Schmierenkomödianten des Bürgertums 

16. April 2023. In ihrer Neubearbeitung des "Raubs der Sabinerinnen" schütteln Svenja Viola Bungarten und Anita Vulesica die Klamotte ordentlich durch – dabei lässt sie ein paar Federn, und ihr komisches Potential wird noch erhöht. Perfektes Timing meets ein entfesseltes Ensemble.

Von Reinhard Kriechbaum 

Dorothee Hartinger, Birgit Minichmayr, Sabine Haupt © Marcella Ruiz Cruz

16. April 2023. "Die Leute liegen (vor Lachen) unter dem Stuhl. Ich auch." Das hat immerhin Alfred Kerr anlässlich der Berliner Erstaufführung zugegeben. Wir brauchen uns also nicht Fremdschämen, auch wenn es eigentlich am Platz wäre, wenn heutzutage wieder irgendwo "Der Raub der Sabinerinnen" aufgeführt wird. Der Schwank der Brüder Franz und Paul von Schönthan aus dem Jahr 1883 ist seit hundert Jahren ja aus der Zeit gekippt und trotzdem scheinbar unverwüstlich. Jetzt im Akademietheater ordentlich aufgepeppt von Anita Vulesica und Svenja Viola Bungarten

Komödien-Expertinnen

Der adrett in Bögen gelegte Vorhang ist das einzig Ordentliche, was der Theaterdirektor Emanuel Striese im Moment seinem Publikum anzubieten hat. Er und die anderen Protagonisten lugen am unteren Rand hervor. "Es ist aus!" Alle schauen betropetzt drein und ringen die Hände. Allgemeine Blamage. "Der Raub der Sabinerinnen", literarische Jugendsünde des Gymnasialprofessors Gollwitz, ist durchgefallen. Doch dann: Vorhang auf, Rückblende. Was war da los, wie ist es dazu gekommen, dass "Der Raub der Sabinerinnen" das sinistre Bühnenlicht hat erblicken dürfen, obwohl die Gattin des ins Theater vernarrten Herrn Professors so peinlich drauf bedacht ist, dass ihre Familie auch nicht ein klein wenig anstreift an den Brettern, die in ihren Augen die Halbwelt bedeuten?

Der Raub der Sabinerinnen 1 Marcella Ruiz CruzLukas Vogelsang, Dietmar König © Marcella Ruiz Cruz

Tief durchatmen, die nächsten eindreiviertel Stunden kommt man nicht dazu. Birgit Minichmayr ist in die Rolle des Theaterdirektors Striese geschlüpft, der daherkommt mit breitkrempigem Hut und aufgemaltem Schnurrbart. Schaut aus wie ein Westernheld, dem der Gaul durchgegangen ist. Aber Striese bleibt ja seine verschwörerische Überredungskunst, Minichmayr schlägt mit leicht rauchiger Stimme einen urkomischen Slang aus Wienerisch und Bayerisch an. Das klingt ein bisserl hinterfotzig-schleimig und kommt dann wieder mit überrumpelnder Direktheit. Mit dem Stück verbindet man ja diese Figur als Paraderolle schlechthin. Diesmal kommt's aber anders.

Aufpluster-Contest

Wenn es darum geht, das Überdrehte noch weiter zu winden, sogar an einer ohnedies schon eng gedrehten humoristischen Doppelhelix zu zwirbeln, dann ist man bei Anita Vulesica an der richtigen Adresse. Darauf ist sie unterdessen abonniert. Dieses ihr eigene Talent hat sie zuletzt bemerkenswerterweise an Stoffen vorgeführt, die so gar nicht lustspieltauglich anmuten. Im Kasino des Burgtheaters etwa hat sie mit Felicia Zellers "Fiskus" Steuerprüfungen aus dem Ruder laufen lassen und in Graz mit Thomas Köcks "dritte republik (eine vermessung)" den nationalstaatlichen Grenzziehungen parodistische Züge abgewonnen. Diese Produktion (2020) war dann für einen Nestroy-Preis gut, ebenso wie die Uraufführung von Svenja Viola Bungartens "Garland" ein Jahr später am selben Ort.

Mit Bungarten hat Vulesica auch jetzt zusammengearbeitet, sie haben ihre eigene Version vom "Raub der Sabinerinnen" hergestellt, und die verschlägt einem nicht nur wegen des Spieltempos den Atem. Dass die Hauptrollen genderfluid besetzt sind, ist mutmaßlich kein politisches Statement. Es hilft einfach beim Überdrehen. Sabine Haupt als Professor Gollwitz wirkt im viel zu groß geschnittenen, ur-altmodischen Anzug bemitleidenswert unbeholfen. So eine(r) muss es zu tun kriegen mit einer Ehefrau vom stattlichen Format eines Dietmar König (selbstbewusste Blondine) oder – noch mächtiger in der Erscheinung – der Weinhändlerin Karla (Rainer Galke)! Dafür begegnen Sabine Haupt und Birgit Minichmayr, Theaterdirektor und Professor also, einander auf Augenhöhe. Schurke und Theater-Draufgänger im aufgeplusterten Kleinformat. Das ist einfach umwerfend komisch.

Der Raub der Sabinerinnen 3 Marcella Ruiz CruzBirgit Minichmayr, Sabine Haupt, Rainer Galke © Marcella Ruiz Cruz

Die Wohnung des Professor Gollwitz, der sich anfangs denkbar unkommod über zwei Lexikon-Türme gelegt hat und Siesta hält, hat keine Tür, sondern zwei Schwingflügel, wie ein Saloon im Wilden Western. Da trudeln also die ungebetenen Gäste ein, in einer Frequenz, dass die Türflügel nur so flattern. Flugs ändern sich in dieser Stück-Variante die Gewichte. Aus Stichwortbringern werden eigenwillige Charaktere, und plötzlich ist nicht nur der Theaterdirektor der Spielmacher. Eine so bunte wie verquere Gesellschaft ist nach Kräften dabei, sich selbst ad absurdum zu führen. Wo die Regisseurin hinzielt: Alle machen ihr eigenes Theater und sind darin unschlagbar als Schmierenkomödianten des Bürgertums.

Tohuwabohu der selbsternannten Selbstdarsteller:innen

Hinreißend Dorothee Hartinger als Haushälterin Rosa, wohl die eigentliche Frau in Haus und Herz des Professor Gollwitz. Stefanie Dvorak spielt gleich zwei Töchter des Professors, pubertär und besserwisserisch als Jugendliche. Als Ehefrau des Arztes Neumeier (Lukas Vogelsang) eine zickige Nervensäge sondergleichen. Es geht permanent rund, das Wort Outrage greift viel zu kurz. Aber das hat System und ist mit bewundernswertem Timing umgesetzt, ohne irgendwelche Schwachpunkte. In dem Tohuwabohu der selbsternannten Selbstdarsteller verschwimmt also die Grenze zwischen Theater und bürgerlichem Leben, das seinem Supergau entgegensteuert. 

Ach, vom Papagei haben wir noch nicht erzählt! Annemarie Fischer sitzt da im Federkleid, Kopf und Federputz in einer Voliere. Sie ist nicht nur Ziervogel, sondern Souffleuse, die den Agierenden Stichworte gibt. Eine ziemlich geniale Figur-Erfindung. Vielleicht unser aller Theater-Vogel?

Der Raub der Sabinerinnen
Schwank von Franz und Paul von Schönthan in einer Fassung von Svenja Viola Bungarten & Anita Vulesica
Regie: Anita Vulesica, Bühne: Henrike Engel, Kostüme: Janina Brinkmann, Musik: Camill Jammal, Sounddesign: Rupert Derschmidt, Choreografie: Mirjam Klebel, Licht: Norbert Piller, Dramaturgie: Rita Czapka.
Mit: Birgit Minichmayr, Sabine Haupt, Dietmar König, Stefanie Dvorak, Lukas Vogelsang, Dorothee Hartinger, Rainer Galke, Julian von Hansemann, Annemarie Fischer.
Premiere am 15. April 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

Kritikenrundschau

Er sei generell "kein schallender Theaterlacher", gesteht Martin Thomas Pesl in der Sendung Fazit auf DLF Kultur (15.4.23). Im Falle dieses Abends habe er sich aber "etwa ab der Häfte bei einem breiten Dauergrinser ertappt, der auch bis zum Schluss nicht weggegangen" sei. Sein Fazit: "Es war eine Liebeserklärung an das Theater an sich – egal, wie schlecht es ist, egal, wie fehlerbehaftet und egal, wie frei von jeglicher Tiefe."

"Herz des Abends" sei Birgit Minichmayr als Direktor Striese, findet Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (17.4.2023): "Dass für ihre Interpretation Rainer Werner Fassbinder Pate stand, signalisieren nicht nur der ausgestopfte Bierbauch, das dünne Bärtchen, der Hut und die Lederjacke, sondern auch das weiche Bairisch, mit dem die Oberösterreicherin Minichmayr ihre Texte intoniert." Diese Figur sei schlichtweg "saukomisch". Was Minichmayr und der Rest des Ensembles veranstalteten sei als "Hommage an alle geborenen Theaterviecher zu verstehen". 

"Bemerkenswert", so Margarete Affenzeller im Standard (17.4.2023), seien "die vielen kleinen komödiantischen Schaltstellen, die den Blutkreislauf der Inszenierung auf Trab halten". Minichmayrs Company-Leiter sei "ein umgekehrter Theatermacher Bernhards, der in künstlerischen Fragen nicht lange fackelt" und "als Rainer-Werner-Fassbinder-Verschnitt mit Lederjacke auftritt" um "in bayerisch-nestroyhaftem Sprachduktus von Shakespeares Maria Stuart" zu schwärmen.

Birgit Minichmayr spiele den Theaterimpresario "im Fassbinder-Gedenk-Outfit als mal bajuwarisch grummelnden, dann geradezu demagogischen Kraftmenschen mit einer so sprachlichen und körperlichen Wucht, dass diese Darbietung allein schon den Theaterbesuch wert ist", jubelt Benjamin Loy in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.5.2023). "Doch auch der Rest des Ensembles harmoniert. Slapstick und Sprachwitz, hinter dem nur allzu häufig freudsche Versprecher das Bürgerbegehren launig enttarnen, werden kombiniert mit der richtigen Dosis Metatheater. (...) Das größte Verdienst der Inszenierung liegt aber womöglich darin, dass das radikal anarchische Identitätsspiel einer Bombe gleicht, die in die sauber ausgehobenen Schützengräben der verminten und humorbefreiten identitätspolitischen Schlachtfelder der Gegenwart einschlägt."

"Vorerst darf der alte weisse Mann noch einmal aufleben: als Karikatur. Auf der Bühne, ihm wird spöttisch ein Denkmal gesetzt", schreibt Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (11.5.2023) in seiner Doppelkritik zu "Der Raub der Sabinerinnen" mit Birgit Minichmayr in Wien und "Theatermacher" mit Stefanie Reinsperger am Berliner Ensemble. "Die Schauspielkunst der beiden Frauen in Männerrolle erweist sich als grossartig." Minichmayr gebe ihren Striese salopp, überheblich, mit einem komischen Hang zum vertrottelten Intellektuellen. Regisseurin Anita Vulesica mache aus der Schönthanschen Komödie eine Persiflage, "grell und respektlos, ein surrealer Schwank zwischen Sein und Schein".

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