Das weite Land - Elias Perrig verabschiedet sich mit einer Schnitzler-Inszenierung als Schauspielleiter aus Basel
Triumph aus Vergnügen
von Beat Mazenauer
Basel, 16. Februar 2012. Zur Vorfreude auf einen Theaterabend gehört die Neugier auf das Bühnenbild. Dessen Design avanciert nicht selten zum sichtbaren Markenzeichen für eine Aufführung. In Basel hält Wolf Gutjahr dem eintretenden Publikum gleich zu Beginn den Spiegel vor. Die Bühne gibt einen abstrahierten Theaterraum wieder, in dessen Parkett sich allmählich die Schauspieler einfinden. In aller Ruhe sehen sie sich ihr Publikum an.
Arthur Schnitzlers Stück "Das weite Land" gibt sich in dieser Optik als ein Gesellschaftstheater zu erkennen, das vom seelischen Befinden der Menschen nicht nur auf der Bühne handelt. Das Publikum ist mitgemeint – zumindest macht es spontan diesen Anschein, als der erste Satz auf der Bühne vom Zuschauerraum aus beantwortet wird. Astrid Meyerfeldt sitzt als Astrid Meyerfeldt in der fünften Reihe auf Freuds Couch, im Traum.
Ökonomie der Seele
Doch dann pendelt sich das antagonistische Verhältnis von Bühne und Publikum wieder ein und letzteres wird Zeuge einer verwickelten Beziehungskonstellation. Der Pianist Korsakow ist soeben beerdigt worden, die kleine Gesellschaft findet sich bei Friedrich und Genia Hofreiter ein, zum Klatsch und Tratsch. Während dem Hausherrn wieder einmal eine Liebschaft aufgekündigt wurde, scheint Genia ein Muster an illusionsloser Treue zu sein. Diese ist ihrem Gemahl höchst unangenehm, setzt sie ihn doch in die Schuld. Deshalb sähe er es nicht ungern, wenn sie mit Korsakow etwas gehabt hätte, was obendrein seinen Selbstmord erklärt hätte.
Wünsche und Sehnsüchte lenken die beiden und ihren Freundeskreis auf unterschiedliche Weise. Friedrich hält die Sehnsucht für ein "sehr gesundes Element in der Ökonomie der Seele". Doch ganz so berechnend vermag auch er nicht damit umzugehen. Er ist eine Leuchte der Aufklärung (Glühbirnenfabrikant) und zugleich ihr intriganter Feind.
Die Dünnhäutigen und Egoistisch-kindlichen
In seiner letzten Regie als Spielleiter in Basel seziert Elias Perrig diesen Zwiespalt, in dem er Schnitzlers erstaunlich zeitgemässes, doch auch etwas geschwätziges Stück auf seinen seelischen Kern reduziert. Genia Hofreiter leidet an der Untreue ihres Gemahls und weiß doch selbst, dass sie nicht frei von Fehl ist. Elias Perrig hat ihre Figur fragiler, dünnhäutiger angelegt als es Schnitzlers Vorlage vermuten lässt. Astrid Meyerfeldt verleiht der Genia – nach etwas zögerlichem Beginnen – mit ihrer ausdrucksvollen Lebendigkeit und Wendigkeit eine starke Persönlichkeit.
Ihre Wechselbäder der Gefühle ziehen auch Friedrich Hofreiter – von Martin Butzke mal süffisant, mal kraftvoll gespielt – als markigen Widerpart mit. Er prahlt mit seiner affektiven Skrupellosigkeit und egoistisch-kindlichen Forschheit, doch verfängt dies bei der neuen Flamme, der jugendlichen Erna Wahl, nicht mehr. Anstatt falsche Eide zu schwören, schwört sie gar nicht. So gerät Friedrichs labiles Glück unmerklich auf die schiefe Ebene.
In dieser vergnügungssüchtigen Gesellschaft, die sich befreit wähnt von den Banden der moralischen Skrupel im Persönlichen, öffnet uns Schnitzler ein weites Land, das mit Freiheit lockt, doch Chaos bereit hält. Friedrich ahnt es, und Genia spürt es, so dass ihr innerer Tumult immer wieder tatkräftig hervorbricht und ihre Umgebung förmlich ansteckt.
Zusammenbruch des Klavierspielers
Schnitzler nannte sein Stück eine Tragikomödie, sie ist es auch in der Inszenierung in Basel. Den emotionalen Wallungen stehen komische Effekte gegenüber. Allem voran die Diseuse Anna Meinhold, mit imponierender Präsenz von Georgette Dee verkörpert. Ihre Auftritte verraten Witz, der dieses Stück grundsätzlich mit charakterisiert.
Um darin noch etwas weiter zu gehen, lockert Elias Perrig die Handlung mit kleinen szenischen Intermezzi auf, die freilich nicht alle zwingend gelingen. Ein mentaler Zusammenbruch des Klavierspielers, der nach ein paar harschen Beethoven-Takten die Bühne fluchtartig verlässt, weckt die Emotionen der Anwesenden. Demgegenüber wirkt das Liebesgedicht, das Adele Natter ihrem Gatten vorträgt, wie ein eher alberner Zusatz.
Gar das Verständnis strapaziert eine längere Szene, die bei Schnitzler dem 3. Akt entspricht und in einem feudalen Berghotel spielt. Das titelgebende Motto ("Die Seele … ist ein weites Land") umspielend bringt es Schattenfiguren hier auf den Plan, die zwar ein kraftvolles Durcheinander veranstalten, aber durchaus entbehrlich scheinen. So birgt "Das weite Land" in Basel die eine und andere Länge – welche dem Kritiker durch den leise in sich hineinmurrenden Sitznachbar zusätzlich verlängert wurde. Letzterer darf dem Stück aber nicht angelastet werden. Ihm wäre vielmehr etwas von der Haltung des Bankiers Natter zu wünschen gewesen.
Tugend Dritten Ranges
Natter avanciert mit seinem unterkühlten Charme zum Antagonisten Hofreiters. Stil bedeutet ihm wenig und Takt hält er für eine "Tugend dritten Ranges". Was ihn antreibt, ist das simple Amüsement. Mit dieser Figur hat Schnitzler 1911 einen Typus gezeichnet, der gerade eben die kulturelle Hegemonie übernimmt. 1915 notierte Schnitzler in sein Tagebuch, dass dieses Stück bleiben werde, "ja man könnte fast sagen, es wird erst kommen". Wie ungemütlich wahr.
Mit dem Satz "Aber man will doch nicht der Hopf sein" bringt Friedrich schließlich sein Lügengebäude zum Einsturz. Während er die Haltung verliert und ein Duell mit dem jugendlichen Geliebten seiner Frau anzettelt, triumphiert Natter aus reinem Vergnügen daran.
Es geht in diesem Stück um Offenheit und Maskerade – nichts wird hier je direkt ausgesprochen, alles nur gemunkelt. Es geht um Sehnsucht und Verantwortung, um Spiel und Lüge. "Lüge", fragt Genia im Gespräch mit dem treuherzigen Arzt Mauer: "Gibt's denn das in einem Spiel?" Vielleicht nicht. Die Frage aber muss umgekehrt lauten: Darf mit der Lüge gespielt werden? Allen gemachten Einwänden zum Trotz hat Elias Perrig die Vorlage Schnitzlers aufs Wesentliche gekürzt und in ihrem Kern eine erstaunlich aktuelle Zeitdiagnose sichtbar gemacht.
Das weite Land
von Arthur Schnitzler
Regie: Elias Perrig, Dramaturgie: Martina Grohmann, Bühne: Wolf Gutjahr, Kostüme: Charlotte Sonja Willi, Musik: Burkhard Niggemeier.
Mit: Martin Butzke, Astrid Meyerfeldt, Caroline Schär, Georgette Dee, Benjamin Kempf, Hartmut Lange, Hanna Eichel René Dumont, Burkhard Niggemeier, Fabian Simon.
www.theater-basel.ch
"Die etwas zähe Inszenierung von Schauspielchef Elias Perrig erschliesst sich von ihrem Ende her", so Alfred Schlienger in der Neuen Zürcher Zeitung (18.2.2012). Und zwar wenn Schnitzler klingt wie eine Szene aus dem Absurden Theater. "Das Personal um rund die Hälfte reduziert, den Schnitzler-Text stark eingedampft und gleichzeitig erweitert durch Zusätze aus Schnitzlers Tagebüchern, mit Traumsequenzen und Zitaten von Sigmund Freud und Slavoj Žižek": Diese Eingriffe seien zwar nicht gemütlich, sollten sie aber auch nicht, denn das sei Schnitzler nie gewesen.
Regisseur Elias Perrig interessierten nicht die Fragen "Was ist Wirklichkeit, was Illusion? Was ist Wahrheit, was Lüge?" so Bettina Schulte in der Badischen Zeitung (18.2.2012). Vielmehr grabe die Inszenierung in Richtung der Frage: "Ahmt hier die Kunst das Leben nach oder das Leben die Kunst?" Vieles sei schlüssig, auch wenn Schulte am Schluss bemerkt, dass man durch die enormen Kürzungen eher an einen kühlen Skandinavier denn den geschwätzigen Schnitzler als Autor erinnert sei.
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