Immer noch hier

9. September 2024. Virginia Woolfs "Orlando" sprengt die Grenzen des Romans und der Romanfigur. Was alles in so ein Menschenleben passt! Ein*e Darsteller*in reicht Therese Willstedt deshalb auch nicht in ihrer Inszenierung am Burgtheater. Ein ganzes, visuell genormtes Ensemble porträtiert Orlando als vielstimmige Verführer*in.

Von Gabi Hift

"Orlando" in der Regie von Therese Willstedt am Akademietheater Wien © Lalo Jodlbauer

9. September 2024. Man zwinkert mit den Augen: vor einem milchig weißen Rundhorizont stürmt ein Jüngling in schwarz von links nach rechts über die Bühne. Unglaublich schnell taucht er von links wieder auf, es muss ein anderer sein, und noch einer, und noch einer. Sie sind kaum zu unterscheiden, obwohl einer dieser jungen Wilden Martin Schwab sein muss, der 87-jährige Doyen des Burgtheaters. Das sind also Orlandos, alle gleich, alle in schwarz. 

Für Generationen von queeren Jugendlichen war "Orlando" ein Schlüsselerlebnis. Für die Älteren der Roman von Virginia Woolf, für die Jüngeren die Verfilmung von Sally Potter mit der ikonischen Tilda Swinton in der Rolle des draufgängerischen Jünglings, der über Jahrhunderte lebt und sich irgendwann im Schlaf vom Mann zur Frau wandelt. Für sie alle war es die plötzliche beglückende Erkenntnis nicht allein zu sein. 

Erzählerinnenstimme abgeschafft

Für Virginia Woolf wiederum war Orlando ein Riesenspaß, den sie sich nach einem Nervenzusammenbruch als Erholungsurlaub verordnet hatte. Gerade hatte sie unter äußerster Anspannung die Revolution der Literatur am Beginn des 20. Jahrhunderts eingeleitet. 1927 hatte sie – gleichzeitig mit Joyce – die Technik des Gedankenstroms entdeckt. Mit diesem "Tunnelverfahren" war sie in "To the lighthouse" in die die eigene Vergangenheit hinuntergestiegen. "Orlando" war das Atemholen danach, ein Jux, reine Oberfläche und Abenteuer, eine pseudowissenschaftliche, absurde Biographie über eine Person, die nach vierhundert Jahren immer noch am Leben ist und sich zwischendurch umstandslos von einem Mann in eine Frau verwandelt. Vorbild für Orlando war ihre brilliante, herzlose Geliebte Vita Sackville-West. Gleichzeitig befreite sie sich mit der Erschaffung der Biographin, einer großspurigen Witzfigur, aus dem übermächtigen Schatten ihres Vaters, dem berühmtesten Biographen seiner Zeit, Leslie Stephen.

Diese eitle, geschwätzige Erzählstimme ist sehr lustig, muss aber für eine Dramatisierung zum Problem werden. Die Fassung, die Tom Silkeberg für Therese Willstedt erstellt hat, lässt die Erzählerin einfach weg. Sie beginnt mit dem Ende, spaltet Orlando in sieben verschiedene Personas auf und lässt sie einander ihre Lebenserinnerungen erzählen. Sie wird so zur Autobiographie einer multiplen Persönlichkeit. Das ist nicht ganz unlogisch, allerdings kommen die altklugen Texte der Erzählerin nun aus dem Mund einzelner Orlandos und sind nicht mehr als Parodie zu erkennen. Damit verliert Orlando seine souveräne Grandezza, seine attraktive Herzlosigkeit und allen Glamour. 

Es regnet Reifröcke

Trotzdem entwickelt die Aufführung beträchtlichen Charme, und alle Darsteller*innen können in Momenten ihre Verführungskünste ausspielen. Stefanie Dvorak ist von allen der frechste Jüngling, man glaubt ihm die süßen Sechzehn. Wenn Königin Elisabeth I. ihn zum Lustknaben macht, verwandelt sie sich in einen grausigen Kraken, aus dem Arme und Beine aller anderen Schauspielerkörper züngeln. Nina Siewert ist die bezaubernde Russenprinzessin Sascha, die den 16jährigen Orlando nach einer heftigen Liebesaffäre schmählich sitzenlässt. 

Orlando2 1200 Lalo JodlbauerPer Frisur vereinheitlicht: die Wiener Orlandos © Lalo Jodlbauer

Nach der Mantel- und Degenepisode folgt die Parodie der exotischen Abenteuer-Romane des 17. Jahrhunderts: Orlando lässt sich, um Sascha zu vergessen, als Gesandter nach Konstantinopel versetzen. Nun bricht auf der bis dahin spartanischen Bühne ein bezaubernder Kinderspaß aus: Die heißen Hengste der Diplomaten im Orient sind Schwimmreifen mit Pferdeköpfen, eine aufblasbare Weltkugel zeigt die exotischen Fernen, ein Bastsonnenschirm im Hawai-Look spendet Schatten. Elisabeth Augustin ist jener Orlando, der nach siebentägigem Schlaf als Frau erwacht und nach kurzem Staunen feststellt, dass sie, von ihrem Körper abgesehen, noch völlig dieselbe ist. 

Auf dem Schiff zurück nach England und hinein ins 18. Jahrhundert regnet es Federn, Reifröcke, Perücken, üppigste Rüschengebilde aus Seiden und Tüll, Stoffe in weiß, ecru, chamois, muschelfarben, in verschiedenen Graden der Durchsichtigkeit (Kostüm: Maja Mirkovic). Die Orlandos entdecken ihre weibliche Verführungskraft: Matrosen fallen wegen ihnen vom Mast – es gibt aber auch Probleme: Mit diesen Kleidern kann man nicht laufen, sich nicht einmal setzen, und bestimmt nicht schwimmen. Einzig Markus Meyers Orlando gerät in einen wahren Begeisterungstaumel, ist bereit sich der Weiblichkeit völlig hinzugeben, "weniger zu denken und sensibler zu fühlen" (Virginia Woolf im Roman), ein schöner Moment puren Glücks. 

Das Happy End ist nicht das Ende

Zurück in England darf Orlando ihren Besitz nicht behalten, weil sie entweder als tot deklariert wird oder aber als Frau, was rechtlich auf dasselbe hinausläuft. Und sie muss sich als Frau gegen unerwünschte Avancen wehren, es braucht eine Weile, bis sie die Waffen der Frauen entdeckt: Sie steckt einem zudringlichen Verehrer eine Kröte ins Hemd. Das viktorianische Zeitalter ist ein weiterer Rückschlag, es regnet ununterbrochen, sie ist von Paaren mit Eheringen umzingelt, das Korsett schnürt ihr die Luft ab, Sean McDonaghs Hände flattern auf wie Vögel im Käfig, ihr Mund zuckt, die Augen rutschen in den Höhlen herum, ein Nervenzusammenbruch von Almodóvarschem Format. 

Danach geht es Schlag auf Schlag: auf freiem Feld bricht sie sich den Knöchel. Martin Schwab, die laszivste unter den Orlandos, bringt seine überaus wohlgeformten Beine zur Geltung und fühlt sich als Braut der Natur, da erscheint ein Mann auf einem weißen Pferd, hilft ihr auf ... zehn Minuten später sind sie verlobt. Er entpuppt sich als Seemann, der schon bald nach Cap Horn aufbricht – und Orlando ist schwanger. Nina Siewert führt großzügig ihren echten prächtigen Bauch dafür ins Feld, dieses Baby wird später von sich sagen können: "Ich bin das Kind von Orlando." 

Orlando ist keine Dichterin

Doch dann naht das schwermütige Ende: Denn Tom Silkeberg hat ausgerechnet jene Leidenschaft Orlandos weggelassen, die im Roman zum Happy End führt: bei Virginia Woolf ist er von Anfang an von der Krankheit "Liebe zur Literatur" befallen. Schon als Jüngling verfasst er unzählige Dramen und Gedichte, aber leider taugen sie nicht viel. Das ist ein Seitenhieb gegen die angebetete Vita Sackville-West, die ebenfalls Schriftstellerin war und von deren Texten Woolf nicht viel hielt. Diese Kränkung macht Woolf am Ende wieder wett: Sie lässt Orlando zu einer gefeierten Dichterin reifen. Da sie in dieser Aufführung aber nicht dichten darf, bleibt sie unerlöst. 

Im Roman endet Orlando mit einem Paukenschlag im Jetzt: Die Glocke schlägt zwölf, und sie wird mit der furchterregenden Erkenntnis konfrontiert, dass sie sich genau im gegenwärtigen Moment befindet. Das bringt die einzelnen Stimmen zum Schweigen. Hier bleiben sie ratlos in der Schwebe, "Ich bin immer noch hier. Oder?" Ein melancholischer Schluss, schön, aber ohne den wilden Geschmack von Freiheit, der "Orlando" zum Kulttext gemacht hat. 


Orlando
von Virginia Woolf
Textfassung: Tom Silkeberg
Regie: Therese Willstedt, Bühne und Licht: Mårten K. Axelsson, Kostüme: Maja Mirkovic, Musik: Emil Assing Høyer, Dramaturgie: Jeroen Versteele.
Mit: Elisabeth Augustin, Stefanie Dvorak, Markus Meyer, Seán McDonagh, Martin Schwab, Nina Siewert, Itay Tiran.
Premiere am 8. September 2024
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 Kritikenrundschau

Von einem Gesamtkunstwerk und "zauberhaften Abend" schreibt Norbert Mayer in der Wiener Tageszeitung Die Presse (10.9.2024). Wesentlich für den Erfolg der Inszenierung von Therese Willstedt ist aus Sicht des Kritikers "dass die Textfassung von Tom Silkeberg das Poetisch-Dramatische klug aus der dichten Prosa von Woolf destilliert". Aber auch die sieben Ensemblemitglieder, die Orlando spielen, "allesamt mit wunderbarer Leichtigkeit und höchster Präzision, mimisch, gestisch, sprachlich" werden besonders herausgehoben. 

Von wunderbar leichten, verspielten, poetischen und dabei bildstarken Szenen, schreibt Michael Wurmitzer im Wiener Standard (9.9.2024). Fast jede Szene könne begeistern, so der Kritiker. Auch wenn manches an manchen Stellen der Abends "im Bemühen, Orlandos Innenwelt und den Außenumständen gleichermaßen gerecht zu werden, Erzählfokus und die Abmischung etwas unwuchtig werden". Am Ende wird "nicht endem wollender Applaus" zu Protokoll gegeben.

Therese Willstedts Adaption feiere das Geschlechteraufbegehren lustvoll, spielerisch und äußerst kurzweilig, so Julia Schafferhofer von der Kleinen Zeitung (10.9.2024). Fast jede Szene entfalte als Bild poetische Kraft.

"Es ist eine Freude, dem Ensemble beim Einander-Zuspielen der Gefühlsbälle zuzuschauen", schreibt Georg Leyrer vom Kurier (10.9.2024). "Das Ensemble zeigt in zwei Stunden einen starken Metamorphosenabend zwischen Mann, Frau, Fremd und Eigen über die Jahrhunderte hinweg, dessen größte Stärke die Schauspielleistung, dessen größte Schwäche aber ist, dass er in Konzept und Erkenntnisgewinn dem Hamlet zu sehr ähnelt, mit dem der neue Burgtheater-Chef Stefan Bachmann seine Amtszeit im Haupthaus eröffnete."

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