Bullet Time - Volkstheater Wien
Der Mörder mit der Kamera
8. September 2024. Der Fotograf Eadweard Muybridge ist einer der Pioniere des Kinos. Und ein Mörder aus Eifersucht. Kay Voges und Alexander Kerlin widmen ihm mit "Bullet Time" zum Start ihrer letzten Volkstheater-Spielzeit ein Multmedia-Gerichtsdrama.
Von Andrea Heinz
8. September 2024. Man muss vielleicht erst mal die Begrifflichkeiten klären. "Bullet Time", das Stück aus der Feder von Alexander Kerlin, das Kay Voges zur Eröffnung seiner letzten Saison am Wiener Volkstheater zur Uraufführung bringt, hat zum Titel einen Spezialeffekt in der Filmkunst. Sehr schnelle Vorgänge, prototypisch und namensgebend der Flug einer Pistolenkugel, werden dadurch – im Extremfall bis zum Stillstand – verlangsamt und aus verschiedenen Perspektiven gezeigt. Man kennt den Effekt mittlerweile so gut, etwa aus "Matrix", dass er völlig banal erscheint. Dabei braucht es einen Haufen Einzelbilder, und meist auch eine Menge Computeranimation, damit das Ergebnis am Ende funktioniert.
Freispruch trotz Geständnis
Womit man schon mitten im Stück wäre, dessen Untertitel "Die Geburt des Kinos aus dem Geiste eines Mörders" lautet. Die Doppelgesichtigkeit aus Abbild und Retusche, Realität und Illusion, die Fotografie und Film inhärent ist, ist ein zentrales Motiv dieses Abends – der seinerseits Fiktion und Fakten vermischt. Und seine Hauptfigur ist einer der erklärten "Väter" der Bullet Time: Eadweard Muybridge, Fotograf im Kalifornien des ausgehenden 19. Jahrhunderts, machte für Leland Stanford, Gründer der gleichnamigen Uni im heutigen Silicon Valley, die ikonografischen Einzelaufnahmen vom Bewegungsablauf eines galoppierenden Pferdes. 1874 erschoss er den Liebhaber seiner Frau.
Den Rahmen von Kerlins Stück bildet die Gerichtsverhandlung, an deren Ende Muybridge übrigens als letzter Mensch in Kalifornien trotz Geständnisses freigesprochen wurde. Was es alles gibt.
Bei Kay Voges hat die Verhandlung jedenfalls die Anmutung eines altmodischen, gemächlichen Fernsehkrimis: Das Personal in üppigen, quasi fotorealistischen Kostümen (Mona Ulrich) ist einschlägig, die strenge Richterin (Anke Zillich), die biedere Streber-Rechtsanwältin (Evi Kehrstephan), der ehrgeizige und manchmal etwas impulsive Staatsanwalt (Fabian Reichenbach).
Das ganze hat den Vibe einer alten Miss-Marple-Verfilmung, aber keinen Selbstzweck, sondern bildet eigentlich nur das Material für den teils stilecht in schwarz-weiß gehaltenen Film, der simultan dazu auf einer Leinwand mittig und oberhalb des Geschehens zu verfolgen ist. Das Bühnengeschehen wird zu einer Art Live-Making-of degradiert. Die Geburt des Kinos, das wird hier ganz wörtlich genommen, die Verhandlung gegen Muybridge (als eine Mischung aus verrückter Professor und Waldschrat: Frank Genser) gebiert sozusagen diesen Film.
Wie im alten Filmstudio
Das gibt Voges Gelegenheit zu netten Regieeinfällen, etwa wenn die Kutschfahrt, die Muybridge zum Mordschauplatz bringt, für die Kamera mit Mitteln nachgestellt wird, wie man sie sich in der Anfangszeit des Kinos vorstellt. Jemand, der hinten am Wagen ruckelt und so was. Es erlaubt Schnitte und Rückblenden, manchmal stapfen die Zeug*innen während der Verhandlung auch umstandslos in die Szenerie dessen, wovon sie gerade erzählen: Mittig zwischen den beiden Flügeln des Gerichtssaals, rechts mit Anklage und Verteidigung, links mit Richterpult und Zeugenstand, und unterhalb der Leinwand ist Raum für das detailverliebte Bühnenbild (Michael Sieberock- Serafimowitsch).
Hier ist der Mord noch einmal zu erleben, ebenso wie zahlreiche Abende im Club "The Owl". Dort wird etwa das Kennenlernen von Muybridges Ehefrau Flora (Lavinia Nowak) mit dem späteren Mordopfer, Major Larkyns (Elias Eilinghoff), re-enacted – oder findet es gar zum ersten Mal statt?
Wenn die Thesen purzeln
An diesem Punkt beißt sich der Abend ein wenig fest: An seiner These, ausgehend unter anderem von der Gewährsfrau und Muybridge-Biografin Rebecca Solnit, dass dessen Erfindungen uns und unsere Wahrnehmung der Welt für immer verändert haben. Was nicht falsch ist, aber auch ein wenig eindimensional.
Der Abend ist stark, wenn das gut gelaunte Ensemble ins Spielen kommt, die Bedeutungsebenen durcheinander wirbelt, die Populärkultur-Folklore zum Tanzen bringt. Wenn Elias Eilinghoff als Larkyns zu den Klängen von Elvis wie eine Mischung aus Dandy, Cowboy und Popstar in den Salon kommt, der doch eigentlich ein Saloon sein müsste. Wenn Lavinia Nowak als Flora eine feministischen Wutrede schwingt, die in dieser Große-Männer-Geschichte natürlich völlig fehl am Platz ist – genauso wie die Rechtsanwältin, deren reales Vorbild ein Mann war.
Zunehmend langatmig und verzichtbar geraten jedoch die Passagen, in denen gravitätisch die These rund um die Magie von Muybridges Entdeckung ausformuliert wird, die es ermögliche, in der Zeit zurückzugehen, oder gar den Tod zu überwinden. Was nun mal genauso wenig faktisch korrekt ist, wie es die Fake-News-Schnipsel sind, die ganz am Ende noch verstreut werden müssen, natürlich mit obligatorischer Donald-Trump-Analogie. Um im Bild zu bleiben: Man kann eine gute Idee auch zu Tode reiten.
Bullet Time – Die Geburt des Kinos aus dem Geiste eines Mörders
von Alexander Kerlin
Regie: Kay Voges, Bühne: Michael Sieberock- Serafimowitsch, Kostüm: Mona Ulrich, Soundtrack: Paul Wallfisch, Director of Photography: Max Hammel, Dramaturgie: Matthias Seier.
Mit: Frank Genser, Lavinia Nowak, Anke Zillich, Evi Kehrstephan, Fabian Reichenbach, Uwe Rohbeck, Elias Eilinghoff, Uwe Schmieder, Claudia Sabitzer, Christoph Schüchner. Videoart / Live-Kamera: Manuel Bader, Anton Hammel, Ulrike Schild, Eduardo Trivino Cely, Georg Vogler, Assistenz: Konrad Braun.
Premiere am 8. September 2024 im Volkstheater Wien
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.volkstheater.at
Kritikenrundschau
"Eine langatmige medien- und technikgeschichtliche Abhandlung mit dürrer Figurenzeichnung, trotz des genialisch-irren Haupthelden Eadweard Muybridge" sah Jakob Hayner von der Welt (8.9.2024) am Volkstheater.
Einen "Zwitterabend aus Film und Theater auf, der sich als Gerichtsdrama in historischen Kulissen und Kostümen abspielt", sah Margarete Affenzeller vom Standard (9.9.2024) am Volkstheater. Es handele sich um eine "aufwendige Konstruktion, deren Starrheit den Abend indes ausbremst".
"Wenn man mal die Frage hinter sich gelassen hat, warum das Thema Foto und Film ausgerechnet jetzt im Theater sein muss, auch noch als Western, macht die Inszenierung über sehr lange Zeit Spaß", schreibt Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (9.9.2024). "Souverän umarmen Voges und sein spielfreudiges Team die technischen Möglichkeiten des Films, ohne das Spiel preiszugeben." Die Kritikerin moniert allerdings die "deutlichen Schwächen des Textes", der "sich immer wieder auf Nebenschauplätzen" zu "verlieren droht".
"Alles in allem bleiben die Figuren in einer gewissen Statik gefangen," schreibt Linda Stift in der Wiener Tageszeitung Die Presse (10.9.2024). "Sie sind Typen, die ihre vorgezeichnete Rolle spielen. Etwas mehr Freiheit vom historischen Korsett hätte ihnen gutgetan. Dennoch gibt es am Ende frenetischen Applaus und Standing Ovations."
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