Jeder erträgt für sich allein

23. April 2023. Eine Familiensaga durch vier Generationen auf historisch komplexem Terrain erzählt die kroatische Dramatikerin Tena Štivičić. Schauplatz ist ein Haus in Zagreb drei Mal im Winter: 1945, 1990 und 2011. Martin Kušej inszeniert mit großem Ensemble ein ergreifendes Geschichts-Panorama.

Von Reinhard Kriechbaum

"Drei Winter" von Tena Štivičić, am Wiener Burgtheater von Martin Kušej inszeniert © Matthias Horn

23. April 2023. Der Säugling hat noch keinen Namen. Ruža, die junge Partisanin, und ihr kriegsversehrter Mann, der auf Seiten der Ustascha gekämpft hat und jetzt kriegsversehrt ist, haben noch nicht drüber nachgedacht. Ein Name, "der unter allen Umständen passt", ist gefragt, sagt Aleksandar, der heißt wie der letzte jugoslawische König. Voll daneben jetzt, im Kommunismus. Mascha wird das Mädchen schließlich heißen, denn "mit einem russischen Namen kann man nichts falsch machen". So geht Humor. Drei Stunden lang wird Tena Štivičić in "Drei Winter" ihr Publikum auch immer wieder zum Schmunzeln bringen. Immer mit bitterem Unterton.

Wir erleben Familienszenen 1945, 1990 und 2011 in Zagreb. Da stand immer etwas kurz bevor: Kommunismus, Krieg auf dem Balkan, EU-Beitritt. Aus dem fernen London, wo die kroatische Autorin Tena Štivičić lebt, richtet richtet sie für "Drei Winter" das Brennglas auf die Heimat. Das schafft Distanz und Nähe zugleich.

Verschwiegene (Familien)geschichten

Kriegsende. Eine ganze Schreibtischlade voller Schlüssel ist übrig, zu Häusern, deren einstige Besitzer jetzt tot oder im Exil sind. Ruža hat Glück, als Partisanin war sie bei der "richtigen" Gruppe. Jetzt darf sie einen der Schlüssel nehmen. Neubeginn für sie in einer "neuen" Wohnung, einem "neuen" Land, einem "neuen" politischen System. Lange braucht sie nicht zu suchen. Sie entscheidet sich fürs Haus eines Monarchie-Aristokraten und späteren Nazi-Kollaborateurs in Zagreb. Ihre Mutter war dort einst Dienstmädchen.

Pferdefuß: "Neu" ist da nichts und wird auch nichts sein, über vier Generationen hinweg nicht. Es sind ja nicht nur die Mauern, die Vergangenheit einmahnen könnten. Präsent sind die (Familien-)Geschichten – die erzählten und noch mehr die verschwiegenen. Jene, die man am liebsten vergessen machen würde und die doch bei jeder Familienzusammenkunft an die Oberfläche drängen. Schwingen Kriegstraumata mit, Erinnerungen an erlebte oder Vorahnungen auf dräuende politische Veränderungen, kippt das Anekdotische leicht ins Schicksalhafte.

Winter2 Matthias Horn uBarbara Petritsch, Nina Siewert, Tilman Tuppy © Matthias Horn

Martin Kušej, der Kärntner Slowene, kennt solche Familientreffen und ihre Geschichten wahrscheinlich so hautnah wie die kroatische Autorin. Die drei Erzähl-Situationen sind aufgesplittet. Annette Murschetz hat identische weiße Räume auf die Drehbühne gestellt. Zwei Türen, ein Fenster. Wenn es wieder mal sich drehend weiter geht, über die Jahrzehnte vor oder zurück, im Uhrzeigersinn oder entgegen, werden Kriegsaufnahmen projiziert (bis herauf zur ukrainischen Gegenwart). So wirkt das Erlebte und Erinnerte zwingend hinein in die jeweiligen Familienszenen, denen Kušej Raum und vor allem viel Zeit schenkt. Solche Zusammenkünfte gehen nicht schnell.

Und dann: was für ein Ensemble!

Hier schlägt die Stunde eines Ensembles, dem man an diesem Abend drei Stunden lang an den Lippen hängt. In dem figurenreichen Stück sind zwei Schlüsselrollen mit der gleichen Darstellerin besetzt. Nina Siewert, die selbstgewisse junge Ruža von 1945, spielt 2011 deren im Ausland lebende Ur-Enkelin Alisa. Die junge Frau stellt bohrende Fragen nach der Vergangenheit, nach dem rechtmäßigen Besitzanspruch ans Haus.

Winter1 Matthias Horn uBurgtheater Altstar Branko Samarowski als Aleksandar © Matthias Horn

Sylvie Rohrer, Ružas Mutter, wird ein entscheidender Ruhepol sein, wenn es gilt, Karolina im Haus zu belassen. Karolina, vermeintlich ein Eindringling, ist die Tochter des vertriebenen ehemaligen Hausbesitzers. Sie wird als so etwas wie das lebende schlechte Gewissen umgehen wird im Familienverband, dem sie nicht angehört, an den sie aber quasi gefesselt ist. Eine feine Rolle für Barbara Petritsch. "Es liegt an einem selbst, was man erträgt", sagt Karolina altersweise.

Das Verhältnis zwischen Karolina und Ružas Mutter (der ein mächtiger emotionaler Ausbruch am Ende gehört) wird wie nebenher aufgeklärt – aber wie so vieles in dieser Familiensaga darf man es nicht ausplaudern, das nähme Spannung. Andrea Wenzl als Braut Lucia ist natürlich noch zu nennen. Auf dieser Figur entladen sich im uns zeitnächsten Setting (2011) alle Spannungen und sie wird zugleich zu einer überraschend neoliberalen Lösung beitragen, was den belasteten Familien-Hausbesitz anlangt...

Drei Winter c Matthias Horn 1608Der Krieg ist vorbei? Nina Siewert, Daniel Jesch © Matthias Horn

Man braucht gar nicht versuchen, diese Saga in ein, zwei Absätzen nacherzählen. Geübte Drehbuchschreiber würden daraus Dutzende Folgen für eine Serie destillieren. Genau das aber haben Tena Štivičić und Martin Kušej nicht im Sinn. Hier geht es um das hartnäckige Weiterwirken von kleineren und größeren Deformierungen zwischen realen Traumata, gutgemeinter Verdrängung und verschwommener Ahnung. Die Gemengelage aus der Erfahrung von Zeitläuften und der Konfrontation mit der Gegenwart ist in jeder Generation neu zu definieren.

Frenetischer Jubel

Bisher war nur von den Frauen die Rede, weil auf ihnen – ohne aufdringliche feministische Ambition – ein Gutteil der Geschichte aufbaut. Norman Hacker muss man aber unbedingt noch nennen, der einen fast zu bemitleidenden Vater und Gatten von zunehmend selbstbewussten Damen zeichnet. Kroaten lassen auch heutzutage noch gerne den Macho raushängen, ist der Autorin aufgefallen. Aber sie sieht das eher entspannt und nimmt's von der humoristischen Seite. Eine Bravourrolle für Norman Hacker. Branko Samarowski noch, der alte Aleksandar! Er liefert einen kurzen, intensiven Bericht aus der Vergangenheit.

Frenetischer Jubel ist ausgebrochen nach der Österreichischen Erstaufführung im Burgtheater. Er hat der Autorin genau so gegolten wie dem Regisseur, und vor allem auch dem Ensemble als Ganzem.

Drei Winter
von Tena Štivičić
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn
Österreichische Erstaufführung
Regie: Martin Kušej, Bühne: Annette Murschetz, Kostüme: Heide Kastler, Musik: Bert Wrede, Licht: Reinhard Traub, Video: Tobias Jonas, Dramaturgie: Jeroen Versteele.
Mit: Nina Siewert, Andrea Wenzl, Norman Hacker, Regina Fritsch, Zeynep Buyraç, Maximilian Pulst, Daniel Jesch, Barbara Petritsch, Maximilian Pulst, Branko Samarovski, Sylvie Rohrer, Tilman Tuppy.
Premiere am 22. April 2023
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

"Außer um Nazis, Kommunisten und korrupte neue Eliten geht es auch um die Affäre eines Dienstmädchens mit einem Aristokraten. Das alles war dem Regisseur und seiner Bühnenbildnerin offenbar eine Spur Soap-Stoff zu viel. Deshalb machen sie ein bisschen surrealistisches Bohei", schreibt Wolfgang Höbel vom Spiegel (23.4.2023). Die Inszenierung sei oft ergreifend, manchmal sehr komisch, vor allem aber ein Fest für die Schauspielerinnen und Schauspieler.

"Was Štivičić in 'Drei Winter' erzählt, ist im Grunde Stoff für einen dicken Roman. Ein wenig wirkt ihr Stück dann auch wie eine Romandramatisierung, in der versucht wird, die wesentlichen Elemente der Handlung unterzubringen. Es ist gut gebaut, aber auch überladen", schreibt Wolfgang Kralicek von der Süddeutschen Zeitung (24.4.2023). Martin Kušej spanne den Bogen des Stücks weiter bis in die unmittelbare Gegenwart und den Krieg in der Ukraine; "und anders als im Originalstück findet der Jugoslawienkrieg hier, in einer kurzen Szene, auch auf der Bühne statt". Davon abgesehen schnurre das 'well-made play' geschmeidig, aber ohne große Höhepunkte, ab.

Als "warmherziges, geist- und spannungsreiches Generationendrama", beschreibt Ute Baumhackl von der Kleinen Zeitung (24.4.2023) das Stück. In den "anmutigen, bitter-witzigen Dialogen" liefen die Ensemblemitglieder zu Hochform auf. "So formieren sich traumatisierte Männlichkeit, andauernde Konflikte, tragische Geheimnisse geradlinig erzählt und inszeniert, zum fesselnden Historientableau.“

"Tena Štivičićs Stück verwebt gekonnt Privates und Politisches. Oft wird gar nichts Bedeutsames gesagt, trotzdem kann man hinter jedem Satz eine ganze Geschichte spüren. Es ist das Ungesagte, das diesen Text antreibt", schreibt Guido Tartarotti vom Kurier (24.4.2023). Mit dreieinhalb Bruttostunden sei der Abend deutlich zu lang geraten. Erst nach der Pause bekomme die Handlung mehr Tempo. "Zu erleben ist ein hoch interessanter, manchmal ein wenig verbremster Theaterabend."

"Štivičić zieht viele Fäden, manche werden weiterverfolgt, manche fallen gelassen, das ist sowohl die Stärke als auch die Schwäche des Dramas, das Kušej einerseits hyperrealistisch, dann wieder durchbrochen mit überhöhten Bildern inszeniert hat“, schreibt Julia Danielczyk von den Salzburger Nachrichten (24.4.2023). "Kušejs Bilder illustrieren, irritieren und überbetonen in dieser realistischen Inszenierung."

Kommentare  
Drei Winter, Wien: Kratzen an der Oberfläche
Eine (unnötig) "bleierne Inszenierung", so war mein erster Eindruck. Auch scheinen Kušej und sein Regieteam mit dem Stoff überfordert gewesen zu sein. Štivičićs feine Ironie, die zwischen den Zeilen formulierten bitterbösen Abrechnungen mit der kroatischen Geschichte und Gegenwart finden in der Inszenierung (fast) nicht statt. Angefangen von der Anspielung des Namen Aleksander Kraljs, die gar nicht verstanden wird, den Zerfall Jugoslawiens, der lakonisch im alten Röhrenfernseher eher nebenbei abläuft, bis hin zur Flucht des Hausbesitzers Amruš, der als Nazi über die Rattenlinie nach Argentinien entkommen ist, die als Migration übersetzt wird. Kušej kratzt leider nur an der Oberfläche des großartigen Textes von Tena Štivičić, der durchaus auch die Geschichte und Gegenwart weiter Teile Mitteleuropas widerspiegelt. Kušej bleibt seiner eher grobschlächtigen Art treu und vermag nicht mit dem Skalpel zu arbeiten. Das Stück hätte es verdient gehabt.

Bühnenbild und Schauspiel passen zu einem Krleža, werden einer Štivičić insgesamt nicht gerecht. Jedoch war Branko Samarovskis Monolog allein den Theater-Besuch wert. Das Spiel der anderen war professionell, ja. Es hatte für mich aber zu wenig Tiefe, es hat mich nicht wirklich berührt.

Kušejs Einflechten des Ukraine-Krieges ist unnötig, ja störend. Warum darf eine Geschichte nicht für sich stehen? Warum muss ein Regisseur einen Kontext zur Gegenwart über das Knie brechen? Hat ihm Štivičićs Text nicht gereicht?

Es war kein schlechter Theaterabend, es hätte jedoch ein sehr guter werden können. Die 2017er-Aufführung im Volkstheater in Wien war länger, dafür leichter, authentischer. Die damalige Inszenierung vermochte genau die o. g. Zwischentöne und auch das jeweilige Lebensgefühl der drei Winter zu transportieren. Das ist Kušej bestenfalls bedingt gelungen.
Drei Winter, Wien: Mehr Kohle
Generelle Zustimmung zu „Der Stadrand“. Allerdings finde ich das Ensemble nicht so glänzend, wie beschrieben . Es ist alles ein bisschen Josefstadt-Theater mit mehr Kohle. (...)
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