She did it her way

11. Februar 2023. Kleists Amazonenkönigin und die nach außen "unauffällige", tatsächlich aber enge Normen brechende Gegenwartsfigur Lilli aus einer Erzählung von Marlene Streeruwitz: Wie geht das zusammen? Ganz hervorragend – jedenfalls in Franz-Xaver Mayrs Inszenierung.

Von Reinhard Kriechbaum

"Penthesilea / Der Abend nach dem Begräbnis der besten Freundin" am Schauspielhaus Graz © Marcella Ruiz Cruz

11. Februar 2023. Teichoskopie, ein Wort für Bildungsprotzer. Kommt aus dem Griechischen und heißt "Mauerschau". Beobachter berichten, was sie gerade irgendwo da draußen wahrnehmen. Das ist praktisch, weil man sich so – wir sind bei Kleist und "Penthesilea" – viel Gemetzel auf der Bühne erspart. Das Stück ist über weite Strecken ein wort- und bild-sprudelnder Live-Ticker aus dem Geschehen vor den Mauern Trojas.

Auch die 2014 veröffentlichte Erzählung "Der Abend nach dem Begräbnis der besten Freundin" von Marlene Streeruwitz hat etwas von Teichoskopie. Nicht ganz so live. Ein paar Stunden immerhin ist's her, dass Elisabeth/Lilli unter der Erde ist. Aber die Erinnerung ist sehr gegenwärtig, nicht nur ans Begräbnis. Es war eine eigenwillige Frauenfreundschaft. Lilli führte ein Doppelleben. Die "unauffällige", weil der gesellschaftlichen Norm scheinbar perfekt angepasste Ehefrau und Mutter pflegte ausgiebig Männerbeziehungen. Die andere Frau (sie bleibt namenlos) hat Lilli stets zu den Alibis verholfen. Offiziell war sie es, mit der Lilli die Abende verbracht oder übers Wochenende Kunstreisen unternommen hatte.

Verheddert zwischen Wille und Konvention

Wo treffen sich die beiden Frauenfiguren, die Regisseur Franz-Xaver Mayr im Grazer Schauspielhaus zueinander führt? "Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte", heißt es bei Kleist über die Amazonenkönigin, die sich regelwidrig verliebt in Achilles und letztlich psychisch verheddert zwischen dem eigenen Willen und jenen Konventionen, die doch wie ein fesselndes Netz ihr eigenes Denken durchziehen. Die Krebserkrankung von Streeruwitz' Lilli mag psychosomatischer Natur gewesen sein, vielleicht aus ganz ähnlichen Gründen.

Mit Frank Sinatras "I did it my way" geht’s los, da hakt die Erzählerin ein und sinniert, wem in der Familie warum wohl gerade dieser Gassenhauer eingefallen ist als Lied zur Verabschiedung von Lilli – weiß doch sie, die Freundin, allein ums Schattige dieser Existenz. In einem über und über mit Papierrosen besetzten Kleid steht sie da, Anspielung auf das Rosenfest, die kriegerische Beischlaf-Orgie der Amazonen.

 Penthesilea1 1000 MarcellaRuiz CruzLilli / Penthesilea im Rosenkleid – Austattung Korbinian Schmidt. © Marcella Ruiz Cruz

Franz-Xaver Mayr entfaltet im Schulterschluss mit dem Ausstatter Korbinian Schmidt ein hoch stilisiertes Ensemble-Spiel. Fünf Frauen, fünf Männer stecken in Kostümen, die Elemente von Männer- und Frauenkleidung aufgreifen. Umhänge gewechselt, und schon mutieren die Geschlechter, werden aus Amazonen griechische Recken und umgekehrt. Die Gesichter sind maskenartig geschminkt, die identen Frisuren kunstvoll wellig hochgesteckt und in lange Pferdeschwänze auslaufend. Die zehn Unisex-Allegorien aus Papier, Stoff und Plastik definieren die Gruppen und lassen zugleich genaue Identitätszuschreibungen zu. Auch wenn die Darstellerinnen und Darsteller Geschlechter und Rollen oft wechseln, wenn Sätze gesplittet oder chorisch gesprochen werden, sind die Handelnden gut kenntlich und ihre Charaktere anschaulich herausgearbeitet.

Drei Achills, vier Penthesileen

Meist wird ja – Stichwort Teichoskopie – vom dramatischen Geschehen doch nur aus zweiter Hand berichtet. Ironisch zugespitzt sind die Szenen, in denen sich der liebesverblendete Achilles im Kreis der wackeren Kriegsrecken so recht unverstanden und lächerlich fühlen darf. Aber auch die Amazonen gehen mit ihrer Königin nicht ganz zimperlich um.

Eine entscheidende Szene ist die Begegnung zwischen den Liebenden. Da sind die Figuren gesplittet. Gleich drei Achills werden von vier Penthesileen umworben, und das gibt ein ganz wunderbar abschattiertes Gesamtbild von unvereinbaren und doch im Grunde auf beiden Seiten ähnlich gelagerten Gefühlen.

Zwei Mal wird der in ansehnlichem Tempo, aber sprechtechnisch bemerkenswert präzis artikulierte Penthesilea-Wortfluss für weitere Streeruwitz-Einschübe (auch wieder verschiedenen Leuten anvertraut) unterbrochen. Mit Augenmaß, nicht so umfangreich wie die eröffnende Suada, inhaltlich jedenfalls überlegt eingeklinkt. Das Ende gehört natürlich ebenfalls der Streeruwitz, die in Lillis und der erzählenden Freundin Leben "keine Chance auf etwas Bedeutendes" ortet und resignierend schließt: "Ich werde gemeinsam mit mir sterben und es wird nicht großartig sein."

Keine plakative Deutung

Das Fast-Nichts an Bühnenbild arbeitet dem Ensemble-Konzept dieser Aufführung unmittelbar zu. Ein Guckkasten-Rahmen: Im sanft ansteigenden Boden ist ein Klavier halb versunken. Das Schlagzeug ist fahrbar hinter der Bodenkante positioniert. Die beiden Musikerinnen tragen viel zur Stimmung bei, gerade, weil sie sich akustisch nicht in den Vordergrund drängen. Sie gehören einfach dazu, und das Ensemble kann zu ihren Rhythmen schon mal Kleist im Rap vortragen. Die Beleuchtung scheut nicht zurück vor poppigen Akzenten und wirkt doch subtil. Kleist und Streeruwitz gehen in diesem Bühnen-Gesamtkunstwerk jedenfalls formidabel zusammen.

Das Wesentliche: Die Aufführung liefert keine plakativen feministischen Deutungen. Hier Penthesilea und Achill, die tragischerweise auf dem Schlachtfeld, also offenkundig scheitern. Dort Lilli, die ihre Wünsche in einem verborgenen Lebensplan umgesetzt hat. Alle drei haben entschlossen gehandelt, die "unmögliche" Liebe aber nur beinahe geschafft.


Penthesilea / Der Abend nach dem Begräbnis der besten Freundin
Heinrich von Kleist / Marlene Streeruwitz
Regie: Franz-Xaver Mayr, Bühne und Kostüme: Korbinian Schmidt, Kostümmitarbeit: Matthias Dielacher, Komposition, Sounddesign, Musikalische Leitung: Matija Schellander, Licht: Viktor Fellegi, Dramaturgie: Franziska Betz.
Mit: Linda Kummer, Daria von Loewenich, Henriette Blumenau, Sarah Sophia Meyer, Johanna Sophia Baader, Frieder Langenberger, Mathias Lodd, Clemens Maria Riegler, Lukas Walcher, Beatrix Doderer, Oliver Chomik, Aurora Hackl Timón (Schlagzeug, Komposition), Karolina Preuschl (Klavier, Komposition).
Premiere am 10. Februar 2023
Dauer: Eine Stunde 55 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus-graz.at

 

Kritikenrundschau

"Kleists kunstvolle Verssprache wird – bei einer Aufführungslänge von etwas mehr als zwei Stunden – zügig wie ein Nachrichten-Ticker abgefeuert", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (12.2.2023). Das sei "manchmal zu steil", weshalb auch "entscheidende Äußerungen in Neusprech" daherkämen. Die Regie ziele "auf abstrakte Gestaltungsmittel ab", indem sie zum Beispiel "Sprechrollen von Einzelpersonen" abrücke und Penthesilea und Achill "in mehrköpfiger Anordnung ins Feld" schicke. Und auch wenn dabei "der Effekt" gelegentlich ausbleibe, sei das ein Abend, der "insgesamt doch mehr subtile Kraft entwickelt, als er oberflächlich zugibt", so die Kritikerin.

Eine "Tragödie, die zugleich schräg antikisierend und sprachkritisch bis postdramatisch ist", hat Norbert Mayer von der Presse (13.2.2023) in Graz erlebt. "Die Grundstimmung ist kalt, sieht man vom pyrotechnischen Effekt in der Phase der Raserei und des Tötens ab, wenn der Bühnenhintergrund zum Weltbrand wird. Stärker ausgeprägt ist die Dekonstruktion." Sein Fazit fällt positiv aus: "So gelassen wird dieses seltsame Kleist-Stück selten geboten, und auch die Textpassagen von Streeruwitz kriegen hier Dynamik."

Eine "Ensembleleistung, die der Vorlage vieles entlockt", hat Daniel Hadler von der Kleinen Zeitung (13.2.2023) gesehen. "Der von Kleist sparsam platzierte Witz" werde "vom Publikum ebenso als erleichternder Wellenbrecher honoriert, wie gelegentliche Ausflüge auf die Metaebene". Allerdings: "Der Resonanzraum der beiden Vorlagen, den die Regie zu schaffen versucht, bleibt löchrig und lässt zu viel Energie entweichen. Energie, die am Ende fehlt, wenn es darum ginge, die Handlung zu überwinden und den fatalistischen Kern von 'Penthesilea' noch fundamentaler zu ergründen."

 

Kommentare  
Graz, Penthesilea: Hut ab
Es gelingt Ihnen, Reinhard Kriechbaum, nicht eineN einzigeN Schauspieler, nicht eine einzige Schauspielerin namentlich zu erwähnen. Hut ab! Das muss man erst mal schaffen. Und die Nachtkritik Redaktion kennzeichnet zwar den Fotografen der Aufführungsfotos, verrät mir aber nicht, wer darauf abgebildet ist. Was ist das? Theater Scotland Yard? Soll ich raten? Ermitteln? Absurd. Und ärgerlich.
Kommentar schreiben