Die Eroberung des goldenen Apfels - Hakan Savaş Mican überschreibt in St. Pölten ein nationalistisches Heldenstück über die Belagerung Wiens
Wer hat Angst vor den Türken?
von Veronika Krenn
St. Pölten, 5. Mai 2017. Der Kantinen-Betreiber in der verstaubten Theaterkantine "Zum goldenen Apfel" entpuppt sich als gewitzte Kantineurin, die auch Spätankömmlinge im Zuschauerraum noch in die gute Stube lockt. Michael Scherff trägt eine Schürze, kugelrunde schwarze Ohrringe, rosa Schuhwerk und eine farblich abgestimmte Brille. Sie sei Haushälterin in einem jüdischen Haushalt gewesen, bis man ihr "die Herrschaften vergaste", plaudert sie frisch aus dem Nähkästchen.
In einem antiquarischen Tableau vivant (Bühne und Kostüme: Sylvia Rieger) sitzen je zwei Frauen und Männer in barocker Kleiderpracht eingefroren an Tischen, mit aufgetürmtem Frisurwerk auf den Köpfen. Sie verkörpern das postmodern abgespeckte Typen-Personal eines europäischen Friedenschores, der in der Kantine ewig vergeblich wartet auf seinen Auftritt in einer Aufführung von Josef August Langs "Die Türken vor Wien. Glaube, Heldenmuth und Bürgertreue", ein – wohl aus gutem Grund – unbekanntes patriotisches Spektakel, das 1883 – zur 200-Jahr-Feier anlässlich der abgewehrten Wiener Türkenbelagerung – mit Musik, Gesang, Tanz- und Schlacht-Szenen angekündigt war.
Der Friedenschor wird nicht gebraucht
In Emre Akals (Text) und Hakan Savaş Micans (Regie) "Die Eroberung des Goldenen Apfels. Geschichte einer Belagerung" sind von Langs Stück noch eingesprengte archaische Hörsequenzen per Kantinenlautsprecher übrig: Traurig sehe es aus um Wien, denn von Osten her wälze sich schon zum wiederholten Male der Türken Macht heran, die Länder der Christen mit Feuer und Schwert zu überziehen, hört man da etwa. Vidina Popov, Tim Breyvogel, Zeynep Bozbay und Stanislaus Dick machen ihren Friedenschor zur pädagogischen Selbsthilfe-Gruppe, mit schauderhaft altbackener Attitüde werden Allgemeinplätze bemüht wie: "Also ich sehne mich nach dem Schönen ... Es verliert sich alles von selbst. Stück für Stück. Welcher Wiener bestellt denn noch ein Stück Sachertorte?" Dazwischen trällert die musikaffine Kantinenwirtin inflationär Liedfetzen, tanzt auf Tischen und wirft sich über die Bar, dass es nur so scheppert. Das musikalische Arrangement von Imre Lichtenberger Bozoki macht auch eher ratlos als dass es sinnstiftende Zusammenhänge erkennen ließe.
Das wahre Theater findet "draußen" statt auf der der nicht einsehbaren Bühne, für die der Inspizient über den Kantinenlautsprecher spektakuläre Auftritte ansagt: "Pyrotechnik bitte den Beschuss der Mauern starten", "100 Kamele, 239 Elefanten und 50 Rhesusaffen über die Bühne führen" und "Gasmasken in den Zuschauerraum bitte". Per Kantinenvideoübertragung hält der osmanische Großwesir Kara Mustapha seine Kampfrede: "Ich raste nicht und lege nicht früher mein Haupt zur Ruhe, bis nicht der Halbmond am Stephansturme erglänzt." Immer realer scheint der Kampf auf der Bühne zu werden, der bis in die Kantine vordringt, wenn sich die Tür zur Bühne öffnet und aus den Nebelschwaden ein osmanischer Säbelkrieger mit wilden Gebärden ausbricht und die vier Friedenschoristen unter tobendem Geschrei auseinanderstieben, durch Bombengrollen das Theater förmlich erzittert und das Licht flackernd versagt. Auch das entpuppt sich aber als Theater: eine Kantinendurchsage ruft den Leibwächter von Kara Mustapha auf die Bühne.
Wie Integration funktioniert
Unsäglich fallen leider die Versuche aus, aktuelle Bezüge zu knüpfen. Betroffenheitspathos paart sich stattdessen mit Stammtisch-Pädagogik, als die vier Choristen diskutieren, wie sie mit der Situation umgehen sollen: aussteigen? Weiter mitmachen? Dabei kommen Schul- und Alltagsweisheiten heraus à la "Integration ist eines der Schlagwörter unserer Zeit. Es bedeutet Eingliederung in ein größeres Ganzes. Derjenige, der sich integrieren möchte, wird versuchen, sein neues Umfeld besser kennen zu lernen, sein Verhalten den neuen Situationen anzupassen. Hier sind Neugierde, Offenheit, Lernwille und Mut besonders wichtig."
Auf der Bühne wird gelungene und nichtgelungene Integration an mehreren vom Berliner Rapper Volkan T. Error dargestellten Figuren gezeigt, die in der Kantine ein- und ausgehen. T. Error, Gründer des Labels Endzeit Industry und einer der Wegbereiter des türkischen Hip-Hop und Hardcore, stellt erst die Paraderolle des Gastarbeiters dar, der die Kriegstrümmer beseitigen helfen soll, aber von den "Heimischen" als suspekt beäugt wird. Später steigt er als Metalcore-Musiker (im barocken Kostüm) sofort in der Hierarchie. Aber erst als er schließlich im Frack als Chorleiter wiederkehrt, ist er in den Augen der anderen "integriert".
In seiner theatralen Annäherung bleibt Hakan Savaş Micans "Die Eroberung des goldenen Apfels" ein Sammelsurium an Kuriosem und Plattitüden. Würde man Kantinenjargon bemühen, wäre das Süppchen, das hier feilgeboten wird, eher lauwarm statt heißgekocht, und das ist doch jammerschade.
Die Eroberung des goldenen Apfels
von Hakan Savaş Mican und Emre Akal
Regie: Hakan Savaş Mican, Bühne und Kostüme: Sylvia Rieger, musikalisches Arrangement: Imre Lichtenberger Bozoki, Licht: Günther Zaworka, Dramaturgie: Kai Krösche, Ausstattungsassistenz: Lisa Gaugelhofer, Regieassistenz und Video: Victoria Halper.
Mit: Zeynep Bozbay, Tim Breyvogel, Stanislaus Dick, Vidina Popov, Michael Scherff, Volkan T. Error
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.landestheater.net
"Man darf den Abend nicht mit Erwartung überbelasten", warnt Michael Wurmitzer in Der Standard (8.5.2017). "Er verwebt Schlagworte, seine Perspektive ist strikt österreichisch. Man wird faktisch nicht viel Neues mitnehmen." Eher biete er eine atmosphärische Versammlung bekannter möglicher Standpunkte. "Die sind nicht unklug und nicht ohne Witz, aber als Spiegelung einer Gesellschaft zu wenig treffsicher", so Wurmitzer. "Gern bleibt man auf einmal gefundenen Klischees sitzen." Insgesamt sei, scheint's, verhältnismäßig mehr in die Oberfläche als in den Inhalt investiert worden. Die jedoch sei "intelligent verschachtelt, in jedem Fall ein Vergnügen."
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Unzusammenhängende musikfetzen verschleiern die szenen
Unüberlegte regie,fand die kritik mehr als treffend ;-)
Weiter zur Kritik:
https://www.stp-konkret.at/freizeit/kultur/2530/die-dekonstruktion-des-abendlandes-und-wiener-wuerstel.htm
İch bin mit ganz anderen erwartungen reingegangen und war nach einem ersten Schock sehr erstaunt. Wieso hatte ich konkrete Erwartungen? İch fühlte mich mehr als ertappt und im nachhinein bin ich begeistert von der Umsetzung. Hier ist man radikal gegen eine Erwartungshaltung gegangen! Das hat mich überzeugt. Mir hat es viel hinterlassen!
Lg
Inszeniert wird ein Stück im Stück, bei dem ein Friedenschor mit Zeynep Bombay, Tim Breyvogel, Stanislaus Dick, Vidina Popo, Michael Scharff auf seinen Auftritt wartet, der aber nicht zustande kommt.
Das Ensemble wartet in einer Zeitschleife mit absurden Statements, wie wir das von „Warten auf Godot“ kennen.
Ein absonderlicher Existenzialismus in den Dialogfragmenten lässt im Grundtenor fundamentale Erschütterung und Zweifel am Sinn des Lebens, Ausweglosigkeit und abgrundtiefen Pessimismus erspüren. Eine düstere Farce, ein komisches Lustspiel wird uns geboten; eine Farce, die fesselt. Der Plot ist Nebensache. Die Geschichte hat keine subtil-psychologische Charakterisierung, keinen gebauten Dialog, nur scheinbar zielloses Geplauder und clowneske Sprachspiele „um die Allmacht, die uns umgibt“.
Künstlerische Leiterin Marie Röter in ihrer Ansprache bei der Premierenfeier „Ich wünsche mir, dass der Abend sie subkutan erreicht, also unter die Haut geht.“ Und so ist es!
Unbedingt hingehen und anschauen!
Robert Voglhuber
Mostviertel Magazin