Die Kunst des Nachmachens

15. August 2024. Spiegelneuronen sind salopp gesagt jene Nervenzellen im Kopf, die fürs Nachmachen zuständig sind und dafür, ob wir mittun oder uns einer Sache verweigern. Ob wir liebenswerte Kerle sind oder sture Böcke. Dem widmet sich jetzt in Salzburg Stefan Kaegi von Rimini Protokoll gemeinsam mit Sasha Waltz, ihrer Tanzcrew und dem Publikum.

Von Reinhard Kriechbaum

"Spiegelneuronen" von Sasha Waltz & Guests und Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) bei den Salzburger Festspiele © SF/Bernd Uhlig

15. August 2024. Warnung im Programmheft: "Stellenweise kann es zu räumlicher Nähe zu den Sitznachbar.innen kommen." Mit dem verschwitzten Herrn zur Linken (es war der heißeste Tag in diesem Sommer) ist solche nicht unbedingt anzustreben. Mit der attraktiven Dame rechts? Da könnte zu viel Nähe aus anderen Gründen problematisch werden. So geht’s, wenn Interaktivität im Zuschauerraum angesagt ist. Aber alles halb so schlimm, wird sich rasch zeigen.

Vorhang auf – und da ist keine Bühne. Nur eine große Spiegelfläche. Wir sehen fortan nur uns selbst, einen kunterbunten Publikums-Ameisenhaufen. Wir also werden die nächsten hundert Minuten die Hauptrolle spielen, während eine Schar von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem Off kund tut, was sie so umtreibt in Sachen Gehirn- und Spiegelneuronenforschung. An und mit uns soll das anschaulich gemacht werden. "Mit etwas Einfachem verführen", sagt eine der Stimmen, "damit die Menschen mitgehen".

Teil eines Körpers

So läuft also der Hase. Da und dort heben sich prompt Arme, Hände bilden Gesten. Wir haben im Programmheft ja schon Probenfotos gesehen und ahnen, was von uns erwartet wird. Nachmachen ist angesagt. Ich habe Glück, der Bursche unmittelbar vor mir gehört zu Sasha Waltz' Tanzgruppe. Er hat vorbildliche Bewegungen drauf zum anfänglichen Musikgegrummel, einem Cluster, der scheinbar in die Höhe führt und doch auf der Stelle verharrt. "Man bekommt das Gefühl, Teil eines größeren Körpers zu sein", sagt eine Stimme ins allgemeine Gewackel und Gefuchtel der Leute hinein.

spiegelneuronen10 1200 Bernd UhligHands Up: Das Publikum bei "Spiegelneuronen" bei den Salzburger Festspielen © SF/Bernd Uhlig

Man hält Ausschau nach potenziellen "Leadern". In der zweiten Reihe, die Dame mit dem weißen Haarband, das ist sicherlich eine der Tänzerinnen. Die junge Frau im olivgrünen Hosenanzug in der Reihe dahinter wirkt auch auffallend bewegungs-kompetent. Hinten zückt einer sein Handy und beginnt das Licht zu schwenken. Ein ungefragtes Alphamännchen wohl, hat die Sache offenbar mit einem Popkonzert verwechselt. Gar nicht wenige tun's ihm gleich, aber das legt sich wieder.

Soziale Kompetenzen

Wieder eine Off-Stimme, die Frau erinnert daran, dass einige mit verschränkten Armen da sitzen. Ich fühle mich ertappt. "Wir könnten eine Gruppe gründen von Menschen, die nicht mitmachen wollen." Da bin ich dabei! "Das Normale ist oft am wenigsten untersucht", beruhigt die Spiegelneuronen-Auskennerin.

spiegelneuronen10 1200 Bernd UhligMitmachen oder verweigern? Auch eine Frage in "Spiegelneuronen" © SF/Bernd Uhlig

Aber besonders normal scheint der Drang zum Mitmachen. Zum möglichst synchronen Mitmachen. Da geht es bald um Fragen der Demokratie und des Individualismus. Um Anpassen oder bewusstes Ausklinken. Um die Anpassungsfähigen, die Mitläufer und die Eigenbrötler. Um die Balance zwischen Sicherheit aus der Routine oder der Lust am Experiment. Lernen hat mit Nachmachen zu tun, Sympathie und Antipathie sowieso auch.

"Wir verhandeln stets mit unseren Körpern, wie nahe man jemanden an sich ranlässt." Ja eh. Der Vorschlag, die Schulter des Sitznachbarn zu berühren – da zeigt sich das Publikum deutlich reserviert. Beim Aufblasen und Herumschubsen von Luftballonen sind aber alle mit Freuden dabei. Manche Ballone platzen – "Memento mori", geht mir durch den Kopf, als ich so eine gelbe schlappe Haut in Händen halte.

Imitieren ist Lernen

Das Licht im Raum spielt eine große Rolle, damit wird recht raffiniert Gruppendynamik anschaulich gemacht. Eine Nebelstruktur wird projiziert, und Spots werden auf Dreier- oder Viergruppen im Raum gerichtet. Sind da viele in ihrer je eigenen Blase gefangen? Oder arme Hunde, weil total einsam? Die Scheinwerfer tasten zeilenweise durch die Stuhlreihen. Bilden sich Allianzen, Parteien? Gruppenbildung ist angesagt, "um sich wieder als Teil der Welt zu fühlen". Mit Soft-Pop als Musikunterstützung klappt jetzt sanft, was in einer Szene zuvor mit Beats und ordentlich wabernden Bässen auch prompt funktioniert hat: Da ist kurz Clubstimmung aufgekommen.

Schwenk zum Nachdenklichen: Was von alledem passiert unterbewusst, intuitiv, zwanghaft? Das Stichwort "machine learning" fällt. Gehirnforscher können zwar an Primaten herumschnipseln, aber nicht an den vermuteten 86 Milliarden Nervenzellen eines lebenden Menschen. Da muss oft vom Verhalten der Einzelnen aufs Ganze geschlossen werden. Das ist eines der Probleme bei der Spiegelneuronenforschung, die seit ungefähr dreißig Jahren wissenschaftliches – und oft spekulatives – Thema ist.

I wish I was special

Regisseur Stefan Kaegi, einer der Köpfe des Dokumentartheater-Kollektivs Rimini Protokoll, führt da also vor, wie es in unseren Köpfen zugeht. Nicht immer vernünftig. Wieder eine Wissenschaftler-Stimme: "Man kann schon sagen, dass es in den Gehirnen Unterschiede gibt." Wow. In einer Szene treten die Tänzerinnen und Tänzer von Sasha Waltz aus ihrer Anonymität hervor, klettern über die Sitzreihen. Der beleibte Herr einige Reihen vor mir, der gar so eifrig mitgemacht hat bisher, bleibt da doch sitzen.

Man muss auch wissen, wo das Nachäffen seine Grenze hat. Diese zieht freilich jeder für sich. Mit "Creep" der britischen Rockband Radiohead wird man aus dem Abend entlassen, mit Projektionen von Gehirnen und Nervenstrukturen und des Songtexts. Im Refrain "I wish I was special" kommt das "Weirdo" vor. Es ist gerade wieder recht populär.

Spiegelneuronen
Ein dokumentarischer Tanzabend mit Publikum
Von Sasha Waltz & Guests mit Rimini Protokoll
Konzept und Regie: Stefan Kaegi (Rimini Protokoll), Dramaturgie: Silke Bake, Musik: Tobias Koch, Szenografie: Dominic Huber, Video: Mikko Gaestel, Licht: Martin Hauk, Kostüme: Sandra Tiersch, Repetition: Claudia de Serpa Soares.
Mit den Tänzer.innen: Melissa Kieffer, Francisco Martínez, Dominique McDougal, Orlando Rodriguez, László Sandig, Claudia de Serpa Soares, Wibke Storkan.
Mit den Stimmen von: Christina von Braun, John-Dylan Haynes, Sarah Karim, Tim Landgraf, Nora Schultz, Tania Singer.
Eine Koproduktion mit den Salzburger Festspielen, Tanz Köln und Kampnagel - Internationales Zentrum für Schönere Künste
Premiere am 14. August 2024
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.salzburgerfestspiele.at

Kritikenrundschau

Zu einer "Tanzekstase" komme es nicht an diesem Premierenabend, berichtet Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (15.8.2024). "Nicht nur die Glieder, auch die grauen Zellen bleiben unterbeschäftigt." Es fehle "dem auf Effekt getrimmten Konzept an Charme, Verführungskunst und Leichtigkeit, auch an einer stringenten Dramaturgie", so die Kritikerin. "In den erschreckendsten Momenten wird erfahrbar, wie schnell es zu einer Massenmanipulation kommen kann, in den banalsten denkt man an eine Sekte unter Drogen." Es seien übrigens nicht nur Kritikerinnen und Kritiker gewesen, "die sich der Bewegungssynchronisation und der damit angepeilten Glückshormonausschüttung verweigert haben".

"'Spiegelneuronen' fasziniert in seiner interaktiven Experimentierfreudigkeit, die auf ganzer Linie funktioniert hat", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (15.8.2024). Der Abend verbinde "die theoretische Ebene des Sozialverhaltens mit einer performativen" und ziele auf "eine zentrale Frage unserer Tage" ab: "Wovon wird eine Masse bewegt? Und wie funktioniert dabei die Ansteckung? (…) Welche Auswirkungen haben soziale Medien auf die Demokratie? Und leben wir nicht längst in einer 'Emokratie', einer von Emotionen gesteuerten Demokratie?"

"Ohne nachzudenken imitieren die Zuseher Bewegungen der im Auditorium 'versteckten' Darsteller. Doch wo bleibt die Reflexion, der Moment des Bewusstmachens?", fragt Julia Danielczyk in den Salzburger Nachrichten (16.8.2024, €). "Viel wird von Demokratie gesprochen, und zugleich erinnert der Abend an "Die Welle", jenen Film aus dem Jahr 1981, der die systematische Gleichschaltung einer Gesellschaft hin zur Diktatur aufzeigt", moniert die Kritikerin. Die Regie setze vor allem auf Effekte, es werde frei assoziiert – "leider auch frei von jeglichem dramaturgischen Ablauf". Lose seien "die vielen Ideen aneinandergereiht, gesammelt, aufgefädelt".

"Nach einer Stunde spielen die Festspielgäste mit neongelben Luftballons, ausgelassen wie Kinder. Das muss man als Regisseur und Choreografin erst einmal schaffen", gibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (16.8.2024, €) zu bedenken. "Spiegelneuronen" sei nicht nur ein Abend, der vieles erkläre und einiges anstoße, sondern auch "ein Abend der zahlreichen Möglichkeiten. Letzteres gestattet jedem Gast ein enormes Maß an Freiheit. Teil der Masse sein? Oder nicht? Alles ist möglich. Zudem sorgten "die elegante und pointierte Lichtführung von Martin Hauk, die traumhaft schönen, fantastisch plastischen 3DAnimationen von Videokünstler Mikko Gaestel" sowie "der Soundtrack von Tobias Koch (…) für ein eindrückliches (Tanz-)Theatererlebnis."

"Der Reiz und die Gefahr des Abends bestehen darin, dass er nicht bloß auf spielerischen Schabernack hinausläuft, sondern zugleich schwer bedeutungsvoll sein will," schreibt Wolfgang Höbel im Spiegel (16.8.2024). "Die Aufführung ist manchmal albern, manchmal klug und manchmal berührend – und schert sich offensichtlich nicht ernsthaft um die Frage, ob das laute, bunte, chaotische Kollektivgehampel wirklich als Abbild von Prozessen im menschlichen Denkorgan taugt."

"Man weiß nicht recht: soll man jetzt enttäuscht sein, dass das Kollektiv so wenig ekstatisch wurde, oder froh, dass keiner sich ausgezogen hat oder von der Tribüne gefallen ist?", schreibt Wiebke Hüster in der FAZ (17.8.2024): "Soll man jetzt Aufsätze von Tim Landgraf lesen und sich auf das selbstladende Auto freuen oder Angst haben, weil so viel die Rede war von Zweifeln an Kausalität und Rationalität und davon, dass die eigene Einsamkeit bestimmt, wie früh man stirbt? Biosoziopathologie für Beginner, lerne Führen von den Fischen: lahm, oder wie es in der Wissenschaftssprache Englisch, die an diesem Abend auch vorherrschte, ähnlich schön heißt: lame."

Kommentare  
Spiegelneuronen, Salzburg: Worum geht's?
Worum geht‘s? Zu zeigen, wie Manipulation funktioniert? Einige instruierte „Zuschauer“ oder Tänzer geben Bewegungen vor und dann machen es andere (im Modus: trallala wir sind aber gut gelaunt) nach … so funktionieren Karnavalssitzungen … oder Gesänge in Stadien … rhythmisch geschickt oder manipuliert eingespielte Musik verstärkt den Schunkeltrieb (ohne Alkohol) … können „uns“ auf Knopfdruck so toll amüsieren („tu es mit Dir selbst“, ach das klingt jetzt wie ein Pollesch Stücktitel) … denn alle, die mitmachen, haben Glückserlebnisse, die sich verdoppeln, wenn sie im Spiegel sehen, dass sie im Moment glücklich sind … der Selfieeffekt … in den hinteren Reihen erstaunliche Ruhe … Mit einmal sind Luftballons da (woher kamen sie so plötzlich?) und „wir“ werfen sie durch dem Raum - tolles Bild im Spiegel, nicht wahr? Warum sind sie gelb? Mmmmhhhh … Früher hätte man von Chaostheorie geredet (z.B. wie entsteht rhythmisches Klatschen?) - lange her … Was wird hier „gespielt“? Ich werde von einer übergriffigen Zuschauerin (oder ist sie Teil der Produktion) von hinten mit einem Ballon und Fast-Umarmung belästigt … bei Premieren steigt die Beifallphonstärke mit der Anzahl der Frei- und Steuerkarten, an diesem Abend scheint die positive Korrelation auch bei der Mitmachquote zu gelten. Oder alles nur in wochenlangen Proben ausgetüftelt und kein Zusammenhang?
Es ist nur zynisch und unheimlich und sehr traurig.
Spiegelneuronen, Salzburg: Schlecht lesbare Untertitel
Leider waren die eingeblendeten Texte, vor allem die jeweils zweite Zeile, nur schlecht zu lesen.
Spiegelneuronen, Salzburg: Flach
rimini-protokolle sind Festspiele - flach und risikolos bis hin zur fälschung

wenn dokumentarisches theater oder versuchsanordnungen, dann bitte nicht so harmlos

zuerst einmal wird nicht riskiert, ob das beobachtbare (bei dem man ja gerne ein wenig nachhelfen kann) auch eintritt. dann wird dick aufgetragen, was die wissenschaftlichen fundamente derartiger beobachtungen betrifft und allerweltsphilosophie dazu zum mitdenken angeboten. dabei wird jeder bestätigt. weil ja erahnbar ist, dass nicht jede person ganz gleich reagiert, werden für die verschiedenen Reaktionen verständnisvolle erklärungen eingestreut und das absehbare wird als absehbar reflektiert. mit ordendlichem aufwand wird soweit nachgeholfen, dass das, was man erwarten kann jedenfalls in schwung kommt. so animiertes publikum darf dann höhepunkte bestaunen in denen Tänzer*innen über die Zuschauerreihen hinwegklettern und videoeffekte schmeicheln den vorher schon mit grellen luftballons erheiterten. zum finale kommt noch der obligatorische smash-hit, den viele stramm mitgrölen - die wirkliche karaokepeinlichkeit aber wieder nicht riskiert sondern mit massiver beschallung überwalzt.

weil salzburger festspiele, wird in großbürgerlicher aufführungspraxis auch dafür gesorgt, dass die Spiegelwand einem nicht von Anfang an zugemutet und offengelegt wird sondern mit einem sich öffnenden Vorhang für einen würdigen Auftakt gesorgt. Alles was an technik aufgeboten wird vom feinsten.

verhält sich wie Luxus-Autodrom zu echtem Blechschaden und würde von riminiprotokolle vor 20 Jahren sicher spannend in szene gesetzt worden sein - heute sind sie salzburger festspiele
Spiegelneuronen, Salzburg/Berlin: Gesunde Skepsis
Leitfrage der 80 Minuten ist, wie sich gruppendynamische Prozesse entwickeln. Wie pflanzen sich Bewegungsmuster fort? Was geschieht, wenn einzelne im Publikum bestimmte Gesten machen? Werden sie imitiert? Ab wann entsteht eine kritische Masse?

Gezielte Interventionen der jungen Tänzerinnen und Tänzer von Sasha Waltz & Guests, die strategisch im Raum verteilt sind, schicken immer wieder neue Wellen durch den Saal. Angenehm an diesem Mitmachtheater-Projekt, dass es ausdrücklich möglich ist, sich dem Gruppendruck zu entziehen und nur still zu beobachten. Vor allem die erste Reihe tut dies bei der Berlin-Premiere der Co-Produktion „Spiegelneuronen“ im Radialsystem V konsequent, aber auch ein prominenter Ex-Intendant, der neben dem Gastgeber-Paar Waltz/Sandig im Zentrum des Publikums platziert wurde, ließ sich kaum aus der Reserve locken.

Die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun lobt in einem der zahlreichen aus den Off eingespielten Kommentare die Skepsis als eine sehr gesunde Lebenseinstellung, die für eine Demokratie durchaus gewinnbringend sein kann. So bestärkt kann man sich entspannt zurücklehnen und das muntere Treiben weiter beobachten.

Worauf Kaegi, Waltz und ihre Mitstreiter hinauswollen, wird jedoch nicht so recht klar. Der Abend ist ein seltsamer Mix aus albernem Kindergeburtstag-Luftballon-Herumschubsen, Lockerungsübungen und bedeutungsschwer vorgetragenen Schnipseln aus diversen Wissenschaftsdisziplinen von Soziologie bis Hirnforschung.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/08/30/spiegelneuronen-rimini-protokoll-sasha-waltz-kritik/
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