zur erweiterten Bühne, zu einer Leinwand für Videoprojektionen, die zeigen, was sich im Hintergrund abspielt und den Akteuren tief ins Gesicht zoomen.

auf der Projektion/ hinterm Vorhang: Michael Wischniowski (Hamlet) und Jan Hutter (Rosencrantz); vorn auf den Stühlen: Sébastien Jacobi (König Claudius) und Gaby Pochert (Gertrud) | Foto: Astrid KargerHinterm Gaze-Vorhang geht`s weiter: Michael Wischniowski als Hamlet und Jan Hutter als Rosencrantz in der Projektion, davor Sébastien Jacobi und Gaby Pochert als Claudius und Gertrud © Astrid Karger

Doch es sind die Schauspieler, die Bruiniers dynamische Neuinszenierung vorantreiben. Sébastien Jacobi als – qua Brudermord – Neu-König Claudius ist so herrlich zwielichtig und exzentrisch, dass es großen Spaß macht, ihm beim Intrigieren zuzuschauen. Gaby Pochert als distanzierte und erratische Königin Gertrud gelingt der Spagat zwischen unnahbarer Familien-Autorität und verzweifelter Mutter bestens. Jan Hutter in seiner Doppelrolle als Staatsratssohn Laertes und Hamlets naiver Jugendfreund Rosencrantz bringt die wenigen komödiantischen Momente ins Spiel. Und Anna Jörgens als zunehmend desillusionierte und vom Wahnsinn befallene Ophelia erweckt in jeder Szene mehr Mitleid.

Mit Fäusten gegen die Mitmenschen

Doch es ist ohne Frage Michael Wischniowski in der Rolle des Prinzen Hamlet, der das Stück trägt. Er schont sich nicht in seiner Darbietung und quält sich durch Trauer, Depression und Weltschmerz: "Gott, wie öde, schal, flach und ganz ohne Nutzen erscheinen mir die Dinge dieser Welt!" Er wandelt empathisch zwischen Todessehnsucht und Todesangst, zwischen Schuldgefühlen und Rachegelüsten, zwischen Realität und Wahn – indem er mit Degen, Fäusten und Wasserpistolen wütet. Und doch: Wenn Hamlet völlig überfordert in den Saal ruft: "Was ist der Mensch?", dann fällt es in Zeiten von Kriegen und Krisen auch denen schwer, eine plausible Antwort zu finden, die bei klarem Verstand sind.

Bettina Bruinier ist eine mutige Inszenierung gelungen, trotz viel Dichte und Nähe zur Vorlage. In einer Szene des zunehmenden Wahnsinns zieht sich Wischniowski die Hose herunter und hält mit nacktem Penis den "Flötenmonolog" vor Rosencrantz. Da ist leichtes Kichern von den jungen Zuschauern zu vernehmen, unbehagliches Räuspern von den älteren. Eine Szene, die den Emotionen buchstäblich die Kleider vom Leib reißt.

Ensemble | Foto: Astrid KargerStets unter Beobachtung: Die dänischen Königshaus-Tragödien werden medial ausgeschachtet © Astrid Karger

Auch sonst nimmt sich Bruinier einige Freiheiten heraus. Zum Beispiel wird aus dem Staatsrat Polonius eine Frau – unverfroren und sarkastisch gespielt von Verena Bukal. Und statt eines fast schon sinnbildhaften Totenschädels hält Hamlet immer wieder ein Smartphone in der Hand, zu dem er spricht. Die Tragödien im dänischen Königshaus werden nämlich medial ausgeschlachtet. Horatio (Gregor Trakis), Hamlets Freund, gibt den Fernsehberichterstatter, der das Geschehen innerhalb der Adelsfamilie für das Publikum zusammenfasst und durchmoderiert – ähnlich eines Kommentators bei einem Fußballspiel.

Horrorfilm-Soundtrack

So wird auch das Finale sportlich mit einem Fechtduell besiegelt. Der festliche Königshof aus Shakespeares Stück verwandelt sich in eine Wettkampf-Arena – inklusive echter Fechtanzüge. Einige Texte und Schlüsselmonologe werden dabei gestrichen. Die Ereignisse sprechen für sich, umrahmt von einem beklemmenden Soundtrack, der Horrorfilm-ähnliche Züge hat – hier ein Lob an für die Musik an David Rimsky-Korsakow.

Die zweite Hälfte der Inszenierung verliert sich etwas in einem Aufeinanderstapeln von Action-Sequenzen. Aber letztendlich passt auch dies in das rasante Tempo und die visuelle Berieselungssucht der Jetztzeit. "Der Rest ist Schweigen" – und Applaus für das Ensemble.

Hamlet
von William Shakespeare
Regie: Bettina Bruinier, Bühne: Volker Thiele, Kostüme: Justina Klimczyk, Musik: David Rimsky-Korsakow, Video: Grigory Shklyar
Dramaturgie: Horst Busch
Mit: Michael Wischniowski, Sébastien Jacobi, Bernd Geiling, Gaby Pochert, Verena Bukal, Jan Hutter, Anna Jörgens, Gregor Trakis sowie der Statisterie des Saarländischen Staatstheaters
Premiere am 14. April 2023
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.staatstheater.saarland.de

 

Kritikenrundschau

Bettina Bruinier habe mit diesem "Hamlet" einen für sie ungewohnten Ton angeschlagen, schreibt Cathrin Elss-Seringhaus in der Saarbrücker Zeitung (17.4.23, €). "Sie liefert eine sparsame, pure, auf den Text konzentrierte Interpretation, geizt mit Gags und Witz und Mätzchen, hält sogar die atmosphärischen Aufladungen durch Musik knapp", schreibt die Kritikerin. Vor allem aber treffe Bruinier "eigenwillige Entscheidungen in der Personenzeichnung, die den vermeintlich bekannten Klassiker auffrischen", und selten habe man "Hamlet" zudem derart "stringent als Polit-Krimi" gesehen wie hier.  Ein "ganz großer Abend" gelinge der Regisseurin dennoch nicht, nach der Pause verpuffe "der packende Grundton", alles ziehe sich "arg zäh".

"Eine Inszenierung, die das Stück ernst nimmt und es in eine zeitlose Gegenwart holt", urteilt Anke Schaefer im Kulturradio SR2 und ergänzt: "Psychologisch überzeugende Figuren, mächtige Bilder". Das Fazit der Kritikerin: "Sehenswert."

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