Bilder vom Weh- und Wurmsein

von Theresa Luise Gindlstrasser

Wien, 31. Mai 2015. Nach dem endgültigen Ende der Vorstellung hat jemand neben mir gesagt: "Schön." Hat das ohne Ausrufezeichen gesagt. Hat das in diesem Ton gesagt, der von Gegenrede keine Ahnung hat, der Ton, den wir anschlagen, wenn wir uns über etwas klar zutage Getretenes verständigen wollen. Und ja. Das ist schön, wenn der Chor aus Antigone als Gesangschor über die Ränge im Burgtheater verteilt steht, wenn der also von überall her die – so zwar inhaltlich unverständlichen – Kommentarzeilen ätherisch im Raum verteilt. Die Musik dazu kommt von Anja Plaschg aka Soap & Skin und Anton Spielmann von 1000 Robota. Und Soap & Skin ist ja längst schon Expertin fürs Allmächtige. Großes Klavier, zerbrechliche Stimme, Texte vom Weh- und Wurmsein des Menschen. Das ist doch schön.

Etwas ist größer

Und längst noch nicht alles: Da gibt es eine burgbühnenhohe Wand bestehend aus 80 Lampen. Wenn der Chor singt und die mächtige Anlage wummert, dann fährt diese Wand manchmal nach vorne, dann nach hinten, öffnet sich, dreht sich oder steht einfach da. Derweil auch Nebelschwaden. Dicke düstre Nebelschwaden durchbrochen von den Lampen. Gleißend hell zum Augen-Schließen oder sachte aus der Ferne, Hoffnungsschimmer, alles können diese Lampen. Das alles ist schön. Licht, Nebel und laute Musik. Das kleine Einmaleins des Bühnenzaubers. Funktioniert immer prima. Bis dann der Verdacht mir kommt, hey, da wird mit mir gerechnet. Nein, kaufen lassen will ich mich nicht, und Katharsis geht sowieso besser ohne Konstruktionsprinzip vor Augen.

So zerfällt Jette Steckels "Antigone"-Inszenierung in zwei Hälften. Zum einen das allmächtig Mächtige. Ein Versuch von Atmosphäre. Hierher gehört das kleine Einmaleins des Bühnenzaubers. Jedes Mal wenn der Chor zwischen den Szenen singt, das Licht irgendwas und die Bühne noch was anderes macht, dann tritt klar zutage: Das ist schön, und das ist super beliebig. Ob sich diese Bühne rechts rum oder links rum dreht, ist doch egal. Das alles ein Effekt, in meine Richtung gezielt. Das alles ein Statement, Achtung Mensch!, du Weh und Wurm, da ist etwas größer als du.

Antigone 101 560 Georg Soulek u"Antigone" in Wien: radical-Theater-chic im Gegenlicht.  © Georg Soulek

Kein Tritt, kein Laut im Orange

Dass nicht nur eine Theaterbühne größer ist als so ein Menschenleben, damit setzt sich die zweite, deutlich kleiner geratene Hälfte der Inszenierung auseinander. Da wird nämlich "Antigone" gespielt. Natürlich wird auch in der ersten Hälfte "Antigone" gespielt. Da wird aber hauptsächlich mit einer sehr nahe liegenden Idee von Antigone als Hüterin eines moralisch großen Rechts gespielt. Da, wo der Text auftaucht, ist alles nicht so einfach. Da wird am Anfang schon der tote Polyneikes in den roten Sandboden auf der Bühne gelegt. Und es stellt sich die Frage ob diesem Toten die gleichen Riten widerfahren dürfen wie dem Eteokles, seinem Bruder. Dürfen sie nicht, sagt Kreon. Während Eteokles starb als er Theben verteidigte, starb der andere als Angreifer eben dieser Stadt. Da tut es nichts zur Sache, wer vorher wem schon Unrecht angedeihen ließ.

Aber während der tote Polyneikes in dem roten Sandboden liegt, kommen Antigone und Ismene, die beiden Schwestern der gefallenen Brüder. Kommen in die lautlos orangene Bühnenleere. Sprechen dort mit Mikrophon, sonst dringt kein Tritt, kein Laut nach unten. Beide tragen Unterwäsche, sind fast nackt. Gehen wie Gollum, sind schutzlos einem Leben ausgeliefert. Und Antigone beharrt darauf, dass vor dem Tod die Menschen gleich sein müssten, dass also alle Tote begraben werden müssen, weil der Tod, der ist größer als wir, da sind wir alle gleich.

Antigone und Ismene kommen nicht wieder so besonders auf die Bühne. Aenne Schwarz und Mavie Hörbiger müssen später ganz viel schreien, krächzen, so wie Frauen halt so schreien, krächzen, wenn sie es in griechischen Tragödien tun. Schnell verpufft die Vorzeitlichkeit der ersten Szene. Antigone muss sich wehren gegen ein staatliches Unrecht und hält den Blick nach oben, die Hände erstarrt. Sie muss auch kämpfen, dabei stolz und laut atmen, bleibt eine mythisch-moralische Figur ohne interessante Verwirrung.

Ansprachen auf dem Steg

Kreon ist da zugänglicher. Als König, weil das ist er nun geworden, stellt sich auf die Seite des Staates. Diesen zu konservieren, diesen zu stärken, unterscheidet er zwischen solchen, die dasselbe taten, und solchen, die von außen die Ordnung der Dinge attackierten. Joachim Meyerhoff als Kreon übernimmt sein Amt in Unterhose und Umhang. Die goldene Krone auf seinem Kopf scheint ihm noch nicht recht fest zu sitzen. Er hält Reden, auch noch in den Gesten eloquent, spricht und erläutert für das Publikum, das oft genug im hellen Saal vom – in diesen hineinreichenden – Bühnensteg aus angesprochen wird. Es scheint, er muss sich und der Stadt noch was beweisen, muss ein Exempel seiner neuen Macht erst statuieren. Dann will er es gar nicht glauben, dass andere sich seiner Weisung widersetzen. Will aber seinem Wort und der von ihm etablierten Rechtsstaatlichkeit treu bleiben. Desto weiter im Stück, desto mehr Kleider hat Meyerhoff am Leib. Am Ende steht er da mit Anzug und bindet sich eine Krawatte um den Hals. "Räumt mich weg", sagt er, wenn Antigone von der Decke baumelt und Haimon, der eigene Sohn, sich über den Verlust seiner Braut selber getötet hat. Ein König kann sich aber nach geltendem Recht nur selber wegräumen, alles andere wäre Angriff von außen und Verstoß gegen den Staat. So zieht Kreon die Krawatte fester.

 

Antigone
von Sophokles, Fassung des Burgtheaters nach einer Übertragung von Frank-Patrick Steckel
Regie: Jette Steckel, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Pauline Hüners, Musik: Anja Plaschg (Soap&Skin), Anton Spielmann (1000 Robota), Licht: Peter Bandl, Dramaturgie: Florian Hirsch, Carl Hegemann, Chorleitung: Hannes Marek.  
Mit: Aenne Schwarz, Mavie Hörbiger, Joachim Meyerhoff, Mirco Kreibich, Martin Schwab, Philipp Hauß, Oliver Masucci, Sebastian Jung, Tobias Margiol, Bernhard Mendel, Tobias Wimmer, Arthur Klestil, Jacob Ogonowski.  
Chor: Sophie-Christine Behnke, Bernd Birkhahn, Aaron Friesz, Hans Dieter Knebel, Maria Magdalena Mund, Robert Reinagl, Rebekka Reinholz, Marie-Luise Stockinger.
Chorsänger: Stefan Adamski, Anna Anderluh, Karin Bachner-Ravelhofer, Boglárka Bábiczki, Cho Da-young, Kiril Chobanov, Stefan Drnek, Maria Ecker, Michael Feigl, Hans-Jörg Gaugelhofer, Claudia Haber, Helmut Höllriegl, Christian Klmykiw, Arthur Koncar, Andreja Krt, Patrick Kühn, Nicole Lubinger, Peter Lukan, Marie-Christiane Nishimwe, Andreas Salzbrunn, Elisabeth Sturm, Gerhard Sulz, Joachim Unger, Thekla Wagner, Michael Weiland, Andreas Werner.  
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 

 
Kritikenrundschau

"Mit Wucht, Intelligenz und Übermaß an Pathos" habe Steckel die "Antigone" umgesetzt, berichtet Norbert Mayer in der Presse (2.6.2015). Das Ensemble, der vielstimmige Chor und die "originelle Musik" trügen zum "Gelingen" der Inszenierung bei. "Möchte man etwas einwenden gegen diese ziemlich originelle Aufführung, könnte man bemängeln, dass sie im Gefühl phasenweise übertrieben geraten ist. Doch das wäre kleinlich bei einer Arbeit, die aufs Megalomane zielt und hemmungslos Emotionen weckt."

Die Inszenierung "zündet nicht", vermeldet Ronald Pohl im Standard (2.6.2015). "Wie festgebannt bleibt Meyerhoff in einer Art Trance gefangen, ein Monarch von starrer Benommenheit. Immer dann, wenn die Abgründe gähnen und man meint, die Positionen wären untereinander nicht mehr zu vermitteln, wirft die Regie die FM4-Maschine an." Der "wahre Held der Aufführung" sei "eine gigantische Lichtmaschine. Ein Hoch dem Verblendungszusammenhang."

Steckels "Antigone"-Interpretation "geht unter in einem Wust an Einfällen", berichtet Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.6.2015). An den Protagonisten Aenne Schwarz als Antigone und Joachim Meyerhoff als Kreon liege "die Schwäche des Abends" nicht. "Das Unbehagen" rühre vielmehr aus der neuen Textfassung. "Viele Textstellen wurden fallengelassen, aber die Leere dann durch pompöse Musikeinlagen ersetzt. Die kleinen und großen Fragen, die erst in die Stille hineingesprochen Wirkung entfalten können, werden in Bombast ertränkt."

Eine "Inszenierung, wie sie mackerhafter nicht sein könnte" an einem "lauten, angeberischen Abend" hat Wolfgang Kralicek von der Süddeutschen Zeitung (2.6.2015) am Burgtheater erlebt. Steckel "will den sperrigen Text pur wirken lassen, weshalb in ihrer Inszenierung nicht gewichtet, sondern gewuchtet wird". Die "recht nassforsch übersetzten Verse" der Neuübersetzung werden "mehr deklamiert als interpretiert, auch charakterisiert sind die Protagonisten ganz klassisch: Antigone (Aenne Schwarz) ist das heldenhafte Opfer, Kreon (Joachim Meyerhoff) der technokratische Täter. So witzlos wie hier hat man diesen Schauspieler noch nie erlebt (...)."

"Eine akustische Überwältigungsaktion, die aufs Zwerchfell zielt und durchschlägt, bevor der Kopf zu denken beginnt", hat Barbara Villiger Heilig von der Neuen Zürcher Zeitung (2.6.2015) in Wien gesehen. "Vom Musikalischen her" habe Steckel ihre Sophokles-Interpretation konzipiert und ihre "Chiaroscuro-Bilder, nach und nach aus dem Bühnennebel auftauchend, haben es in sich."

Kommentare  
Antigone, Wien: keinesfalls beliebig
Ja ,es ist wirklich schön und keinesfalls beliebig, wenn einmal ein Stück stattfindet, das nicht von einem größenwahnsinnigen Jungregisseur oder greisen Theaterzertrümmerer bis zur Unkenntlichkeit verblödelt wurde. Einfach nur das Stück und das kleine Einmaleins des Bühnenzaubers, mehr braucht es bei guten Regisseuren nicht, wie man sieht.
Antigone, Wien: schon klar
Es geht doch nichts über ungefilterte Ressentiments, die man im Netz sinnfrei und völlig anonym verbreiten kann. Einfach nur das Stück. Schon klar.
Antigone, Wien: harte Bandagen
Ach, ich kann's nicht mehr hören, dieses Herbeiphantasieren irgendwelcher angeblicher "Theaterzertrümmerer", als wäre die jahrtausendalte Kunst des Theaters so etwas Armes, Fragiles, Zerbrechliches, dass irgendein noch so kleiner oder großer Furz von Mensch das mal so eben mir nichts dir nichts in einer einzigen Inszenierung zertrümmern könnte.

Und wo ist das Problem mit Größenwahn? Wenn das Theater doch an was krankt, dann vielmehr an einer falschen Bescheidenheit in der Wahl seiner Mittel, an mangelnder Konsequenz.

Wenn "das Theater" was aushält, dann, mit harten Bandagen wie ein Boxsack traktiert, auf die Probe und den Kopf gestellt zu werden und sich trotzdem behaupten zu müssen - am Ende geht's ohnehin als Sieger heraus (es sei denn, man spült es weich: dann verflüssigt sich die Kunst gleich mit).

"Einfach nur das Stück" - was soll'n das sein, bitte? "Das Stück" ist erstmal nur eine Aneinanderreihung von Zeichen, die Wörter ergeben, die aber noch lange weder Theater oder Stimme noch Körper sind. "Einfach nur das Stück" gibt's gelb im Bücherschrank.

Und zum "kleinen Einmaleins des Bühnenzaubers" - willkommen im Theaterstadl!
Antigone, Wien: Sichtbehinderung
Das wäre sicher eine wichtige, vielleicht auch "sehenswerte" Inszenierung, wenn, ja wenn ich nur was gesehen hätte. Wer, wie ich, in der 3. Parkettreihe saß, hat durch den unsäglichen Steg, der weit ins Parkett gebaut war und auf dem sich gefühlte 50% der Aufführung - und das waren die wichgtigsten - nur eine Hörfassung erlebt, weil das Spiel zwischen Antigone, Kreon, Haimon, Ismene in seinem Rücken statt fand. Den Rest, der auf der Hauptbühne gespielt wurde, konnte ich wegen der ebenso unsäglichen Lampenwand, die die ganze Bühnebreite einnahm, nur mit geschlossenen Augen anhören, weil die grelle Blendung ein Hinschauen unmöglich machte, besonders wenn diese aggressive Riesenwand nach vorne fuhr und so dem Zuschauer direkt auf den Leib rückte. Der einzige "dramaturgische" Sinn dieser Bühnenarchitektur scheint mir zu sein, den Zuschauer einzuschüchtern, oder, wenn das in der pausenlosen Aufführung möglich gewesen wäre, zu verjagen. Dass die wichtigen Textpassagen des Chores, zwar von vorne exakt dirigiert, aber völlig unverständlich gebrüllt, auch nur zu "hören" waren, weil die ca.12 Schauspieler von meinem Platz aus unsichtbar im Parkett verteilt waren, machte den Unfug dieser Zuschauermissachtung nur noch perfekter. Gab es denn im Burgtheater niemanden, der gegen diese Zuschauerverachtung eingeschritten wäre? Fazit: Burgtheater: Unser Feind: der Zuschauer.
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