Liebe in Zeiten der Lieblosigkeit

5. Oktober 2024. Thomas Freyer entwirft mit "Dumme Jahre" eine panoramatische ostdeutsche Familiengeschichte: von der DDR bis in die Nachwendezeit. Und Tilmann Köhler bringt sie pünktlich zum Tag der Deutschen Einheit heraus. Ein berückender Abend über ein Leben in Anpassung an Härten.

Von Harald Raab

"Dumme Jahre" von Thomas Freyer in der Regie von Tilmann Köhler in Weimar © Candy Welz

5. Oktober 2024. Nichts ist vergessen. Alles ist da. Eine quälend permanente Gegenwart ohne Vergangenheit im milden Schein des Verdrängens und ohne stärkendes Morgenrot einer Zukunft. Erinnern ist ein sehr unzuverlässiger Begleiter.

"Dumme Jahre" nennt Thomas Freyer sein neues Stück zu seinem andauernden Thema. Nach dem Tag der deutschen Einheit gibt er am Deutschen Nationaltheater Weimar Menschen Gesicht und Stimme, die sich immer noch vereinnahmt fühlen, als Partner zweiter Klasse. Thomas Freyer, geboren in Gera/Thüringen, ist einer der führenden Theaterautoren mit Ostexpertise. Und legt auch hier seine Sonde zur Begutachtung der Verhältnisse im Osten an.

Von der Zerrissenheit der Menschen

Die Bühne, in kaltes Licht getaucht wie in einem Anatomiehörsaal: links und rechts aufsteigenden Plätze fürs Publikum, unten ein langer Tisch, mal mit, mal ohne rote Decke (Bühne: Karoly Risz). An, auf und um den Tisch herum: die Vivisektion einer Familiengeschichte. Kleiner Leute Leben. Wer wollte es verachten, geringschätzen gar? Birgt das Thema des Stücks doch einen Fetzen der Erklärung, warum im Osten die Uhren so ganz anders gehen.

Freyers Familienaufstellung liefert keinen Blick von außen und von oben. Er geht mitten hinein in die Zerrissenheit der Menschen. Keine Welterklärung, sondern leise Töne quälender Schuld, die keine war, sondern Ohnmacht und Hilflosigkeit, sein Leben individuell planen und gestalten zu können. Von hier aus konnte nichts naht- und narbenlos zusammenwachsen, was angeblich zusammengehören soll.

dumme jahre 3 foto candy welzAnna Windmüller als eine der drei Spielerinnen der Regine © Candy Welz

Ein weiter Lebensbogen wird gespannt. Damit Zuschauer und Zuschauerinnen von den abrupten Sprüngen des irrlichternden Erzähltempos nicht völlig überfordert sind, gibt eine mannshohe digitale Zeitansage. Aha, das war 1968 und das 1989 und das 2023.

Endzeit und Fall der DDR im Mustopf des Paares Wolfgang und Regine. 50 Jahre ihres Lebens – Vor- und Nachwendezeit – werden umrissen: immer die gleichen Ängste, Sehnsüchte und Enttäuschungen. Arrangieren mit dem System. Auch wenn es der Lauf der Geschichte längst weggespült hat, jeder, jede muss mit den Folgen leben. Suche nach einem Zipfelchen Glück inklusive.

Und das Rumerziehen am Nachwuchs: Sohn Daniel und Tochter Katja, für die auch alles anders geworden ist mit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit – von wegen. Was können schon die Jungen von den Alten lernen? Jede Generation muss ihre eigenen Fehler machen. Ihr Motto: Nur weg von hier!

Der Mensch als Treibgut

Chance ergriffen oder verpasst? Vielleicht gab es die auch gar nicht. Wie man's nimmt. Das richtige Leben im falschen probiert. Damals, als man sich auf dem Handtuch am Badesee näherkam und heute im Ehetrott über die Würdelosigkeit von Alzheimer bis zum Tod von Wolfgang. Er bei der jungen Gemeinde – als Pfarrersohn eingeordnet, obwohl sein Vater Kraftfahrer war. Sie bei der FDJ – real existierender Sozialismus mit Sauerkraut und Thüringer Klößen oder Spinat und Kartoffeln. Mit Stasi und Mauer hatte man nichts zu schaffen. Mit sozialistischer Planerfüllung schon eher. Da wird der Mensch zum Treibgut, wenn alles, was mal Sicherheit gegeben hat, den Bach runtergegangen ist.

Sehen so die Sieger der sozialistischen Fortschrittsgeschichte aus: Brüder zur Sonne, zur Freiheit? Was bleibt dann noch an Würde, Selbstachtung und Orientierung bei Arbeitslosigkeit und dem Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden? Rübermachen in den goldenen Westen oder Frust schieben bei Bier und Korn in der entleerten Heimat. Anpassung als Lebensstrategie. Und im Übrigen: Auch DDR-Bürger hatten in der Mehrzahl eine NS-Vergangenheit.

dumme jahre 1 foto candy welzSchmerzhaft verbunden: Nadja Robiné, Raika Nicolai und Anna Windmüller spielen Regine und ihre Tochter Katja © Candy Welz

Uraufführungsregisseur Tilmann Köhler, ein enger Vertrauter des Autors und seines Werks, lässt die Erinnerungsschichten zu einer nicht enden wollenden Gegenwart verschmelzen. Er fragt nach Liebe in Zeiten der Lieblosigkeit. Wolfgang und Regine sind nach jahrelanger Trennung auch wiedervereint.

Köhler baut subtil aus vielen Puzzlestücken ein Psychogramm ostdeutschen Lebens zwischen Maloche, Anpassung an sozialistische Gesellschaftsnormen und schrecklich verlogenen Staatsideologien. Drahtseilakt zwischen Sein und Schein, Flüstern und Wegducken, Ignorieren – eine gespaltene Gesellschaft schizophrener Persönlichkeiten wächst so heran. Und mit dieser Vorbelastung in die Wiedervereinigung geworfen, die als feindliche Übernahme empfunden wird.

"Ich will mit niemandem abrechnen"

Der Autor und Köhler geben Regine eine dreifache Persönlichkeitsausprägung (gespielt von Raika Nicolai, Nadja Robiné und Anna Windmüller), lassen diese gegeneinander antreten bei der Suche nach dem, was war. Sie können sich über das Wie nicht immer einigen. Das dreifache Ich ist verstrickt in Vorwürfen und Schuldzuweisungen. Der Regisseur lässt zwischen Melancholie und Aufbegehren diese Geschichte entwickeln und gibt Raum für einen Blick zurück, auch aus ironischer Distanz.

Was macht man aus dieser Endlosschleife des Belanglosen, der ermüdenden Maloche zwischen Hoffen und Bangen? Autor und Regisseur bieten in kongenialer Einmütigkeit reichlich poetisch-realistische Orientierungspunkte, die vom Ensemble sensibel aufgegriffen und mit dramatischer Leichtigkeit realisiert werden. Die hohe Variationsbreite in Sprache und Aktion hilft dem Stück über so manche Klippe der Textlastigkeit, taucht es in eine spielerische Atmosphäre.

Verstehen, warum alles ist, wie es ist, darum geht es. "Ich will mit niemandem abrechnen", sagt Sohn Daniel zu seinen Eltern. Das ist auch der Vorsatz Thomas Freyers und aller, die diese Produktion zur deutsch-deutschen Einheit, die immer noch keine ist, realisiert haben. Walking in my Shoes. Mit diesem Song von Depeche Mode wird das Publikum an den von ihm geforderten gedanklichen Beitrag erinnert.

 

Dumme Jahre
von Thomas Freyer
Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüme: Susanne Uhl, Musik: Matthias Krieg, Dramaturgie: Lisa Evers.
Mit: Raika Nicolai, Nadja Robiné, Anna Windmüller, Philipp Otto, Fabian Hagen, Matthias Krieg (Musiker).
Uraufführung am 4. Oktober 2024 in der Redoute
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.nationaltheater-weimar.de

Kritikenrundschau

"Ein erinnerungswürdiger Abend über Erinnerung, ein liebenswürdiger Abend über Liebe. Und schlicht und einfach großartiges Theater", schwärmt Michael Helbing in der Thüringer Allgemeinen (7.10.2024). Das Stück verbinde poetische Monologe und prägnante Dialoge, es vereine Anklage und Verteidigung. "Als verdichtete Chronik einer Familie, die unchronologisch hin- und herspringt - so funktioniert Erinnern - weitet es den Horizont, an die Gegenwart als Vergangenheit widerscheint." Tilmann Köhler inszeniere mit Phantasie und überschaubaren Mitteln konkretes Theater ebenso wie dessen Verfremdung. "Das fühlt sich nicht ein, das fühlt und denkt mit." Unaufgeregt lässt er Zeiten und Räume entstehen, entschwinden, ineinander übergehen", so Helbing. Keine der 110 Minuten der intensiven Aufführung werde einem zu lang.

"Autor Freyer und Regisseur Köhler (die beide aus Gera stammen) arbeiten seit vielen Jahren miteinander. Gemeinsam sind sie nichts weniger als die bewährtesten und klügsten Seismographen dieser doppelt deutschen Geschichte", schreibt Michael Laages in der Deutschen Bühne (5.10.2024). "'Dumme Jahre' ist ein herausragend gutes Theaterstück, in Weimar zeigt Tilmann Köhler die in jeder Minute überzeugende Uraufführung", so Laages. Besonders überzeugend an Köhlers Inszenierung sei der Verzicht auf jede Form von Spektakel – "er setzt im szenischen Erzählen derart konsequent auf Normalität, dass diese kleine Familie in all den emotionalen und politischen Umbrüchen immer zum Mit-Empfinden einlädt, (...) aber gleichzeitig führen sie uns das Drama des unberechenbaren Alltags vor."

 

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