Mein Jahr der Ruhe und Entspannung - Schauspielhaus Graz
Der Schlaf der Ungerechten
21. September 2024. Die Hauptfigur in "Mein Jahr der Ruhe und Entspannung" sehnt sich nach dem großen Nichts, der absoluten Weltentrückung in Form eines Winterschlafs. Hüter ihres Schlafs ist ausgerechnet ein Künstler. Ewelina Marciniak bringt den Roman jetzt auf die Bühne, als kleine Therapie-Aufstellung mit Referenzen an Pop- und Kunstgeschichte.
Von Martin Thomas Pesl
21. September 2024. Recht früh an diesem Abend sagt eine selbsternannte Kunstkennerin großspurig, statt vom Austausch von Atemluft zu erzählen, solle man das Publikum diese lieber spüren lassen. Diese Devise hat Regisseurin Ewelina Marciniak sich wohl selbst in den Text geschrieben – ein guter Rat für eine, die einen denkbar antidramatischen Roman auf die Bühne bringt. Vor sechs Jahren feierte die 1981 in Boston geborene Ottessa Moshfegh mit "Mein Jahr der Ruhe und Entspannung" einen Publikumserfolg, der sich in die Pandemie verlängerte. Es passte halt: Die Ich-Erzählerin unbekannten Namens versucht um die Jahrtausendwende mithilfe von Medikamenten, Winterschlaf zu halten.
Der Roman zeichnet sich dadurch aus, dass er eine regelrecht leidenschaftliche Antipathie gegen die leidenschaftslose Protagonistin schürt. Warum die gut situierte junge Frau sich partout freiwillig dauerbetäubt, geruht sie nicht aufzuklären. Jenseits der koketten Fantasie "Ach, wäre es nicht schön, einfach mal ein Jahr zu schlafen!" gibt es keinen Anker, der die Lesenden mit ihr fühlen lässt, steht sie doch selbst scheinbar über allem. Sie ist gemein zu ihrer gutmütigen Freundin Reva, belügt ihre bizarr leichtgläubige Therapeutin, um an Downer zu kommen, und tut im Schlaf Dinge, an die sie sich nachher nicht erinnert. Man wünscht sich, sie möge endlich aufhören, deshalb liest man weiter.
Provokante Weltentrückung
Wie nun so einer nicht nur unzuverlässigen, sondern auch unsympathischen Erzählerin beikommen? Marciniak schafft es, indem sie der Hauptfigur das alleinige Rederecht entzieht. Die Menschen in ihrem Umfeld, die sie so verachtet, haben mindestens ebenso viel zu sagen, auch wenn sie, wie ihre Eltern, schon tot sind. Damit befreit sie sich mit einem Schlag von jeder Gefahr einer konventionellen Nacherzählung und gewinnt Personal für ein (auch in puncto Ausstattung) buntes Ensemblestück.
Das will freilich mit Dialogen und Szenen gefüllt werden. Im Zentrum der Bühne prangt, wie könnte es anders sein, eine mehrstufige Riesendesignercouchlandschaft für das exquisite Nickerchen. Überraschenderweise ist diese zu Beginn von Hundeskulpturen umstellt. Halt, einer der Hunde ist lebendig, noch. Ihm soll zu radikal künstlerischen Zwecken die Haut abgezogen werden (Dominik Puhl hat sich die kaninen Eigenheiten präzise angeeignet). Weil Luiza Monteiro in der Hauptrolle die Verlogenheit solch artifizieller Provokationen anspricht, überreicht ihr Marielle Layher als exzentrische Galeristin die Kündigung.
Ungleiche Freundinnen
Kurz darauf sind alle Teil des Aufstellungskonzepts von Therapeutin Anke Stedingk: die Ex-Chefin, der Radikalkünstler (Mario Lopatta), die tote Mutter, bei Olivia Grigolli eine egozentrische Schauspieldiva, die magersüchtige Reva (Anna Klimovitskaya wirkt selbst in einem geschmacklosen Kleid mit aufgedrucktem Zungenmotiv noch authentisch) und Thomas Kramer als Anwalt, der eigentlich nur da ist, um seiner Klientin den Verkauf des geerbten Elternhauses nahezulegen. Mal verweisen sie selbstironisch auf die eigene Fehlplatzierung in der aktuellen Szene, mal steigern sie sich in choreografierte Atemübungen hinein oder tragen die Britney Spears' "Toxic" singende Monteiro auf Händen.
Auch später in der Wohnung, als das Winterschlafprojekt längst im Gange ist, ja sogar beim Begräbnis von Revas Mutter kehren diese Geister in anarchisch abseitigen Bildern wieder. Warum etwa Dominik Puhl im Tutu ein Wasserballett tanzt, muss nicht verstanden werden, es gehört zu Marciniaks elaborierter Metaerzählung, die sich aus mannigfaltigen Referenzen an die Romanhandlung und die Kunstgeschichte speist und von teils offensichtlich in Improvisationen entwickelten, teils ein bisschen prätentiös geskripteten Momenten zusammengehalten wird.
Kitschige Träume
Zwar gibt es auch dem Buch entnommene und glaubhaft gespielte Dialoge zwischen Patientin und Therapeutin oder den ungleichen Freundinnen. Luiza Monteiro kommt dennoch etwas besser weg als ihr Vorbild auf Papier. Ihre Ausrede, ohne zu schlafen, könne man "in einer Welt aus brennenden Türmen, Häusern und Wäldern" nur abstumpfen, steht dem Original im Jahr 2000 nicht zur Verfügung, als noch nicht einmal 9/11 passiert ist.
Das größere Vergnügen bereitet die Inszenierung wohl jenen, die das Buch kennen und sich über vieles freuen können, das zwar darauf verweist, aber anders ist. Doch auch der Rest dürfte produktiv die Stirn runzeln angesichts eines farbenfrohen, psychedelischen, ja auch kitschigen Traums (am Ende verschwindet ein Klavier in Kunstnebel und Gegenlicht). Wir haben die Atemluft gespürt.
Mein Jahr der Ruhe und Entspannung
nach dem Roman von Ottessa Moshfegh, Deutsch von Anke Carolina Burger
Österreichische Erstaufführung
Regie: Ewelina Marciniak, Bühne und Kostüme: Natalia Mleczak, Musik: Jan Duszyński, Choreografie: Mikołaj Karczewski, Licht: Aleksandr Prowaliński, Dramaturgie: Małgorzata Czerwień, Anna-Sophia Güther.
Mit: Olivia Grigolli, Anna Klimovitskaya, Thomas Kramer, Marielle Layher, Mario Lopatta, Luiza Monteiro, Dominik Puhl, Anke Stedingk.
Premiere am 20. September 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspielhaus-graz.com
Kritikenrundschau
"Der sinnentleerte Stoff voller Schmerz wird in der Inszenierung von Ewelina Marciniak schnell ein dynamisches Spektakel", schreibt Jakob Thaller im Standard (21.9.2024). In der Hauptrolle überzeuge Luiza Monteiro. Ihre egoistische Daseinsverweigerung durch äußerliche Einwirkungen und Moralismen zu erklären, nehme dem Stoff seinen Zynismus und damit allerdings die Essenz. "Sehenswert ist die bunte, herausragend choreografierte Drogenparty trotzdem." Man könne sich den Nebelschwaden des finalen Infermiterol-Rauschs inklusive Klavierbegleitung schwer entziehen. Fazit: "Dieses Jahr der Ruhe und Entspannung am Schauspielhaus Graz ist vieles – nur nicht ruhig und entspannend."
Ewelina Marciniak inszeniere den Roman "als wütende Anklage gegen die Zumutungen unserer Zeit – und als grellen Fiebertraum, in den sich die Heldin aus einer überlasteten, sinnentleerten Existenz in einen Medikamentenrausch voller Ängste, Erinnerungen und Fantasmen flüchtet", schreibt Ute Baumhackl in der Kleinen Zeitung (22.9.2024). "Speziell zu Beginn des zweistündigen Abends putscht dieser neonfarbige Cocktail (Bühne und Kostüme: Natalia Mleczak) aus Rausch und Renitenz die Sinne auf – nur, um am Ende in ein überlanges Fade-out zu entschlummern", so Baumhackl. "Anhaltend hinreißend sind aber die schauspielerischen Leistungen."
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