Gekommen, um zu sterben

von Tobias Prüwer

Dresden, 9. November 2016. Die Bombe tickt. Sie werden zum Gehen aufgefordert, aber die Zuschauer bleiben im Rund sitzen. Sie haben ja gerade erst Platz genommen, starren auf die mysteriöse Frau in der Mitte. Ihre Hände wie zum Gebet auf den Tisch gelegt, das Gesicht unter einer schwarzen Hutkrempe verborgen, zählt sie ihren Countdown, während Bedienstete herumwuseln und jemand die Zuschauer warnt. Dann geht die Bombe hoch. Aus, stumm, still. Die Zeit hält Zeit an. In Slow-Motion schaut sich die Bedienung um, starrt leer. Das Publikum ist zum Sterben hierher in die kleine Bühne des Staatsschauspiels Dresden gekommen. Regisseurin Pınar Karabulut haut ihnen die Fetzen eines Dramas wie Schrapnelle um die Ohren.

Das Schicksal geht seinen Gang

Im Zentrum von Maya Arad Yasurs "Gott wartet an der Bushaltestelle" steht die Selbstmordattentäterin Amal, die ihren Vater, Bruder und letztlich alle Palästinenser rächen will und deshalb in einem Café in Haifa eine Bombe zündet. In der Rückblende fügt sich danach allmählich ihre Geschichte zusammen: Dem schwerkranken Vater bleiben die Medikamente verwehrt. Weil der Sohn Mitglied einer Terrorgruppe ist, verfügt die Familie nicht über die Genehmigung zum Grenzübertritt. Eine israelische Soldatin hat Mitleid. Sie lässt Amal passieren, das Schicksal geht seinen Gang und die Soldatin wird in die Verzweiflung getrieben.

GottWartet3 560 KrafftAngerer uWas ist da unterm Rock? (Henriette Hölzel, Laina Schwarz)  © Krafft Angerer

Ein klassischer Tragödienstoff wird hier ins Setting des sogenannten Nahostkonflikts gesetzt. Im Programmheft wird die Auseinandersetzung mit politischen Problemlagen als Antrieb der Autorin ausgewiesen. Die Kriterien eines Recherchetheaters legt man dennoch besser nicht an die Inszenierung an. Dann wäre sie nicht der Rede wert. Zu klischiert wird Amals vorgezeichneter Rachepfad auf die Bühne gebracht, zu holzschnittartig ist die Geschichte. Gerade in Hinblick auf die Frage, wie die Radikalisierung zur Terroristin verläuft, bleibt der Text blass. Es wird zwar erzählt, wie Amal nach dem Tod des Vaters durch Terroristen indoktriniert und zur Rache angestachelt wird, aber jener Prozess bleibt Behauptung ohne Einfühlung.

Alles im Spielfluss

Dabei funktioniert der Text ansonsten ziemlich gut. Keine Monologe, alles Geschehen wird dialogisch ausgehandelt. Dementsprechend flott fließen die einzelnen Szenen ineinander; auch wenn das im letzten Drittel etwas abebbt, wo die Erzählung zu detailreich ausfächert. Dennoch bleibt der Abend im Spielfluss. Diesen fördert auch das Bühnenbild von Ausstatterin Franziska Harm: Zwischen den zwei einander gegenübergestellten Tribünen nehmen zusätzlich Zuschauer an acht Tischen Platz. Die Café-Atmosphäre, es werden gar Kuchen und Schokobonbons gereicht, signalisiert: man ist mittendrin. Den leeren, schwarzen Bühnenraum füllen die fünf Darsteller und Darstellerinnen mit Leben.

 GottWartet2 560 KrafftAngerer uHenriette Hölzel, Loris Kubeng & Mathis Reinhardt © Krafft Angerer

Ausdrucksstark

Sie überzeugen gerade in ihrer Wandelbarkeit. Mit kleinen Kostümveränderungen springen sie in ihre Rollen und wieder heraus. Großartig gelingt das etwa bei einer Grenzkontrolle, in der die Leibesvisitation den Vater – ihm werden zur Durchsuchung die Kleider abgenommen – in einen Armeeoffizier transformiert. Am meisten Ausdruck aber ist in den Frauenrollen angelegt. Nicolas Streit als Amals Mutter übergeht zum Beispiel leichtfüßig die zum Teil hervortretenden parodistischen Nuancen. Ihre von den Umständen getriebene Tragödiengestalt Amal entwirft Henriette Hölzel mit viel Gefühl. Wahrlich auftrumpfen darf aber zuvorderst Laina Schwarz in ihrer Rolle als toughe und doch barmherzige Soldatin, die sie zunächst mit militärischem Zack und später als zerbrochene Obdachlosenfigur spielt.

Die Darsteller sind überall und nirgends, so dass das manchmal etwas bemüht wirkende Einbeziehen der Zuschauer in die tödliche Caféhausatmosphäre – eine Cola hier, ein direktes Ansprechen dort – weggelächelt werden kann. Vom starken Anfang an spannt das ansehnliche Kammerspiel über manch beklemmenden Moment hin einen Bogen zum ebenso überzeugenden Schlussbild. Amal überquert die Grenze, leiser werdend fleht die Soldatin: "Stehen bleiben!" Das Licht erlischt, die Zuschauer sind auf sich geworfen.

 

Gott wartet an der Haltestelle אלוהים מחכה בתחנה
von Maya Arad Yasur, Deutsch von Matthias Naumann
Deutsche Erstaufführung
Regie: Pınar Karabulut, Bühne und Kostüm: Franziska Harm, Musik: Daniel Murena, Licht: Rolf Pazek, Dramaturgie: Julia Weinreich.
Mit: Henriette Hölzel, Laina Schwarz, Mathis Reinhardt, Loris Kubeng, Nicolas Streit.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

"30 Opfer. Die Täterin steht fest. Doch wer trägt die Schuld?  Klar: Eine simple Lösung gibt es nicht", schreibt Sebastian Thiele in der Sächsischen Zeitung (12.12.2016). Auf mehreren Erzählebenen entfalte sich die Attentatsgeschichte. Und "von Beginn an bezieht man die Zuschauer ein. Im Befehlston werden Plätze zugewiesen. Alle gehorchen. Einige finden sich an Tischen auf der Bühne wieder." Sperrige, befremdliche Elektronikteppiche sorgen unterschwellig für Unbehagen. Fazit: "Eine starke Sogwirkung geht von der Erzählweise der Regisseurin Pinar Karabalut aus. Zwischen den einzelnen Handlungsfetzen werden die Kernfragen eines universalen menschlichen Dilemmas sichtbar: Wie können aus normalen Menschen Terroristen werden?"

Stefan Petraschewsky findet auf MDR Kultur (12.12.2016), dass das Stück erstmal ganz schön raffiniert gemacht sei. Das Problem sei die hier die Regie. Und die Schauspieler. "Die Regisseurin Pinar Karabulut versucht die ganze Inszenierung wirklich wie eine Probe aussehen zu lassen. Mit viel Improvisation." Diese Improvisations-Ästhetik komme ganz groß ins Spiel. Alle müssen sich permanent umziehen. Auf offener Bühne. "Der alte Vater bekommt ein Jacket. Der Taxifahrer ein Basecap. Aber wenn dann zum Jackett für den arabischen Vater auch noch eingebeugter Rücken und ein dezent gemeintes Humpeln dazukommt. Dann ist das schnell eine Karikatur - um es deutlich zu sagen: Schmierentheater." Das sei unsensibel, anstatt sich wirklich mit den Motiven und Ursachen auseinanderzusetzen. 

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