Peking Opel - René Polleschs beschwingte Grübeleien über Inspiration und Muse
Showtime für die Ameise der Kunst
von Thomas Askan Vierich
Wien, 30. Mai 2010. Ja, so soll Theater sein: Die auf der Bühne sind nachher fix und fertig - und wir gehen beschwingt nach Hause. Marc Hosemann stand die Anstrengung beim Verbeugen ins Gesicht geschrieben. Immer wieder hatte er in den zurückliegenden wortreichen anderthalb Stunden rufen müssen: "Penis und Vagina, Penis und Vagina, immer nebeneinander, immer dasselbe!" und war dabei über Sofas marschiert und unten drunter durchgekrochen. Wenn er seinen Einsatz verpasste, sprach die hinter ihm stehende Souffleuse vor, so laut, dass man es bis in die letzte Stuhlreihe hörte. Nur er verstand es nicht. Also entriss er ihr das Textbuch und deklamierte die nächsten Sätze direkt aus dem Script.
Um zwei Tage hatte man die Premiere von "Peking Opel" am Akademietheater verschoben. Man müsse noch mehr proben, hieß es lapidar. Noch mehr proben - bei Pollesch? Wenn Schauspieler ihre Einsätze verpassen, sich verhaspeln, frei improvisieren, dann gehört das bei ihm dazu. Kindergeburtstage, die charmant entgleiten. Ein Schelm, wer hier die Sinnfrage stellt. Man freut sich, wenn man die Anspielungen erkennt: Habe ich diese Szene nicht mal in einem alten Film gesehen?
Abgehalfterte Varietéstars
Jemand hämmert vehement auf eine Schreibmaschine ein, als sei sie ein Musikinstrument, das man virtuos beherrscht. Bei Pollesch hämmert das ganze Ensemble - gefilmt in Schwarzweiß. Verkrachte Künstlerexistenzen, die ihrem Vermieter Honig ums Maul schmieren, statt ihm die fällige Miete zu zahlen? Pollesch zitiert jetzt nicht mehr nur TV-Soaps und Kino, er greift zurück bis Puccini. Na, er hat ja auch den Text zur Oper "Metanoia" von Jens Joneleit geschrieben, die in der Inszenierung von Schlingensief im Herbst am Schillertheater Premiere haben wird.
In "Peking Oper", Verzeihung "Opel" beginnt alles mit Wackelvideokamera in Schwarzweiß. Eine Viertelstunde lang steht niemand auf der Bühne, nur eine kunterbunte, varietéartige Anordnung mit Schminktisch und Chaiselongue ohne Schauspieler. Auf einer Leinwand sehen wir Martin Wuttke, Catrin Striebeck und Marc Hosemann, wie sie exaltiert hinter der Bühne in die Kamera sprechen. Sie tragen wie abgehalfterte Varietéstars seidene Hausmäntel.
Über der Videoleinwand prangt: "Fame on you". Sie feiern ihren größten Erfolg, "Die stille Stunde" - Pantomime im Radio. Angeblich eine Sternstunde. Radiosprecher, die niemand hört. "So eine gute Idee werde ich nie wieder haben", schreit Wuttke. Und jammert über seine Muse Catrin Striebeck, die keine Muse mehr sein will, weil für sie "nur achtzig Prozent" dabei herausspringen. Außerdem ist sie auch die Muse von Marc Hosemann, Partner von Wuttke beim Radio, ein Autor, der stolz darauf ist, Stücke zu schreiben, die nie aufgeführt werden. "Darin bin ich sehr erfolgreich!"
"Nur Dialoge, keine Gedanken!"
Oder hat das Wuttke gesagt? Egal, alle sagen sowieso alles immer wieder. Wie üblich bei Pollesch wird viel gesprochen, teilweise improvisiert. Man weiß nicht genau, wovon gesprochen wird. Das ist Absicht. Es geht um die Unmöglichkeit der Kommunikation. "Nur Dialoge, keine Gedanken!", ruft Marc Hosemann. Oder war es Wuttke?
Für Martin Wuttke ist heute Abend Showtime. Wuttke kennt seinen Pollesch noch aus Prater-Zeiten in Berlin. Er wirkt mit seiner schwarzen Hornbrille und seiner intellektuellen Selbstzerfleischung wie ein zu gut gekleideter Woody Allen auf Speed. Wuttke schwätzt, schwitzt, tobt, tanzt - wie Marc Hosemann immer kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Er hat ein Problem mit der Wahrheit, fühlt sich belogen und betrogen. Von seiner Muse. Die ihn auslacht. Wegen seines Wahrheitsbegriffs. Er solle sich lieber auf gute oder bessere Lügen konzentrieren.
Wuttke stutzt, dann jammert er weiter über ausbleibende Inspiration, das Nettsein "in einer unwahren Gemeinschaft", die "miese Anti-Radikalität", den elenden "Zwang zur Individualisierung". Jonathan Meese zitierend, schreit er: "Ich bin die Ameise der Kunst" und krabbelt über die Bühne. "Das hast du jetzt bestimmt nicht verstanden, Schatz!", wirft er seiner untreuen Muse an den Kopf. "Aber du hast es wenigstens mal gehört."
Witze und tiefere Einsichten
Wuttke trägt ein gelbes Hemd mit weißem Kragen und schwarzer Fliege. Dazu eine enge schwarze Satinhose und Stiefeletten mit hohem Absatz. Kollege Hosemann hat die Kostümbildnerin Nina Kroschinske in einen knalligen, karierten, etwas zu weiten Anzug gesteckt, Catrin Striebeck trägt erst ein eng anliegendes braunes Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reicht, später darf sie auf hochhackigen Schuhen über die Schleppe ihres beeindruckenden schwarzen Kleides stolpern. Kroschinske gibt den Figuren etwas Strizzihaftes, aber auch Fröhliches.
Fröhlich bramarbasieren sich die durch ihre Textcollagen. Die intellektuelle Bandbreite reicht vom erzählten Witz ("Wo ist eigentlich Ihre Frau? Zuhause. Woher wollen Sie das wissen? Ich trage ihre Schuhe.") bis zu tiefer reichenden Einsichten: "Vielleicht sollte ich lieber dazu übergehn, mich mit dem zu beschäftigen, womit ich mich sowieso gerade beschäftige. Dann bräuchte ich auch keine Muse. Oder so etwas Belangloses wie Inspiration."
Das haben Schauspieler wie Zuschauer wörtlich genommen: Die einen haben sich voll reingehängt und die anderen sind voll mitgegangen. Polleschs wilde Worte haben einem das Hirn kräftig umgerührt. Das hat sehr gut getan.
Peking Opel (UA)
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne: Janina Audick, Kostüme: Nina Kroschinske, Video: Kathrin Krottenthaler, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Amely Joana Haag.
Mit: Catrin Striebeck, Marc Hosemann, Hermann Scheidleder, Volker Spengler, Stefan Wieland, Martin Wuttke.
www.burgtheater.at
Mehr zu René Pollesch im nachtkritik.de-Glossar. Pollesch-Star Martin Wuttke spielte am Burgtheater zuletzt in Das Begräbnis von Thomas Vinterberg.
"Peking Opel ist eine Happy Hour (eigentlich eineinhalb), die auf die ziemlich ansprechendste Art, die Theater so zu bieten hat, zum Nichtverstehen einlädt", fasst Margarete Affenzeller den Abend im Wiener Standard (1.06.2010) zusammen. Polleschs Theaorie- und Reflexionsmaterial, in früheren Arbeiten in großen Mengen direct importiert, werde zunehmend ausagiert: Die Schauspieler fallen regelmäßig aus ihren Rollen. Dahinter stecke "harsche Repräsentationskritik".
"Warum sieht man sich Uraufführungen von René Pollesch an?", fragt Norbert Mayer in Die Presse (1.06.2010), um dann die Unfertigkeit des Abends zu geißeln und festzustellen: "Ein großer Wurf war's aber nicht, selbst wenn einiges geboten wurde". Mayer befindet, dass Pollesch in der Krise stecke, muss aber zugeben: "Es ist tatsächlich ein Spaß, diese dadaistische Endlosschleife anzuhören. In der letzten halben Stunde wird sie aus nicht nachzuvollziehenden Gründen als lange Bettgeschichte sogar noch spannend."
"Fertig waren nach eineinhalb Stunden ,Peking Opel' (…) nur die Schauspieler", kalauert Michaela Mottinger im Kurier (1.06.2010) und kritisiert die Textunsicherheit von Volker Spengler und Marc Hosemann: "Da griff selbst der alte Pollesch-Schmäh, der jeden Verhaspler als konsequent Freud'schen Versprecher bejuxt, nicht mehr." Alter Egos des Autors seien die Figuren mehr noch als sonst; die Schauspieler agieren "entlang am Nervenzusammenbruch", ausführlich preist sie Martin Wuttke. Letztlich scheint sich auch Mottinger amüsiert zu haben: "Wenn demnächst alle ihren Text können, wird das ein Super-Abend."
Ein typischer Pollesch, befindet Judith Schmitzberger in der Wiener Zeitung (1.06.2010), "inklusive Spielräumen hinter der Bühne samt Video-Übertragung, sich wiederholenden, mäandernden Textblöcken, latenter emotionale Aufgebrachtheit und tragikomischem Slapstick". Pollesch befasse sich mit der Frage nach Kommunikation und Autorschaft, "bei der es immer wichtiger wird, wer etwas gesagt hat und nicht mehr, was es eigentlich war." Schmitzberger resümiert: "Ein dichter, komplexer Abend, der nachwirkt. Und dessen kritische Schärfe und Sinn erst allmählich aus dem scheinbaren Unsinn heraussickern."
“Wieder klappert die Wortmühle am rauschenden Bach des Diskurses”, beobachtet Ulrich Weinzierl in der Welt (1.06.2010). “Diesmal fließt, beziehungsweise rast er durchs Wiener Akademietheater. Gerne würde man sagen: Es reicht!” Aber so ganz kann sich Weinzierl dem Charme des Abends nicht entziehen: Nach halbstündiger Verzögerung erlebt er “einen Hexenkessel des hellsten Wahns, hinter dem listige Intelligenz hervorblitzt.”
Stephan Hilpold schreibt in der Frankfurter Rundschau (2.6.2010): Hollywood und René Pollesch teilten die Leidenschaft für die "große Emotion", die sich bei Pollesch schon lange in "pure Hysterie" verwandelt habe. Worum sich die Erregung in "Peking Opel" drehe, sei "so genau" nicht zu sagen. "Um fehlende Inspiration, um die verschwindende Muse, die Wahrheit in der Sprache, die tagtägliche Lüge." Man könnte es auch "das Pollesch-Problem" nennen, eine "Abwandlung des Adorno-Problems: Wie führe ich ein richtiges Leben im falschen?" In Wien schnurre die "Pollesch-Maschinerie" in "vielen Momenten" zwar "herrlich" vor sich hin, hätte aber mehr Öl, sprich Proben vertragen. Im Zentrum des Abends stehe der "grandiose Martin Wuttke". Er funktioniere wie "ein Durchlauferhitzer, aus dem sich Slapstick, Alltagskonversation und Theoriegebrabbel brühend heiß ergießt". Seine Kompagnons auf der Bühne täten sich da schwerer, "die wahnwitzigen Erregungsmomente" erreichten sie nur selten.
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 10. Oktober 2024 Literaturnobelpreis für Han Kang
- 08. Oktober 2024 euro-scene Leipzig: Kritik an Einladung palästinensischer Produktion
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
- 04. Oktober 2024 Internationale Auszeichnung für die Komische Oper Berlin
- 04. Oktober 2024 Kulturschaffende fordern Erhalt von 3sat
- 04. Oktober 2024 Deutscher Filmregisseur in russischer Haft
- 01. Oktober 2024 Bundesverdienstorden für Lutz Seiler
neueste kommentare >
-
euro-scene Leipzig Kuratorische Unwucht
-
euro-scene Leipzig Tendenziös
-
euro-scene Leipzig Versuch einer Antwort
-
euro-scene Leipzig Was übersehen wird
-
Kultursender 3sat bedroht Regionalprogramme einsparen
-
Neumarkt Zürich Klage Harte Strafen verhindern
-
euro-scene Leipzig Nachfrage
-
euro-scene Leipzig Alle oder keiner
-
Schiff der Träume, Berlin Immer wieder beeindruckend
-
Kleinstadtnovelle, Magdeburg Schernikau, wiedergelesen
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Das Publikum ist dem Hr. Direktor anscheinend ganz egal. Es wird nicht einmal ein Ersatztermin angeboten, sondern nur mehr eine Aufführung in der heurigen Saison und tschüß.
Stehen Sie jetzt auf dem Kopf, oder was soll die merkwürdige Fragerei? Bei mir verhärtet sich der Eindruck, das der Kritiker hier a) entweder noch nie bei Pollesch war, b) eher sonst Modenschauen bespricht oder c) ein Achterl zu viel Heurigen vor der Vorstellung hatte.
Wenn es tatsächlich so lustig war, erübrigt sich doch jede Frage nach der politischen Relevanz und es wären jetzt nur noch die Fragen zu klären, ob das Hirn links oder rechts rum gerührt wird, wie man einen „Peking Opel“ fährt und wie hoch die Absätze der Damenschuhe tatsächlich sind?
Ich war in der gestrigen Vorstellung, in der noch Plätze frei waren. Auch erzählte mir meine Sitznachbarin, dass ihr die Karten von Samstag auf Sonntag an der Kasse umgetauscht wurden. Also ganz so dem Publikum feindlich wie Sie es darstellen, war die Direktion nicht als sie zu Gunsten der Qualität auf Quantität verzichtet hat.
ad 5
Ich habe gestern Stunden bevor ich ins Theater ging Ausschnitte aus Yoko Onos Film "Rape" gesehen, vielleicht inspiriert davon erschien mir auch dieses Stück vor allem ein Vorführen der Persönlichkeitsveränderungen, der Zwänge und Ängste, die ständige Präsenz der Öffentlichkeit in sich trägt.
Aber sei's drum: Das Burgtheater ist wahrscheinlich ohnehin das einzige Theater, das eine Premiere so ungünstig ansetzt, dass selbst im Besten Fall nur vier Vorstellungen möglich sind, und es dann gar nur zwei werden. Vielleicht liegt es daran, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler so selten Zeit haben - nur, warum besetzt man dann so ungünstig? Vielleicht will aber der Hausherr Zeit für seine Inszenierungen freihalten, wer weiß?
Nichts desto trotz freue ich mich auf die Herbst-Vorstellungen - in Wien gibt es ja einstweilen durch die Festwochen Stefanie Carp sei Dank genug tolles Theater zu sehen.
Nur zur Information:
Herr Spengler und Herr Hosemann spielen heute Abend in der Berliner Volksbühne in "Medea".
Die interessierten Wiener können ja noch schnell einen Flug buchen.
Falls wirklich ein Teil der Karten getauscht wurde ist das ein skandalöses Vorgehen.
Die Sonntagsaufführung war nicht einmal im Internet angeboten, sodaß überhaupt keine Chance bestand Karten zu bekommen.Freut mich, dass Nr. 7 doch noch Karten hatte.
Beschreiben Sie doch erstmal Ihre eigene Wahrnehmung, bevor sie hier jetzt wieder den Pollesch-Fan als Hampelmann-Voyeur spielen. Und ansonsten gehen Sie vielleicht doch lieber in den Zirkus oder ins Pornokino, da wird ihnen die Art heftiger Befriedigung geboten, deren Gehalt sie nicht enttäuschen wird. Da müssen Sie dann auch nur noch drüber nach-denken, wie hoch die Absätze der Damenschuhe tatsächlich sind.
Nummer 7 ist stets ihre eigene Stimme!
Die nach Erzählung der Zuseherin umgetauschte Karte befand sich im Rang links, 1. Reihe Seite. Möglicherweise handelte es sich um eine Wahlabo-Karte, da sie etwas von einer Kategorie erwähnte. Es hat ihr - das wird sie allerdings nicht fröhlicher stimmen - sehr gut gefallen.
Vielleicht sollte man doch wieder die Kleinstaaterei einführen. Da hatten die Schauspieler noch wirklich feste Engagements und es war bei Strafe verboten, ohne Einverständnis des Landesvaters, außerhalb der Landesgrenzen zu verweilen. Schiller konnte noch ein Lied davon singen, der musste sich zu seinen eigenen Premieren außer Landes schleichen.
Vielleicht meint Pollesch ja auch nur, dass Opel bald von China übernommen wird und dass das dann in einer Antrittsrede des neuen Bundespräsidenten Deng Xiaoping im Radio verkündet wird.
Übrigens können Sie auch die anderen Kritiken lesen, es gibt also eine Vorlage von Ernst Lubitsch: "Serenade zu dritt“ und da kommen wir dann dem Friedrichstadtpalast doch ziemlich nahe, oder? Da wird dann Giorgio Agamben vom Kurier auch gleich noch zum Neo-Marxisten gemacht, halt mich fest. Das Schlusswort der Wiener Zeitung ist auch kaum noch zu toppen. Mal sehen, wie lange die zum Nachwirken brauchen, bis es zu sickern beginnt.
Das Musenthema kann man da insofern anknüpfen, als dass die Muse der Opel ist. Denn nach Godard verbrennt die Kunst das, wovon sie sich inspirieren lässt - also zum Beispiel das Leben anderer Menschen - und macht es zu Geld.
Darauf spielt auch Stemann an, wenn er selbstironisch darauf verweist, dass er Jelineks Texte auch nur "vernutzt", was ihm von anderer Seite dann wieder als "Regietheater" vorgeworfen werden könnte - deswegen das blutüberströmte Jelinek-Double (Patrycia Ziolkowska).
Schließlich, Giorgio Agamben ist ein italienischer Philosoph, welcher von den Thesen Carl Schmitts ausgeht und letzteren quasi "linksrum" liest. Man kann Carl Schmitt natürlich auch "rechtsrum" lesen, und da sind wir dann bei der Neuen Rechten. Aber das führt jetzt vielleicht wirklich zu weit.
AfghanOpoly oder das große Spiel um ein Amt.
Eine Groteske für Martin Wuttke.
Kanzleramt.
Es läuft im Fernsehen die Rücktrittspressekonferenz des Präsidenten. Der Ton ist abgeschaltet.
Die Kanzlerin: Also, das hätte er nicht sagen dürfen, das mit den Handelswegen.
Außenminister: Ja, es rufen schon den ganzen Tag die hiesigen Burka-Schneider an, ob da alles noch sicher ist. Soll ich mal runter fahren?
Verteidigungsminister: Du bleibst hier.
Kanzlerin: Hören Sie auf zu streiten. Meine Herren, ich brauche Vorschläge. Wo kriegen wir einen neuen Präsidenten her?
Stille.
Die Kanzlerin stellt den Ton wieder an.
Präsident: Habe die Ehre, Habe die Ehre, Habe die Ehre...
Er schaut verkrampft, seine Frau zieht an seinem Jackenärmel.
Die Kanzlerin hämmert auf den Fernseher ein: Ich finde den Ausschaltknopf nicht.
Sie schaltet endlich den Ton wieder ab. Stille. Der Präsident wird von seiner Frau vom Mikrofon weg gezerrt.
Da stürmt der Kanzleramtsminister herein: Frau Kanzlerin, der Raab ist am Telefon. Er will uns eine Castingshow anbieten.
Kanzlerin: Wer, was, eine Castingshow?
Sie reißt ihm den Hören aus der Hand: Herr Bohlen?
Alle: Raab, der heißt Raab.
Kanzlerin: Ach so. Herr Raab, was kann ich für Sie tun?
Raab: Ich biete ihnen eine Castingshow an. Das hat ja mit der Lena schon prima geklappt. So einen Erfolg könnten Sie dringend brauchen. Ich habe bereits mit allen TV-Sendern Verträge abgeschlossen.
Kanzlerin: Wie soll denn das ablaufen?
Raab: Na, ist doch ganz einfach. Es melden sich alle Bürger mit mindestens Abitur und echt authentischer Ausstrahlung. Wenn alles gut geht, sind wir vor dem nächsten Song Contest fertig.
Kanzlerin: Was, solange und singen sollen die auch noch? So was hatten wir doch schon.
Raab: Ja, aber bedenken Sie doch mal, dieses tolle Image. Die Lena wird doch jetzt direkt zur neuen Königin der Herzen.
Der Fernseher läuft und zeigt Lena die Satellite singt. Die Massen kreischen.
Kanzlerin: Danke, Herr Horn, Sie haben mich da auf eine Idee gebracht.
Sie legt auf und wirft den Fernseher aus dem Fenster.
Kanzlerin: Meine Herren, ich habe einen Plan.
Alle schauen sie gespannt an.
Kanzlerin: Meine Herren, wir führen die Monarchie wieder ein.
Alle schauen verblüfft.
Außenminister: Und wer soll König werden? Also, der Pinkelprinz geht nicht, zu schlechtes Image.
Verteidigungsminister: Ja, und der Franz ist schon Kaiser.
Kanzlerin: Meine Herren, es muss doch einen geben, der mindestens drei Sätze ohne zu stocken hintereinander sprechen kann und nicht ständig aus der Rolle fällt.
Kanzleramtsminister: Frau Kanzlerin, ich hab es. Ein Schauspieler muss her.
Alle: Ein Schauspieler, wo sollen wir den denn hernehmen?
Kanzleramtsminister: Ich kenne da einen Regisseur, den Pollesch, der hat auch Ahnung von Politik. Der kann uns sicher helfen.
Nimmt das Telefon, wählt und gibt den Hörer der Kanzlerin.
Am anderen Ende: Ja, bitte?
Kanzlerin: Herr Castorf?
Alle: Pollesch, der heißt Pollesch.
Kanzlerin: Ah ja, Herr Pollesch, können Sie uns einen guten Schauspieler empfehlen?
Pollesch: Na klar, ich mache gerade in Wien was mit dem Wuttke. Wie sitzen hier zusammen im Cafe Imperial.
Kanzlerin: Imperial? Gut. Geben Sie mir den Mann.
Am anderen Ende: Wuttke, ja, bitte?
Kanzlerin: Wir brauchen einen richtig guten Schauspieler für eine Königsrolle.
Wuttke: Da sind Sie bei mir genau richtig, ich habe sie alle drauf. Wen wollen Sie haben, den Heinrich, den Edward oder den Richard?
Die Kanzlerin: Also, ich dachte da mehr an so was bodenständiges und volksnahes.
Wuttke: Hm, also mehr so was wie den Ubu. Das könnte gehen.
Alle mit Fragezeichen in den Gesichtern.
Wuttke: Wie hoch wäre denn die Gage? Und ich brauche täglich die Flugbereitschaft, ich habe ein festes Engagement am Burgtheater.
Kanzlerin: Unser Budget ist leider nicht so üppig. Wir können nur 10 Freiflüge im Jahr spendieren und es gibt ja hier auch ein schönes kleines Schloss.
Wuttke: Also, den Lear geb ich euch nicht. Da könnt ihr euch einen anderen Dummen suchen.
Er legt auf. Die Kanzlerin ist verzweifelt: Meine Herren, jetzt hilft nur noch eins.
Sie holt tief Luft. Alle schauen wieder sehr gespannt.
Kanzlerin: Meine Herren, es hilft nichts, jetzt müssen wir Fußballweltmeister werden. Dann überstehen wir auf jeden Fall die nächsten 4 Jahre.
Alle knien sich vor ein Jogi-Löw-Bild und fangen an zu beten.
ENDE
"Das Spektakel hat die ganze Schwäche des abendländischen philosophischen Projekts geerbt, das in einem von den Kategorien des Sehens beherrschten Begreifen der Tätigkeit bestand; [...] Es verwirklicht nicht die Philosophie, es philosophiert die Wirklichkeit." (Guy Debord)
Und wer weiss, vielleicht wird ja auch bald Lars von Triers "The Boss of it All" Wirklichkeit. Ein Schauspieler wird angeheuert, den Mitarbeitern einer Firma zu kündigen, weil der Chef selbst, welcher sich als Stellvertreter-Chef dieses fiktiven Chefs ausgibt, sich damit der persönlichen Verantwortungsübernahme entziehen kann. Das Theater beginnt dort, wo das Theater endet.
Sie sind ja nie zufrieden. Wo soll ich denn da jetzt noch ein Radio einbauen? Tonloses Radio funktioniert vielleicht noch in Bildern aber nicht als Text. Fernsehen ohne Ton muss fürs erste reichen. Das ist wie mit der Anarchie. Ein bisschen geht immer, all zu viel davon läuft oftmals aus dem Ruder, siehe König Ubu.
http://nachtkritik-stuecke2010.de/index.php/auswahl/418
Ein gutes Beispiel, wie man diesen „Realismus der kleinen Anzeichen“, wie es Christian Rakow nennt, umgehen kann, hat übrigens Philipp Löhle mit den Überflüssigen gegeben. Hier muss der Zuschauer noch kleine Umwege denken und kann nicht nur eindeutige Bilder entschlüsseln. Hier gut, da böse gibt es nicht. Löhle zeigt mit seinem kleinen Eastern sehr gekonnt, wie dieses Ungewohnte im Realismus aussehen könnte. Vielleicht liegt ja tatsächlich im Changre eine Chance der Beliebigkeit zu entkommen.
Schweres Wort und schwer zu machen.