Dunkle Kiste aus Hitlerdeutschland

24. Februar 2023. Was wäre, wenn Hitlerdeutschland den Weltkrieg gewonnen hätte und nun über Europa herrschte? Robert Harris spielt das Gedankenexperiment in seinem Krimi "Vaterland" durch. Claudia Bauer bringt den Bestseller in Dresden auf die Bühne.

Von Tobias Prüwer

Robert Harris' "Vaterland" in der Regie von Claudia Bauer in Dresden © Sebastian Hoppe

24. Februar 2023. Verhörlampen gleißen am Rande auf. Inmitten der leeren Bühne kreiselt ein großer schwarzer Kubus. Offene Fenster geben manchmal Einblicke in ihn, zumeist aber wird das Innenleben mit Livekamera-Bildern nach außen projiziert. So blickt man fragmentiert in die dunkle Kiste; ein Sinnbild für die Untersuchung der Vergangenheit.

Geschichte als Black Box: Was wäre, wenn Hitlerdeutschland den Weltkrieg gewonnen hätte und zur Großmacht aufgestiegen wäre? Mit dieser Frage spielt Robert Harris im Roman "Vaterland". Claudia Bauer hat diesen Hybrid aus Krimi und Alternativgeschichte in ein atmosphärisch-dichtes Bühnenformat gebracht. Die Holocaust-Thematik, die Verantwortung des Einzelnen und der vermeintlich zwingende Verlauf der Geschichte lässt der unterhaltsame Abend allerdings unterbelichtet.

Mord zum Führergeburtstag

Man schreibt das Jahr 1964. Das Deutsche Reich ist Atommacht und Herr über Europa. Im April, wenige Tage vor Hitlers 75. Geburtstag, wird die Leiche eines hochrangigen NS-Funktionärs gefunden. Kripo-Sturmbannführer Xaver März nimmt die Ermittlungen auf. Sofort kommt ihm die Gestapo in die Quere, bald gerät er in ihr Visier. Ihm wird klar, dass hier eine Politik-Intrige von ganz oben geführt wird, als er auf Dokumente über den Holocaust stößt. Denn die "Endlösung", die Vernichtung der europäischen Juden, hat es offiziell nie gegeben. Zusammen mit der amerikanischen Journalistin Charlotte Maguire will er diese Beweise in die Schweiz schmuggeln, damit die Weltöffentlichkeit die Wahrheit erfährt.

Vaterland1 805 Sebastian Hoppe uSchwierige Obduktion: das Dresdner Ensemble in Kostümen von Vanessa Rust © Sebastian Hoppe

Dem Krimi-Sujet des Originals bleibt Regisseurin Claudia Bauer treu, hält sich weitestgehend an dessen Text und Struktur. Mit einer Reiseführerin, die die Giga-Neubauten der Reichs-Hauptstadt Berlin lobt, wird man in die Alternativgeschichte anno 1964 katapultiert.

Danach folgt der Abend der Krimihandlung. Kurz wird es gespenstisch aktuell, wenn die Krim und Sewastopol zu deutschem Reichsgebiet erklärt werden. Damit hält sich die Inszenierung aber nicht auf, wie auch keine weiteren Parallelen zur Gegenwart – Stichwort: Atommacht, Spuren von Verbrechen tilgen – gezogen werden. Kann sich das Publikum selbst denken.

Hier geht es ums Kriminalisieren, wie das bei "Pfarrer Braun" heißt. Das Personal agiert dabei zunächst wie auf der Kabarettbühne und touchiert Nazi-Darstellungen, wie man sie aus Satiren à la "Iron Sky" kennt.

Körperpanzer und menschliche Zwischentöne

Mit Masken, blond und blauäugig, treten namenlose Figuren auf. Als bester Nebenrollendarsteller zeigt sich Ahmad Mesgarha, der mal berlinernde Stadtführerin ist, mal Lieder trällert oder als Präsident Kennedy im Fernsehen falsches Englisch knödelt.

Varianten, wie man sich in einer Diktatur einrichten kann, führen die Hauptdarstellenden vor Augen. Da ist ein Kriminaldirektor als Zyniker und Musenfreund (Tilo Krügel). März' Kollege Jäger (Betty Freudenberg) leistet gehorsam Dienst und verliert sich sonst in besinnungsloser Völlerei. Der hundertprozentig überzeugte Gestapo-Bluthund (Viktor Tremmel) braucht keinerlei Ablenkung, solange er im soldatischen Körperpanzer Männerfantasien ausleben kann. Während alle im Spiel überzeugen, ist nur Nadja Stübiger erlaubt, ganz Mensch, also Xaver März, zu sein. Sie ist die einzige Person ohne Maskerade, sie äußert (erst) leise Zweifel am System, folgt einer inneren Wahrheitssuche. Auch als nach der Pause der Kabarettanklang aller Rollen verfliegt, die Sache ernster wird, bildet Stübiger das menschliche Zentrum.

Dräuende Stimmung

Dicht ist die Atmosphäre in diesem Krimi, fast durchweg erklingt eine akustische Drohkulisse, erscheinen Dinge im Zwielicht. Neben Masken greift die Regisseurin wie oft auf besagte Handkamera- und Innenraumprojektionen zurück. Letztere hat sie in Leipzig mit "Splendid's" oder Metropolis zur Perfektion gebracht. So wird der große Kubus, die Black Box auf der Bühne, zu verschiedenen Tatorten, zum Archiv, Rückzugsort und Folterkeller. Dass man sich dabei auf Einzelausschnitte konzentrieren muss, steigert das Rätselhafte und dadurch die Spannung. Diese bleibt auch in den anderen Szenen fast bis zum Schluss erhalten. Aktenvergleiche, Spurensuchen, alle Kriminalfeinheiten, die einen Thriller-Roman ausmachen, gehen natürlich verloren. Aber die dräuende Grundstimmung gleicht das aus.

Vaterland4 805 Sebastian Hoppe uIn der Black Box einer alternativen Geschichte: Marin Blülle und Viktor Tremmel © Sebastian Hoppe

Ein weitestgehender Verzicht auf besondere Möglichkeiten des Theaters – Gleichzeitigkeit, Ineinander-Schieben von Szenen – ergibt sich aus der zu linearen Erzählung. Das rächt sich am Ende, das in die Länge geht. Auf einer Autofahrt (mit überraschender Krimi-Wendung, die hier nicht verraten werden soll) sieht man vorn die Projektionen der Figuren und zeitgleich im Hintergrund, wie beide vorm Monitor mit Autobahnfahrt-Clip abgefilmt werden. Da gerät die Verdopplung zum bloßen Effekt.

Als der Kubus kreiselt, Fragmente von Holocaust-Berichten vorgelesen werden, wird das Entsetzliche zu wenig deutlich. Wie auch der eingestreute Monolog über die Darstellung des Undarstellbaren, die einzige Szene mit inhaltlicher Reflexion, nicht verfängt, weil sie zu sehr in den Kriminalfall eingebettet ist. Und schon hechtet der Abend weiter in der Handlung bis zum Schuss am Schluss. Robert Harris' Bestseller auf der Dresdner Bühne bietet gute Unterhaltung, zur Auseinandersetzung mit Politik und Geschichte wird die dunkle Krimi-Kiste aber nicht.

 

Vaterland
von Robert Harris
Aus dem Englischen von Hanswilhelm Haefs
Bühnenfassung von Claudia Bauer, Jörg Bochow und Lüder Wilcke
Regie: Claudia Bauer, Bühne: Andreas Auerbach, Kostüme: Vanessa Rust, Komposition und Sounddesign: Robert Lippok, Video: Jan Isaak Voges, Licht: Peter Lorenz, Dramaturgie: Lüder Wilcke.
Mit: Nadja Stübiger, Kaya Loewe, Ahmad Mesgarha, Marin Blülle, Betty Freudenberg, Viktor Tremmel, Yassin Trabelsi, Tilo Krügel, Live-Kamera: Julius Günzel / Christian Rabending, Live-Musik: Thomas Mahn.
Premiere: 23. Februar 2023
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

Kritikenrundschau

"Ein Deutschland von 1964, das den Holocaust immer noch leugnet, ist eine monströse Vorstellung, die auf der Bühne eigentlich einer viel unheimlicheren Atmosphäre bedürfte," so Eberhard Spreng in der Sendung "Kultur heute" vom Deutschlandfunk (24.2.2023). "Auch und gerade heute bleibt ja eine Frage zentral: Wie organisieren totalitäre Systeme die Routinen von Verdrängung und Realitätsverlust? Die Inszenierung streift diese Frage nur beiläufig, folgt dem Roman treu durch seine verworrene Crime-Story und findet dazu letztlich keine ästhetische Haltung. So bleibt auch das historische Spannungsfeld zwischen dem Schreckensbild einer unbeendeten Naziherrschaft und einem Europa von 2023, das sich russischen Imperial-Phantasien gegenüber sieht, erstaunlich energielos. Komisch: Was ein Stück der Stunde sein müsste kommt einem wie Schnee von gestern vor. So bleiben nur ein kraftvolles, gelegentlich kraftmeierndes Ensemble und ein paar wirkungsvolle Bilder."

Von gut gemachtem, unterhaltsamem Theater spricht Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (25.2.2023). "Es gibt erfreuliche Figurenzeichnungen, allen voran Nadja Stübingers März, der zunehmend menschlicher, weicher, gebrochener wird." Der Abend sei "auf filmtheatralische Weise" sehr versiert und eindrücklich am Plot entlang erzählt, nur sollte man keine Engführung mit der Diktatur Putins und dem gegenwärtigen Krieg erwarten. "Diese Art der Überhöhung oder Vergegenwärtigung, überhaupt: den Sprung auf eine Metaebene, schafft die Inszenierung nicht. Zwar räsoniert sie einmal über 'die Darstellung des Schrecklichen', und wenn die Gräuel des Holocausts durch Akteneinsicht aufgedeckt werden, ist das als Stimmen- und Video-Polyphonie rund um den schwarzen Kasten feinfühlig inszeniert. Doch die Erzählung als solche bleibt eine abgeschlossene Kiste."

Stefan Petraschewsky von MDR Kultur (24.02.2023) lobt die "beeindruckenden schauspielerischen Leistungen" von Nadja Stübiger und Yassin Trabelsi. Bis auf ein paar Längen sei der Abend sehr, sehr sehenswert.

Kommentare  
Vaterland, Dresden: Leipzigs Zweitbühne?
Bauers Inszenierung eine Enttäuschung. Habe ich in Leipzig von ihr schon viel besser und eindrücklicher gesehen. Frage: Ist Dresden jetzt Leipzigs Zweitbühne (Bauer, Plöttner, Hinrichs, Krügel...)?
Vaterland, Dresden: Überladen
Ich bin kurz vor Schluss gegangen. Im Saal waren viele Lücken schon bevor ich ging. Ein schlecht gespielter und mit Regiemätzchen überladener Abend ist VATERLAND. Warum Claudia Bauer immer das Gleiche inszenieren muss, ist mir ein Rätsel. Ihre bunten Kostüme, aufgesetzte Spielformen und mal weniger hier meist mehr schlecht spielenden Schauspieler:Innen, wackeligen Livevideos. Ich habe es mindestens zweimal zu viel gesehen und brauche eine Claudia Bauer Pause. Gott sein Dank nächstes Jahr keine weitere Arbeit hier.
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