Tick, Tack

29. Januar 2023. Auf Thomas Manns "Zauberberg" wohnt das zutiefst Menschliche in der intellektuellen Höhenluft. Bei Regisseur Bastian Kraft sehen wir ein Figuren-Tableau der pickeligen Haut, der blutigen Tuberkulose-Nasen, der falschen Bärte und Falten, vor allem: ein grandioses Ensemble im ausgeklügelten Zusammenspiel von Video und Live-Situation. Und dann erst dieser Schneesturm.

Von Andrea Heinz

"Der Zauberberg" in der Regie von Bastian Kraft am Burgtheater Wien © Marcella Ruiz Cruz

29. Januar 2023. Es fällt so grell ins Auge derzeit, dass man meinen könnte, wir Heutigen hätten das alles erfunden: Die Krankheit und den Krieg, den Stumpfsinn und die endlose Gereiztheit, die sich darüber entspinnen. Aber so ist es natürlich nicht, und man findet all das buchstäblich vorgeschrieben in einem Roman, der vielleicht nicht nur der eines Jahrhunderts ist, sondern für die Ewigkeit: Thomas Manns "Zauberberg".

Die Geschichte ist schnell erzählt, Hans Castorp besucht seinen soldatisch-strammen Vetter Joachim im Sanatorium in den Schweizer Alpen, wird flugs zum Kranken erklärt, lernt die Liebe kennen und auch sonst eine Menge über Leben und Tod, und landet nach siebenjähriger "Lehrzeit" am Zauberberg als Kanonenfutter auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkrieges. Ausgang unbekannt. Aber natürlich ist "Der Zauberberg" so vieles mehr, ein mächtiges Stück Literatur, strotzend vor großbürgerlich-humanistischem Herrschaftswissen.

Auf dem Berg der Gegensätze

Bastian Kraft, der an der Burg zuletzt mit "Die Schwerkraft der Verhältnisse" begeisterte, schafft es, diese flimmernde, hochintellektuelle und zugleich extrem sinnliche Höhenluft (nicht zuletzt trachtet der Roman ja danach, einen "Ausgleich" zwischen dem Gegensatzpaar apollinisch-dionysisch zu finden – wobei es schon ein sehr deutscher Zugang ist, dass man da unbedingt einen solchen finden muss) auf die Bühne zu bringen, ohne dabei geschwätzig oder langweilig zu werden.

Der Zauberberg2 805 Ruiz Cruz uHöhenluft im figurenreichen Sanatorium: Felix Kammerer, Dagna Litzenberger Vinet, Markus Meyer, Sylvie Rohrer © Marcella Ruiz Cruz

Felix Kammerer, Dagna Litzenberger Vinet, Markus Meyer und Sylvie Rohrer, alle mit Menjou-Bärtchen, blonden Nazi-Frisuren und Luis-Trenker-Gedächtnis-Outfits (Jelena Miletić), sind den ganzen, etwas über zwei Stunden dauernden Abend auf der Bühne (Peter Baur): Die wird ausgefüllt von einem stilisierten Berggipfel mit Felsen und Kanten, auf denen sich vortrefflich herumklettern und -liegen lässt (Stichwort: Liegekur!), die man aber auch wunderbar als Projektionsfläche nutzen kann. Wie schon am Deutschen Theater in "As You Fucking Like It" arbeitet Kraft mit einem ausgeklügelten Zusammenspiel von Video und Live-Situation. In Kostüm und Maske wird das üppige Figurentableau des Romans auf die Felswände geworfen. Pickelige Haut, blutige Tuberkulose-Nasen, jede Menge falsche Bärte und Falten: Hut ab vor der Maske (Lena Damm).

Mechaniker über der Maschine Mensch

Die Schauspieler:innen auf der Bühne sprechen lippensynchron mit und spielen, oft spiegelverkehrt, miteinander und ihren Film-Alter-Egos. Was hätte kippen können, oder jedes Zusammenspiel auf der Bühne ersticken, entwickelt eine ungeahnte Dynamik – was freilich nicht zuletzt an dem grandios aufspielenden Ensemble liegt. Jede:r ist mal Hans Castorp, der ja auch im Roman nicht wirklich durch eine eigenständige Persönlichkeit aufmerken lässt.

Wirklich hinreißend sind vor allem die Darstellungen der anderen zentralen Figuren: Dagna Litzenberger Vinets Joachim ist in seiner soldatischen Pflichterfüllung so verletzlich und durchlässig, so großäugig und fast kindlich, dass man ihn am liebsten in den Arm nehmen will. Markus Meyer gibt sowohl den Psychoanalytiker Dr. Krokowski als auch den Klinikleiter Hofart Behrens, wobei ihm vor allem mit letzterem eine vollkommene Type gelingt: Nicht ganz so unsympathisch vielleicht, wie von Mann intendiert, aber in die Hände fallen will man diesem jovialen, ein wenig diabolischen Mann, der sich wie ein geschäftstüchtiger Mechaniker über die Maschine Mensch beugt, auch nicht.

Der Zauberberg3 805 Ruiz Cruz uVersatzstücke des Menschen Innerstes: Felix Kammerer © Marcella Ruiz Cruz

Sylvie Roher diskutiert im Film in Gestalt der beiden Antipoden Settembrini und Naptha mit sich selbst: Hier der humanistische Aufklärer, dort die bizarre Verquickung der Extremismen, von (Prä-)Faschismus und Kommunismus. Felix Kammerer verkörpert schließlich Castorps Love Interest: Die geheimnisvolle Clawdia Chauchat, die ihn an seine homoerotische Schulhofliebe Přibislav Hippe erinnert und ihm schließlich den vielsagenden "Crayon" überreicht, den Thomas Mann fast schon peinlich überdeutlich als Phallus-Symbol markiert.

Fiebermessen mit Thriller-Spannung

Kammerer ist es dann auch, der als Castorp in den berühmten Schneesturm gerät. Kraft lässt ihn, bewaffnet mit einer Video-Kamera, durch die Unterbühne irren, bis er am Schluss sich selbst in einem Sarg liegen sieht. Es ist eine der Szenen, in denen der Abend eine Spannung entwickelt, die man mit dem elegischen "Zauberberg" gar nicht in Verbindung bringt. Aber auch das Fiebermessen entwickelt hier Suspense-Potential: Geschlagene sieben Minuten stehen oder sitzen die vier Spieler:innen auf der Bühne, das Thermometer im Mund. Man hört nur den Sekundenzeiger. Tick, Tack. Die Musik (Björn SC Deigner) verstärkt stimmig die zugleich entrückte und ganz gegenwärtige Stimmung, aber es ist vor allem das Ticken der Uhr, das den Rhythmus des Abends vorgibt. Eines wahrlich beglückenden Abends.

 

Der Zauberberg
von Thomas Mann in einer Fassung von Bastian Kraft
Regie: Bastian Kraft, Bühne: Peter Baur, Kostüme: Jelena Miletić, Musik: Björn SC Deigner, Video: Sophie Lux, Licht: Michael Hofer, Maske Video: Lena Damm, Dramaturgie: Sebastian Huber.
Mit: Felix Kammerer, Dagna Litzenberger Vinet, Markus Meyer, Sylvie Rohrer.
Premiere am 28. Januar 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.burgtheater.at

Kritikenrundschau

Der Clou dieser vollendet kunstfertigen Ausführung sei die Videoausstattung von Sophie Lux, meint Ronald Pohl im Standard (online 29. Januar 2023). Weiterführende Gedanken verweigert diese "kreuzbrave Burg-Unternehmung" aber kategorisch, wenn man den Kritiker fragt. "Hat man über die famosen Masken des Schauspielers Markus Meyer zu Ende gestaunt, weiß man, den Mann im Kopf, mit der Aufführung, mit ihrem braven, exekutorischen Darlegungseifer nichts Rechtes anzufangen." Die "Schmalspurereignisse" werden "spurlos verschluckt vom Zauberbergschatten", schreibt der Kritiker, und bemängelt die "sportive Begeisterung für die Unart, Epochenromane in Pillendosierung an eine dankbare Kundschaft zu verabreichen". Immerhin: Der Jubel für die Schauspieler sei "würdig und recht" gewesen.

Bastian Kraft setzt auf Minimalismus, schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (online 30.1.2023). Die Schauspieler stellen auf der Bühne alle den Protagonisten Hans Castorp dar - "und markieren andererseits in vorproduzierten, projizierten und live synchronisierten Videos alle anderen Personen". Technisch sei das beeindruckend. "1000 Seiten in 130 Minuten: Das muss man erst mal so hinkriegen. Kompakter wird einem der 'Zauberberg' nur noch in einer Youtube-Zusammenfassung serviert. Genau das ist dann aber auch das Problem an dieser Inszenierung: Sie möchte es ihrem Publikum möglichst einfach machen." Fazit: Der seltene Fall eines Theaterabends, dem ein paar Längen guttun würden.

"Am 'Zauberberg' ist Kinoabend: Regisseur Bastian Kraft baut mit vier Schauspielern mit erstaunlich eingesetzten Videos eine Krankenanstalt für die Welt von damals und heute", so Georg Leyrer im Kurier (30.1.2023)

Kommentare  
Zauberberg, Wien: Apollinisch-dionysisch
Unabhängig von der Inszenierung, schön dass da eine schwieriger Stoff faszinierend umgesetzt wurde, bin ich doch etwas ratlos bis schockiert, dass eine Theaterkritikerin den Satz schreibt: "dem Gegensatzpaar apollinisch-dionysisch – etwas, das auch nur einem Deutschen einfallen kann". Dieses "Gegensatzpaar" ist doch eher eine der Grundspannungen des antiken griechischen Theaters und damit der europäischen Theaterkultur überhaupt, personifiziert in den "Bakchen", was dann tatsächlich von einem deutschen recht ausgiebig beschrieben wurde. Dieses Gegensatzpaar hat sich doch niemand "einfallen" lassen. (...)

––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Dieser Kommentar wurde in gekürzter Form veröffentlicht, da Teile davon nicht unserem Kommentarkodex entsprachen. Dieser ist hier nachzulesen: https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12&Itemid=41. Der Autorin ging es um den Ausgleich zwischen dem Gegensatzpaar apollinisch-dionysisch. Die von "Pentheus" kritisierte Passage wurde zum besseren Leseverständnis daher leicht verändert.

Viele Grüße aus der Redaktion
Zauberberg, Wien: Geflasht
Hat man sich die Kraftsche Inszenierung des "Zauberbergs" von Thomas Mann angesehen, ist man nach gut 120 Minuten geflasht. Allein dadurch, wie es Kraft schafft einerseits den 1000-Seiten-Wälzer auf das Wesentliche zu verdichten und dies mit der Unterstützung von manchmal zu präsenten Videobildern auf die Bühne zu zaubern: Liebe, Tod, Krankheit, Krieg, Stumpfsinn und Aberwitz, der Mensch als hoffningsloser Fall in einem hoffnungslos menschenfeindlichem Sanatorium am kalten Ende der Welt. Häufig bieten die Videoeinspieler, in denen die anderen Romanfiguren auftreten, pointierte, auch grotesk-humorvolle Dialoge und krasse Kontraste gegenüber den vier ambitioniert und analog auftretenden Schauspieler:innen. Dabei nimmt man aber die Schauspieler:innen, die meist vor den Videobildern aufspielen und auch gegen sie ansnspielen müssen, oft nur schemenhaft- verschwommen wahr. Ein kleiner und unnötiget Wermutstropfen in einem ansonsten eindrucksvollen Stück!
Zauberberg, Wien: Worte
Schrecklich. Worte nur Worte
Kommentar schreiben