Ende einer Verhandlung - Staatstheater Meiningen
Die Mitschuld des Geschworenen
28. September 2024. Die Autorin Anna Gmeyner wird in den letzten Jahren posthum fürs Theater wiederentdeckt – fast 100 Jahre nach seiner Entstehung inszeniert Frank Behnke in Meiningen die Uraufführung ihres Gerichtsdramas "Ende einer Verhandlung". Eine Geschworenenjury zerlegt sich – das Urteil des Kritikers trübt das keinesfalls.
Von Harald Raab
28. September 2024. Aufklärung und Moderne haben der Menschheit einen Floh ins Ohr gesetzt: Fortschreitende Rationalität und Schwarmintelligenz bereiten unaufhaltsam den Weg zum Wahren, Guten und Gerechten in der Gesellschaft. Das Staatstheater Meiningen macht die Probe aufs Exempel im Geist des postmodernen Zweifels. Ein scheinbar einfaches Setting, das zum Verwirrspiel wird, kennzeichnet das Gerichtsdrama "Ende einer Verhandlung" von Anna Gmeyner – 2022 im Nachlass der 1991 gestorbenen, in den letzten Jahren fürs Theater wiederentdeckten Autorin gefunden, wurde das auf Englisch geschriebene Stück jetzt in der Übersetzung von Amanda Lasker-Berlin in Meiningen uraufgeführt.
Aus drei Perspektiven mit abrupten Volten des Erzählfadens wird eine Geschichte zur Laborsituation für den Nachweis von Ambivalenz und Manipulierbarkeit menschlichen Verhaltens. Es geht um Fragen rund um Wahrheitsfindung, Liebe und Leidenschaft – oder was man dafür hält und doch nur Besitzanspruch auf Menschen ist.
Tödliches Ehedrama
Nichts ist im Lot in dieser Geschichte, nichts, wie es scheint. Und auch in der Inszenierung des Meininger Schauspieldirektors Frank Behnke: Schief der Bühnenboden, der Tisch mit den zwölf Stühlen für die Geschworenen. Schwarz und weiß die Wände. Ein Lichtband vom Bühnenrand quer durch den Raum und entlang der Decke imaginiert eine zweite, mögliche Handlungsebene. Drei Frauen und neun Männer als Versuchspersonen. Der Wahrheit und nichts als der Wahrheit verpflichtet. Sind auch sie Marionetten an den Strippen ihrer Vorurteile, ihrer Lebenserfahrungen? Wieviel Emotio statt Ratio?
Das Niveau des fiebrig-nervösen small talks der Jury-Riege in der ersten Runde reicht von Belanglosigkeit zu spießiger Gehässigkeit und dummdreister Anmache einiger Herren an eine attraktive Jurorin. Der Alte Gerichtsdiener, der schon viele Geschworenen-Jurys miterlebt hat, verzweifelt: "Und das sind die, die über ihre Mitmenschen richten sollen." Das ist der kleinkarierte Auftakt zu einer Tragödie klassischer Monströsität. Im zweiten Teil müssen die Geschworenen ein Urteil finden: Guilty or not guilty. Zehn der zwölf Geschworenen, wollen schnell nach Hause. Der Fall ist für sie sonnenklar. Mister Taylor hat seine Frau beim Blumenpflücken an der englischen Steilküste von einem Felsvorsprung in die Tiefe gestoßen: Mord aus Eifersucht. Zwei Zeugen haben es aus der Ferne gesehen. Aber was haben sie wirklich mitbekommen?
Der Geschworene gesteht
Der Geschworene Dunn plädiert auf Totschlag statt Mord als Fazit der Untersuchung des totalen Ehekriegs. Der Geschworene Smith gar auf Freispruch. Empörung der anderen Jury-Mitglieder, bis er sein persönliches Geheimnis lüftet. Im dritten Teil wird die sehr ähnliche Geschichte von Smith in knappen Szenen erzählt. Beim Streit ist vor 30 Jahren seine Frau aus dem Fenster gestürzt. Er hat sich durch Flucht aus dem Gefängnis und Annahme einer neuen Identität der Verantwortung entzogen. Der erforderliche einstimmige Urteilsbeschluss ist perdu.
Während der schriftlichen Fixierung des Urteils platzt die Nachricht in die Geschworenensitzung: Mr. Taylor hat sich aus dem Fenster des Gerichtssaals gestürzt und auf der Totenbahre gestanden: Er habe seine Frau aus Eifersucht umgebracht. Eine vogelwilde Story in melodramatisch-sinistrer Manier à la Agatha Christie. Wie bekommt man da den Bogen zur zeitgemäßen Glaubwürdigkeit hin?
Aktuelle Grundkonflikte
Auf ein sich schnell drehendes Kaleidoskop der Charakterbilder setzt Regisseur Franz Behnke. Ihm gelingt so ein spannendes Psychodrama. Er zerlegt den Stoff in einen Schlagabtausch dynamischer Gruppenprozesse. Jeder gegen jeden und alle gegen einen. Nicht minder beruht der Drive des Stücks auf der Sprache, nicht nur auf deren expressiv verdichtetem Inhalt, sondern vor allem auf ihrem differenzierten Gebrauch, ihrer Melodie, ihrer Kraft. Geradezu perfekt gelingt es Jürgen Hartmann mit seiner Gestaltung der Figur des Mr. Smith, das herauszuarbeiten. Seine Sprachsouveränität beherrscht die Szenen. Ebenbürtig an seiner Seite Mia Antonia Dressler mit den Frauenfiguren Cadell/Mary – Opfer und provokante Akteurin. Einige andere des Ensembles verwechseln teilweise Lautstärke mit Intensität. Toxische Männlichkeit und nicht weniger toxische Weiblichkeit werden passagenweise zur klamottigen Farce. Weniger Tempo und dafür aasige Hinterhältigkeit bürgerlicher Kommunikationsmuster wäre beeindruckender. Schade für die ansonsten beachtliche Bühnenleistung.
Denn in dem Stück werden Grundkonflikte thematisiert, die heute so aktuell sind wie in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, als es geschrieben wurde. Die österreichisch-jüdische Romanautorin und Dramatikerin Anna Gmeyner (1902 - 1991) hat ihr Theaterhandwerk bei Erwin Piscator in Berlin gelernt. Sie lebte nach ihrer Flucht vor den Nazis in England. Gmeyner war eine namhafte Autorin der deutschen Exilliteratur, doch geriet sie in Vergessenheit und wurde erst in den letzten Jahren fürs Theater wiederentdeckt. Ihr bekanntestes Stück, "Automatenbüffet", 1933 am Züricher Schauspielhaus mit Therese Giehse uraufgeführt, wurde 2021 in Barbara Freys Inszenierung vom Burgtheater Wien zum Theatertreffen eingeladen, am Theater Oberhausen wurde 2022 ihr Stück "Welt überfüllt" inszeniert. Das experimentierfreudige Staatstheater Meiningen arbeitet mit seiner neuen Produktion – übrigens die erste Spielzeiteröffnung in Meiningen mit dem Stück einer Autorin – weiter an der überfälligen Kanonisierung Gmeyners und zeigt: Auch mit einem guten alten Stück kann man (weiterhin) aktuelle Probleme wirkungsvoll in Szene setzen.
Ende einer Verhandlung
von Anna Gmeyner
Uraufführung
Regie: Frank Behnke, Bühne, Kostüme: Christian Rinke, Musik: Christopher Brandt, Dramaturgie: Deborah Ziegler.
Mit: Jürgen Hartmann, Matthis Heinrich, Ulrike Knobloch, Erik Studte, Nicola Lembach, Rico Strempel, Leonard Pfeiffer, Michael Schrodt, Mia Antonia Dressler, Gunnar Blume, Jan Wenglarz, Florian Graf, David Gerlach.
Premiere am 27. September 2024
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten
Kritikenrundschau
"Dieser verzwickte Dreiakter führt uns im Bemühen um Wahrheit und nichts als die Wahrheit wiederholt auf falsche Fährten", schreibt Michael Helbling in der Thüringer Allgemeine (1.10.2024). "Gmeyner spielte hier, wie in anderen Stücken auch, mit Täter-Opfer-Perspektiven innerhalb ihrer Figuren." Regisseur Frank Behnke blicke , sehr genau auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede binnen eines knappen Jahrhunderts. Das heiße und stickige Geschworenen-Zimmer stehe schräg auf der Bühne: "Gegen das vermeintlich geradlinige Denken und Handeln der Figuren." Behnke gelinge das glänzend mit seinem Ensemble als Abbild einer Gesellschaft. "Er will aber auch jedem seinen Auftritt, seine Nummer gönnen, die oft zu theatral ausfällt: zu virtuos, zu kulinarisch. Er etabliert völlig zu Recht das Komödiantische dieser Gruppendynamik, provoziert aber auch falsche Lacher."
"Das Sujet ist vertraut", so Joachim Lange in der Freien Presse (1.10.2024). "Das Ganze funktioniert in seiner Vielschichtigkeit weil es halt ein 'richtiges' Stück ist." Die Suche nach den Motiven und möglichen Erklärungen werde zum Katalysator einer Selbstbefragung. "Für das Ensemble ist das eine Steilvorlage für jeden Einzelnen, um zu zeigen, was er drauf hat." Neben der Fragen nach Schuld oder Mitschuld, dem Ausloten der Folgen einer offensiv gepflegten toxischen Männlichkeit, "ist das Wechselspiel dieser Geschworenen pure Theaterfreude!"
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