Alles vließt

30. April 2023. Medea ist eine psychotische Pillenschluckerin und das Familienunternehmen hat Beef mit dem Tech-Start-up: Nuran David Calis zieht das Drama des österreichischen Nationaldichters aus dem frühen 19. Jahrhundert mit Schmackes in die Gegenwart. Doch die Sprache bleibt die alte. Kann das gutgehen? 

Von Martin Thomas Pesl

"Die Argonauten" in der Regie von Nuran David Calis am Salzburger Landestheater © Anna-Maria Löffelberger

30. April 2023. Das mittlere Kind hat es oft nicht leicht. Franz Grillparzers Drama "Die Argonauten" wird in der Regel bestenfalls als Teil der gesamten Trilogie "Das goldene Vließ" aufgeführt, und da warten alle nur ungeduldig auf den Kindermord in "Medea". Dabei ist der Mittelteil jener, der sich hauptsächlich um das titelgebende Objekt dreht: Jason fährt nach Kolchis, um es für seinen königlichen Onkel zu besorgen, und hat nach einigem Hin und Her auch Erfolg – dank Medea, die aus Liebe zu ihm ihre Familie verrät.

Hier geht die Party ab

Vier Aufzüge sind das immerhin, die nun am Salzburger Landestheater zur abendfüllenden Entfaltung kommen. Regisseur Nuran David Calis verlegt die Handlung in eine moderne Großstadt, die sich eingangs nächtlich vor den Fenstern eines komfortablen Lofts erstreckt. Hier geht die Party ab, denn die Kolchis Corp. ist gerade in den Besitz des begehrten Vließes gelangt. Doch das Team von Argo Invest ist bereits ante portas, um es sich wiederzuholen.

Zweifellos: In Anne Ehrlichs Bühnenbild möchte man einziehen. Die Inszenierung hat allerdings ihre liebe Mühe, es sich darin gemütlich zu machen. Denn dass aus Barbaren und Griechen die Rivalität zwischen einem traditionellen Familienunternehmens und einem jungen Tech-oder-sowas-Start-up geworden ist, entnehmen wir lediglich eingeblendeten Tweets und Wirtschaftsmagazin-Covern sowie dem Kostümbild: Anzugträgern im Hause Kolchis stehen schwarzes T-Shirt und Sonnenbrille, Ohrringe und Goldkettchen gegenüber. Worte und Versmaß hingegen bleiben, wenn auch entschnörkelt und gekürzt, jene des österreichischen Nationaldichters aus dem frühen 19. Jahrhundert.

Argonaut2 Anna Maria Löffelberger uIn der City herrscht Aufruhr © Anna Maria Löffelberger

In einer Ära der Klassikerüberschreibung wirkt das geradezu aus der Zeit gefallen. Jede Geste, jede Zeile, jede Figurennuance will sofort ängstlich darauf geprüft werden, ob sie hinlänglich in das hyperkonkrete ästhetische Modernisierungskonzept hineinpasst. Sarah Zaharanskis Medea ist eine psychotische Pillenschluckerin, die Stimme oft nah daran, zu brechen. Kein Wunder, dass sie sich leicht von ihrer Familie weglocken lässt. Selbst Gora (Tina Eberhardt) ist weniger mütterliche Amme denn taffe Chefsekretärin. Medeas Bruder Absyrtus spielt Aaron Röll weich, weinerlich, stets bereit, sich dem Vater gegenüber als Opfer seiner unmöglichen Schwester zu stilisieren. Absyrtus' Selbstmord am Ende (mit Schusswaffe, versteht sich) ist ein hysterischer Akt und zeigt, dass er wohl auch nicht das bessere Kind war.

Text-Bild-Schere und ein leuchtender Koffer

Mit etwas Wohlwollen sind diese Charakterzeichnungen halbwegs nachvollziehbar. Vereinzelt gelingt es sogar, die Text-Bild-Schere zwischen alter Sprache und neuer Wohnung zu vergessen, etwa wenn die beiden Verhandlungsteams einander bei der ersten Begegnung skeptisch mustern und sondieren. Während dieser Szene kommt es auch zu einem subtilen Ausflug auf die Metaebene, wenn Matthias Hermann als Kolchis' König Aietes provokant "goldenes Vließ" googelt und so daran erinnert, dass kaum noch jemand weiß, was das eigentlich ist (Spoiler: hier ein Koffer, aus dem ein verheißungsvoller Lichtschimmer scheint), wir es aber als ultimativen McGuffin akzeptiert haben.

Der Drache hinterm Kamin

Nur wird es da schon haarig, was die Übertragbarkeit angeht. Ein gefährlicher Drache hütet das Vließ, heißt hier: Es ist hinterm Kamin versteckt. Und dass die Argonauten zu Beginn unbemerkt in das von drei Kameras überwachte Apartment eingebrochen sein sollen, erscheint höchst unplausibel, auch wenn sie ihren Mut offensichtlich mit einer Nase Koks aufgebessert haben, so geil, wie sie sich vorkommen.

Hier klingt erstmals der Nuran Calis durch, der 2006 mit einer rappenden "Räuber"-Bande im Wiener Volkstheater den Nachwuchs-Nestroy gewann. Das zweite Mal dann nach der Pause, wenn dichter Nebel die Wohnung erfüllt und die Komparserie dick geschminkt Schwerter in Totenköpfe rammt. Als kleiner Schritt Richtung Abstraktion ist die Fenster-Großstadt da schon vorbeiziehenden Wolken, später Meereswellen gewichen. Jason hat die Checker-Attitüde abgelegt und labert die ihm zugetane Medea rührselig voll.

Argonaut3 Anna Maria Löffelberger uDas eskalierte schnell... © Anna Maria Löffelberger

Das stößt umso bitterer auf, wenn man daran denkt, was im letzten Teil der Trilogie passieren wird. Aber der kommt nicht, niemals. Denn für den Abschluss seiner "Argonauten" stellt Calis die Party vom Anfang wieder her. Alles ist gleich, sogar der frisch suizidierte Absyrtus tanzt mit, draußen warten die Eindringlinge, nur Medea klebt blutend an der Glasfront, sie ist das tragische Opfer. Ein Bild, nur ein Bild. Das mittlere Kind gefangen in einer Schleife schönen Scheins.

Die Argonauten
von Franz Grillparzer
Inszenierung: Nuran David Calis, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Anna Sünkel, Musik: Vivan Bhatti, Dramaturgie: Flora Riezinger.
Mit: Leyla Bischoff, Tina Eberhardt, Mathias Hermann, Maximilian Paier, Aaron Röll, Gregor Schulz, Sarah Zaharanski sowie Claus Fölser, Valentina Grabics, Julia Lechleitner, Elena Nobili, Leandra Sprenger, Felix Waldl.
Premiere am 29. April 2023
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.salzburger-landestheater.at

 

Kritikenrundschau

"Keine Träume, keine Mythen": Was Medeas Amme Gora trocken formuliert, hat sich auch Nuran David Calis zu Herzen genommen. "Der Regisseur befreit Franz Grillparzers "Die Argonauten" am Salzburger Landestheater vom Ballast des Klassikers", lobt Florian Oberhummer in den Salzburger Nachrichten (online 1.5.2023). Beherzter Zugriff und Gegenwarts-Settings, für beides sei Nuran David Calis der richtige Mann. "Bis hin zum finalen Showdown vermeidet die Produktion unnötige Längen", das Stück zeige allerdings Klassenunterschiede im Ensemble. 

Kirsten Benekam vom Reichenhaller Tagblatt (2.5.2023) freut sich über ein Bühnengeschehen, das vor Spannung nur so knistere und in der musikalischen Begleitung wahren Psychothriller-Charakter erfahre. Grillparzers Sprache werde großartig in die moderne Inszenierung hineingepflanzt. Das Ensemble agiere kraftvoll und intensiv.

Kommentare  
Die Argonauten, Salzburg: Trotzdem
Obwohl Martin PESL mit der Inszenierung nicht sehr zufrieden zu sein scheint, schreibt er seine Kritik so, dass man Lust bekommt, sich das Stück anzusehen .
Die Argonauten, Salzburg: Gelungener Abend
Diese Kritik ist für mich absolut nicht nachvollziehbar. War ich selbst anfangs skeptisch, ob denn die moderne Inszenierung mit altem Text funktionieren könnte, war dies schnell vergessen oder fiel dieser Kontrast sogar positiv auf.
(...) Ich erlebte einen schönen und gelungenen Abend im Salzburger Landestheater.
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