Der Horror trägt Blau

25. Oktober 2024. Im Sommer hat ein neues Team die Leitung des Theaterhauses Jena übernommen. Zum Auftakt lädt Azeret Koua zur Besichtigung eines Albtraums, Kannibalismus inklusive. Die größte Gefahr droht hier aber aus der Politik.

Von Marlene Drexler

"Rhapsody" von Azeret Koua in Jena © Joachim Dette

25. Okober 2024. Eigentlich ist das eine typische Clowns-Nummer: Hinten wird umgebaut und vorne hat jemand die Aufgabe, die kurze Pause zu überbrücken. Nun hat diese Person leider noch nicht mal eine wirkliche Nummer vorbereitet. Zumindest scheinbar. In echt ist das natürlich eine humoristische Königsdisziplin, an der sich an diesem Abend Saba Hosseini versuchen darf.

Nur mit einem Mikrofon bewaffnet, muss sie das Publikum eine ziemliche Weile bei Laune halten. Sie singt, schreit, beißt ins Mikro und hält es auch Zuschauern unter die Nase – mit der impliziten Aufforderung, Songpassagen zu übernehmen. Auch das ist klassische Clowns-Regel: Immer schön die anderen mit ins Lächerliche ziehen! Mit den strichdünn aufgemalten hochgezogenen Augenbrauen und den silberfarben leuchtenden Zähnen – dazu im Kontrast eine schulmädchenhafte Kleidung – ist Hosseini ganz eindeutig: ein ausgewachsener Gruselclown.

Grüße aus dem Abgrund

Mit der Produktion "Rhapsody" beginnt nicht nur die Spielzeit in Jena, es ist auch die erste Premiere für das neue Team am Theaterhaus. Die leitende Regisseurin Azeret Koua – in den USA geboren und dort, in Deutschland und China aufgewachsen – stellt sich mit der Uraufführung eines selbstverfassten Texts vor, der die Zuschauer in einen düsteren Abgrund stößt. Wenn nicht gerade ein Gruselclown dem Publikum auf die Pelle rückt, wird eine Frau auf dem großen verspiegelten Tisch in der Mitte der Bühne getötet und verspeist.

Es könnte gefährlich werden: Ioana Nițulescu am Mikrophon © Joachim Dette

Der Ankündigungstext von "Rhapsody" ist mit so vielen Schlagwörtern gespickt, dass einem beim Lesen schon fast etwas schwindelig wird: amerikanische Musik, Surrealismus, Fremdenhass, Inflation, Multikrisen und einiges mehr – verpackt in einen surrealistischen Fiebertraum. 90 Minuten ohne Pause. Da sollte es einem doch kaum langweilig werden!

Koua findet durchaus geeignete Mittel, den Fiebertraum atmosphärisch einzufangen. Zu Beginn ist eine schlafende Frau (Iman Tekle) zu sehen, die in die Fänge von mit krummen, überlangen Fingern ausgestatteten Händen gerät und von ihnen ins unkalkulierbare Unterbewusstsein gezogen wird. Es beginnt ein Medley aus Szenen, gespielt von einem fünfköpfigen Ensemble, in dem Figuren, Kostüme und Themen wild durcheinander fliegen. Mal geht es um Gott, mal um Familie, dann um Diskriminierung. Auch die immer wieder tänzerischen Bewegungen der Spielerinnen und Spieler entrücken die Geschehnisse der Realität.

Willkür dominiert

Den Dialogen jedoch fehlt es an Anbindung, die einzelnen, isolierten Szenen erschaffen weder Spannung noch konturierte Figuren. Sätze klingen oft wie willkürlich aneinandergereiht. Die Monologe vermögen mehr Emotionen zu transportieren – zumindest zum Teil. Hervorzuheben ist Iman Tekle, wie sie atemlos und überschwänglich berichtet, dass sie gerne ein Teletubby wäre, dumm, happy und rund. Der Hintergrund ist bitter: Für sie als Person of Color stehen die Telletubbies für eine durch rassistische Weltbilder unangreifbare Identität.

rhapsody 35 c joachim detteIm Abenteuerland: das Ensemble im Bühnenbild von Nicole Marianna Wytyczak © Joachim Dette

An anderen Stellen werden Pointen verweigert oder schlicht verpasst. Ein Beispiel: Das von Ioana Nițulescu lang ausgedehnte Aufsagen eines Witzes, in dem ein Rabbi, ein Priester und ein Imam gemeinsam in der Kneipe sind. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen unterbricht sie sich immer wieder selbst, spielt ein Unsichtbarer würde sie stören. Die ersehnte Auflösung des Witzes wird in der Szene am Ende weggenuschelt, keine Chance zu lachen. Auch die zu Beginn erwähnte Gruselclown-Perfomance von Saba Hosseini muss sich seine Lacher mühselig erarbeiten. Und das beim Premierenpublikum.

Für das Traum-Szenario mögen diese dramaturgischen Ungereimtheiten und Anti-Rhythmen sogar passend sein. Allein, es verhilft den Texten nicht zum Nachhallen. Etwas krampfhaft wirkt zudem der Versuch scheinbar unterschwellig AfD-Kritik einzuflechten: An einem Strand mit gutgelauntem Partypersonal kündigt sich ein Tsunami an, die "blaue Welle". Die Strandgänger wollen die Gefahr allerdings nicht wahrhaben, bis sie großen Schaden angerichtet hat. Eine Szene mit doch recht plattitüdenhaftem Subton.

Auch wenn die Ästhetik gelungen ist, bleibt der Abend letztlich zu viel in Äußerlichkeiten stecken. Und am Ende gilt, wie so oft nach einer traumreichen Nacht: wie gewonnen, so zerronnen.

 

Rhapsody
Regie und Text: Azeret Koua
Bühne und Video: Nicole Marianna Wytyczak, Kostüme und Maskenbild: Elizaweta Veprinskaja, Choreographie: Jasmin Avissar, Musik: Lukas Pergande, Dramaturgie: Josef Bäcker, Maske: Heike Lindemann, Regieassistenz: Thomas Schmale, Ausstattungsassistenz: Lenni Hofer.
Mit: Saba Hosseini, Ioana Nițulescu, Jonathan Perleth, Iman Tekle, Florian Thongsap Welsch.
Premiere am 24. Oktober 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterhaus-jena.de

Kritikenrundschau

Statt "leichte Kost zum Erstmal-Kennenlernen, präsentiert Azeret Koua ein surrealistisches Stück, das Fragen aufwirft und viel Platz für individuelle Traumdeutungen lässt. Zusammenhanglos reist das Publikum durch neun Szenen, die als kurze Traumsequenzen aufploppen und in denen die Diskurse unserer Zeit abgearbeitet werden. Es geht um Gewalt im Namen des Glaubens, um Fremdenhass, Ausgrenzung, Selbstzweifel, Homophobie, um individuelle Ängste und Zweifel, die sich in unsere Träume schleichen", berichtet Ulrike Kern in der Thüringer Allgemeinen (26.10.2024). Visuell hat der Abend die Kritikerin beeindruckt: Bühnenbildnerin und Videodesignerin Nicole Marianna Wytyczak "schafft sensationell starke, bunte Bilder mit großer Liebe zu Farbe und Details".

"Die Ästhetik hat aktuell viel mit Popkultur, jeder Menge Spaß an Horror und Surrealismus zu tun – aber auch mit ausgeprägtem Handwerk und Lust an gutem Schauspiel", erklärt Wolfgang Schilling im MDR (25.10.2024). Die Akteure "spielen zwar einen irren Fiebertraum, aber sie bleiben dabei immer Herrinnen und Herren des Geschehens. Weil sie, von der Regie gut geführt, immer genau wissen, was sie da tun und überzeugt sind von dem, was sie da spielen, singen und teilweise auch tanzen." Im Ganzen: "spannendes Theater. So kann es gerne weitergehen am Theaterhaus in Jena."

Kommentar schreiben