Das Feuer ist in den Köpfen

26. November 2022. Kann man Dostojewskijs politischen Nihilismus, sein Nachdenken über Gott und eine versinkende alte Welt, wie es den Roman "Dämonen" durchzieht, auf die Bühne übertragen? Johan Simons macht mit einem Starensemble den Versuch. Und lässt das Publikum durch aktuelle Bezüge erschaudern.

Von Reinhard Kriechbaum

 

"Dämonen" am Burgtheater Wien © Matthias Horn

Wien, 26. November 2022. "Ich weiß nicht, wieso ich hier bin", ist Nikolajs erster Satz nach der Pause, und dafür gibt's spontan Zwischenapplaus. Zu diesem Zeitpunkt hatten einige Premierenbesucher bereits für sich entschieden, dass sich ihnen der Grund fürs Hier-Sein in den satten zweieinhalb Stunden des ersten Teils nicht recht erschließen wollte. Davon zeugten so manch frei gewordene Plätze. Ein durchwachsener, letztlich über vierstündiger Abend, eigenwillig pendelnd zwischen Betriebsamkeit und Lähmung, zwischen krassem Outrieren und bezwingend argumentationsstarken Momenten. Ein beständiges Wechselbad.

In Dostojewskijs "Dämonen" ("Böse Geister" in der Übersetzung von Svetlana Geier, auf der die hier inszenierte Textfassung im Wesentlichen beruht) treiben die Titelgestalten ein buntes Völkchen der dekadenten vorrevolutionären russischen Gesellschaft vor sich her. Alle spüren instinktiv, dass da ein System an sein Ende stößt. In komplizierten unbewältigten Liebesgeschichten werden auch ideologische Fragen mitverhandelt.

Menschliche und politische Ausweglosigkeiten

Vollmundig berufen sich einige auf Gott, ohne auch nur entfernt an dessen Existenz zu glauben. Bei mancher Argumentation wird einem Angst und bang. Denn gerade jetzt arbeiten russische Orthodoxie und Präsident Putin einander wieder in diabolischer Symbiose zu – in den "Dämonen" ist viel von dem Gedankengut eines vermeintlich auf göttliche Ordnung sich gründenden russischen Staatswesens vorgezeichnet.

Johan Simons hetzt das Personal in einer Art goldenem Käfig auf- und gegeneinander. Nadja Sofie Eller hat ihm eine Bühne aus metallisée-schimmernden Wänden ohne Türen gebaut. So hermetisch abgeschlossen und doch so riesenhaft. Da können klaustrophobische Gefühle ebenso aufkommen wie Agoraphobie. Unmengen unterschiedlicher Sitzmöbel stehen herum, bilden Inseln, werden herumgeschoben. Meistens sind alle Protagonisten zeitgleich auf der Bühne, und das ist ein starkes Signal: All diese Leute wissen im Grunde genau Bescheid übereinander, über ihre menschlichen und politischen Ausweglosigkeiten.

Verwickelte Fäden

Wollte man aus den "Dämonen" vor allem die verunglückten Liebesgeschichten herausarbeiten, käme eine bizarre Tragikomödie heraus. So leicht aber macht es Johan Simons weder sich noch seinem Publikum. Er führt uns die Handelnden mit bizarren Neurosen vor, ähnlich wie sie Tiere in zu engen Käfigen entwickeln. Mehr Exaltiertheit als Depression.

Nicholas Ofczarek ist der gewesene Frauenheld Nikolaj, dessen Erscheinen in der nicht näher definierten kleinen Stadt Betriebsamkeit auslöst. Seine Mutter Warwara (Maria Happel) ist eine Beziehungs-Arrangeurin, deren Wortschwällen niemand gewachsen scheint. Aber sie wird ob des Ganges der Dinge fast vollends verstummen. Der bei ihr wohnende erfolglose Dichter Stepan (Oliver Nägele) hat sich in eine Fantasiewelt aus Humanismus und Liberalismus hinein spintisiert, urteilt aber doch messerscharf: "Öffentliche Meinung machen die Arbeitenden". Dazu zählen die hier auf der Bühne gewiss nicht, von denen ein jeder irgendeinen Faden in Händen zu halten glaubt, an dem er sich in eine ungewisse Zukunft hinüber zu hanteln hofft. Aber diese Fäden sind zu kurz und zu sehr verwickelt ineinander obendrein. Wir machen hier gar nicht den Versuch, das aufzudröseln.

Daemonen 3 MatthiasHorn uSarah Viktoria Frick, Marcel Heuperman, Nicholas Ofczarek © Matthias Horn

Um Nikolaj schwirrt ein Grüppchen ganz eigenartig sich gebärdender Frauen. Lisa (Birgit Minichmayr) wirkt wie einem Zirkus entsprungen, schlägt gerne mit der Kamelgerte um sich und inszeniert sich als persönlichkeitsstarke Femme fatale. Ganz anders Dascha (Dagna Litzenberger Vinet), die beinah verstummt ist, wie willenlos ferngesteuert wirkt. Aus einer Laune heraus hat Nikolaj einst im Geheimen die im Roman als geistig und körperlich eingeschränkt beschriebene Marja (Sarah Viktoria Frick) geheiratet. Sie tanzt und humpelt jetzt im Tütü herum, wie eine mehr als skurrile Balletttänzerin.

Beichte eines Lotterlebens

Ihr Bruder, der versoffene Ignat, versucht Nikolaj zu erpressen, der die Ehe weiterhin geheim zu halten trachtet, vor allem vor seiner Mutter, die für ihren Sohn Hochzeitspläne mit Lisa ausheckt. In einer beeindruckenden Szene ist Nikolaj ausnahmsweise alleine auf der Bühne und legt so etwas wie die Beichte seines Lotterlebens ab. Er schildert minutiös und scheinbar emotional unbeteiligt, wie sich eine junge Frau, nachdem er mit ihr ein Verhältnis begonnen hatte, erhängt hat. Damit liefert Nicholas Ofczarek einen schauspielerisches Bravourstück.

Zu der Melange aus privaten Menetekeln in den "Dämonen" kommt die politische Agitation des zwielichtigen jungen Pjotr (Jan Bülow), der aus dieser Versammlung von Orientierungslosen eine sozialistische Keimzelle formen möchte. Nikolaj soll als "Aristokrat, der sich dem Volk verschreibt", nach Pjotrs Vorstellung eine Führungsposition einnehmen.

Daemonen 4 MatthiasHorn uEndspiel zwischen unzähligen Sitzmöbeln © Matthias Horn

Immer wieder hält Johan Simons den gesellschaftlichen Pseudo-Totentanz an, in dem diese Gesellschaft ziemlich überdreht einem für viele letal endenden Fiasko entgegen taumelt. Er lässt dann eine Figur nach der anderen ihre politischen Ansichten darlegen – und da wird der Abend verdammt mühsam, auch wenn man diese Elogen allemal als Zitatsammlungen mit Gewinn ausschlachten könnte.

Da erweist sich, dass die "Dämonen" eben doch durch und durch Roman sind, in Ruhe gelesen und reflektiert sein wollen. Vieles aus dieser Gedankenwelt verpufft auf der Bühne, und so hat der Abend letztlich viel Uneingelöstes. Viel Energie auf Zuseherseite geht mit dem Verfolgen von Vorgeschichten und Handlungssträngen drauf.

"Das Feuer ist in den Köpfen und nicht auf den Dächern", sagt die hellsichtige Marja gegen Ende. Diese Brandherde auszukundschaften, erfordert im Burgtheater Geduld und Sitzfleisch. 

Dämonen
von Fjodor M. Dostojewskij
Übersetzung Swetlana Geier
Regie: Johan Simons, Bühne: Nadja Sofie Eller, Kostüme: Greta Goiris, Licht: Friedrich Rom, Musik: Mieko Suzuki, Dramaturgie: Sebastian Huber.
Mit: Maria Happel, Nicholas Ofczarek, Oliver Nägele, Jan Bülow, Birgit Minichmayr, Itay Tiran, Dagna Litzenberger Vinet, Marcel Heuperman, Sarah Viktoria Frick, Ernest Allan Hausmann, Markus Hering.
Premiere am 25. November 2022
Dauer: 4 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

"Wirklich? So museal?", fragt Margarete Affenzeller im Standard (26.11.2022) angesichts einer Stückfassung, die bis ins Detail dem Roman verpflichtet bleibe. Die Herren wälzten differenziert Weltprobleme, die Damen fungierten als Heiratsobjekte. Archetypen des vorrevolutionären Russland halte Simons in seinem goldenen Bühnenkäfig gefangen. Die Wartenden empfingen den heimgekehrte Offizierssohn Nikolaj Stawrogin (Nicholas Ofczarek) wie einen Heiland. "Alsbald beginnt die sich an ihn heftende Welt zu bröckeln. Mit stierem Blick und erratischen Bewegungen sieht dieser überhöhte Mann im blassrosa Guru-Hemd und mit kinnlangen Rasputin-Haaren ungerührt zu." Birgit Minichmayr jazze ihre Lisa Tuschina "schrill zu einer Domina hinauf", Sarah Viktoria Fricks Hoppelgang als hinkende Marja Lebjadkina wirke maniriert und Maria Happel als Heiraten vermittelnde Witwe Warwara Stawrogina vollführe "eine wahre Salonkomödie" – die Regie habe die Verantwortung für die Inszenierung offenbar den Einzelauftritten übergeben.

"Simons Theater ist nicht immer frei von Längen. Das ist diesmal nicht anders. Seine Inszenierung verlangt auch vom Publikum Konzentration. Wer die allerdings aufzubringen vermag, dem erhellt die Aufführung auch ohne vordergründige Aktualisierungen die Gegenwart, in der uns die "-ismen", die schon Dostojewski beschrieb, heimsuchen wie Dämonen – derzeit vor allem der Nationalismus“, so Christoph Leibold vom Bayerischen Rundfunk (27.11.2022).

"Hat sich die Dramatisierung des Romans gelohnt? Als neuerliche Hinführung auf den Roman durchaus", schreibt Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.11.2022). "Wir sehen eine Gesellschaft exaltierten Unglücks, ohne allerdings auf seine genaue Spur gesetzt zu werden. Dazu ist selbst bei vier Stunden Spieldauer nicht genug Zeit." Die bösen Geister – "Nation und Volk, Tyrannei und Kunstreligion, Gottesknechtschaft und Revolution" – blieben Schatten ihrer selbst. "Im Roman bohrten sich die Ideen und Phrasen stärker in die Figuren hinein", so Kaube. "Doch ohne den Eindruck, dass wir nicht weit weg sind von Dostojewskis Tagen, wird in Wien niemand das Theater verlassen haben."

"Johan Simons gibt den Worten Raum und Zeit, vertraut seinen Schauspielerinnen und Schauspielern unbedingt. Und letztlich auch dem Publikum. Denn man muss sehr gut zuhören, was bei der Besetzung leicht fällt, aber man darf keine Anleitung erwarten", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (28.11.2022). Der Regisseur verzichte auf ein klar erkennbares Ziel seiner Inszenierung. Er erschaffe stattdessen ein lebendiges Tableau der Figuren und ihrer Ideen, dessen Betrachtung gegen Ende des ersten Teil durchaus auch ermüdend sei. "Aber aufregend ist es auch. Mühelos kann man das obwohl nie fürs Heutige zurechtgebogene Material, als Gedankenpanorama der Gegenwart lesen."

Petra Paterno von der Wiener Zeitung (29.11.2022) ist enttäuscht. Szenisches sei mit der Lupe zu suchen. Die vier Stunden zögen sich enorm in die Länge. "In der Entwicklung der Konflikte und der Charaktere tut sich auch kaum etwas, die Figuren bleiben einem fern und fremd." Und weiter: "Vor sich breitmachender Ermattung anlässlich sich fortsetzenden Bühnenstillstands geht so gut wie jedes Interesse am Text verloren." Schadensbegrenzung sei den Schauspielern zu verdanken. Und immerhin in einer Szene mit Nicholas Ofczarek sei das Dämonische in Simons’ Inszenierung auf geradezu unheimliche Weise präsent. "Ein rarer Moment an einem überlangen Abend, der immerhin erahnen lässt, was hier alles möglich gewesen wäre."

Zu Beginn koste Simons die Intrigen rund um heimliche und arrangierte Hochzeiten noch genüsslich aus, schreibt Andrea Heinz in der Zeit (2.12.2022). Doch ihm gelinge es nicht, dem komplexen Text Stringenz zu verleihen – "man hat das Gefühl, er ergibt sich der Überfülle", so Heinz. Dostojewskis Figuren stolzierten "auf der Bühne wie auf einer ewigen Abendgesellschaft herum, und ihre verfeinerten Weltanschauungen tragen sie wie ausgefallene Roben". Die Stühle? "Geisteshaltungen, auf denen man probeweise Platz nehmen kann." Als "dichte, starke Szene, fast das Gravitationszentrum des Abends", beschreibt die Kritikerin den Monolog Ofczareks über den Missbrauch einer 14-Jährigen durch seine Figur Stawrogin. Hier komme der Abend "kurz zu sich und den Kernthemen Dostojewskis …: Gibt es Gott, und wenn nein, was macht diese Freiheit aus dem Menschen? Wie geht er um mit dem Bösen, das er in sich hat?" Mehr Konzentration, Fokus und "weniger Weitwinkel", so Heinz, hätten dem Abend jedoch gut getan.

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