Ich will eine schöne Liebe!

6. Mai 2023. Feuerwehreinsatz von Anna Bergmann in Basel. Zweieinhalb Wochen vor der Premiere übernahm sie die Regie für Fassbinders Klassiker "Die bitteren Tränen der Petra von Kant", die Tragödie um unerwiderte Gefühle und Klassenunterschiede.

Von Claude Bühler

Fassbinders "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" in der Regie von Anna Bergmann in Basel © Ingo Hoehn

6. Mai 2023. Unglückliche Vorzeichen: Emilie Charriot hatte die Regie wegen einer Erkrankung in der Familie abgegeben. Anna Bergmann, Schauspieldirektorin am Badischen Staatstheater Karlsruhe, die das Stück schon einmal inszeniert hatte, sprang ein. Sie musste die Vorgabe ihrer Vorgängerin übernehmen: eine fast völlig leere Bühne – bis zur Premiere blieben gerade noch zweieinhalb Wochen.

Damit hing die Frage über der Aufführung: Was wird da noch einzuholen sein? Für eine gründliche Neusichtung von Rainer Werner Fassbinders meistgespieltem Stück seit 1971 blieb keine Zeit. Wer sich noch des unter der Regie des Autors konzentriert ausgespielten Kammerspielfilms von 1972 mit Margit Carstensen in der Titelrolle, mit Hanna Schygulla und Irm Hermann, erinnert, weiß, dass sich das Drama nur in einer sehr subtilen Spielweise voll überträgt.

Gin gegen den verblassenden Ruhm

In Carstensens buntem Wohnatelier war es eng – hier in Basel scheint sich der Raum, als sich der schwarze Vorhang hebt, in die Dimensionen einer Industriehalle zu weiten. Alles kahl, graue Wände, schwarzer Boden, weißes Licht.

Von Kant bewohnt darin allerdings nur eine kleine Insel, die sie während des Abends nur selten verlässt, aus Kissen, Plattenspieler, Gin-Flaschen und siebziger Jahre-Telefon: Das traurige Refugium einer von Hybris aufrecht gehaltenen, in abgestandenem Ruhm cool auffahrenden, aber eigentlich verweichlichten Romantikerin, die das Ende ihrer Karriere heranschleichen spürt und die das Scheitern ihrer Ehe nur schwer verdaut.

Denn die Kollektionen der erfolgsverwöhnten Modedesignerin skizziert längst Hausdienerin Marlene, die wie ein schwarz gewandeter Geist erscheint und verschwindet, Kaffee und Orangensaft serviert, vor allem aber Champagner und Gin-Tonic für die Hausherrin.

Tränen1 Ingo Hoehn uUpper Class-Rivalinnen: Anne Haug (als Sidonie von Grasenabb) und Carina Braunschmidt (als Petra von Kant) © Ingo Hoehn

Spätestens, wenn von Kant der verhassten Freundin Sidonie ihre bürgerlichen Ehemachtspiele vorhält, wie sie demgegenüber eine "schöne Liebe" leben wollte, in der man "immer ganz genau weiß, was geschieht, bei einem selbst und auch beim andern", wenn sie scharf analysiert, dass hinter ehelicher Verhätschelung immer die Unterdrückung lauere und sie diese abgeschüttelt habe, wird klar, dass dieses Stück vielleicht in seiner Form aus einer anderen Zeit stammt, mit seinen inhaltlichen Beiträgen aber noch immer anregend sein kann.

Liebespaar mit Klassenunterschied

Und dass es auch hier auf der akustisch schwer zu bespielenden Riesenbühne mit seinem cleveren Spannungsaufbau einen langsamen Sog hin zur Eskalation entfaltet. Schnell wittert man die Katastrophe. Man leidet mit, wenn sich von Kant in die Arbeitertochter Karin, hier weiß im Disco-Look aufgeputzt, verliebt. Denn nach jeder Frage muss sie ihre Enttäuschung runterschlucken, wenn auf ihren hochgespannten Verstand Karins Antworten voll trägem Desinteresse an allem, aber voll verstecktem Ehrgeiz treffen. Man leidet, weil von Kant nun Karin zu verhätscheln und zu unterdrücken beginnt, sie zu einer Modelkarriere bringt und als Objekt diszipliniert, um das für sie quälende Gefälle an Kultiviertheit auszugleichen – und um die junge Frau zu besitzen.

Traenen4 1200 Ingo Hoehn uDie ungleiche Geliebte von Petra von Kant: Mala Emde als Arbeitertochter Karin Thimm © Ingo Hoehn

Schließlich haut Karin ab, die Verlassene ergeht sich in Hassausbrüchen und versackt in Suff und Chaos. Symbolistisch verteilt hier Marlene Telefone über die ganze Bühne, von Kant hetzt getrieben in Hoffnung auf Karins Stimme den Klingeltönen nach. Am Geburtstag tobt sich die nervlich Ausgefranste an Mutter, Tochter und Sidonie aus, schmeißt Teller und Gläser an die Wand. Aber hier gerät nicht nur das Fest aus den Fugen, auch die Inszenierung verliert die Kontur, fällt ins Komödiantische. Dazu kommen andere Spielereien und auch Striche, die die Spannung zusätzlich glätten. Der Selbstmord Marlenes am Ende, die im Film an der Stelle den Koffer packte, berührt das Sentiment, ist aber eine Schwerpunktverlagerung. Im Original bleibt von Kant vereinsamt auf sich selbst zurückgeworfen.

Ein Lichtblick

Um die Aufführung wirklich auf die Spitze zu treiben, reicht die oft ordentliche durchgeführte Anlage nicht, hätte es einer vertiefteren Rollenauslotung bedurft, die unter diesen Umständen nicht stattfinden konnte. Der Entscheid zur Einhaltung des Premierendatums trotz Regiewechsels ist künstlerisch absolut fragwürdig.

Dass die Aufführung dennoch hält, immer wieder sogar zum Erlebnis wird, liegt an Carina Braunschmidt. Sie hat sich die Titelrolle fühlbar einverleibt und funktioniert aus ihr heraus bis in jede Regung. Das Süchtige-Abgründige und das Selbstische gehen organisch Hand in Hand. Von dieser Spannung bezieht sie eine Präsenz und eine Führung, die sie stets zum Fokus des Abends macht, ohne ihn je behaupten zu müssen.

 

Die bitteren Tränen der Petra von Kant
von Rainer Werner Fassbinder
Inszenierung und Bühne: Anna Bergmann, Kostüme: Emilie Loiseau, Musik: Heiko Schnurpel, Lichtdesign: Henning Streck, Ton: Ralf Holtmann, Choreographie: Tabea Martin, Dramaturgie: Inga Schonlau.
Mit: Carina Braunschmidt, Mala Emde, Nairi Hadodo, Anne Haug, Sina Kiessling, Suly Röthlisberger.
Premiere am 5. April 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

Eine "mitreissende Carina Braunschmidt" in der Titelrolle hat Dominique Spirgi von der Aargauer Zeitung (8.5.2023) gesehen. "Regisseurin Anna Bergmann verlässt sich in ihrer Inszenierung voll und ganz auf die von Fassbinder vorgesehenen sechs Schauspielerinnen für ein Kammerspiel, das sich im leeren Raum bewähren muss" und biete mit ihrer Ersatz-Regie so den "Genuss eines reinen Schauspielerinnentheaters".

Petra von Kants Liebesbeziehung "bleibt pure Behauptung. Von erotischer Anziehung kein Spurenelement", schreibt Bettina Schulte in der Badischen Zeitung (€ | 8.5.2023).Von den Motivationen der Hauptfigur "sieht man in Basel nichts. Man sieht: eine hysterische Frau mit verstrubbeltem Haar im roten Bademantel, die hektisch von einem Telefon zum anderen stürzt und atemlos immer wieder 'Karin?' in die Muschel schreit. Man sieht: eine sehr wütende Frau, die ihre Geburtstagsgäste unflätig beschimpft, Gläser an die Wand pfeffert, Luftballons zum Platzen bringt, ihre Hausschuhe in die Luft schleudert und das Gesicht ihrer Freundin in eine Torte drückt. Das Premierenpublikum freut sich über die Slapsticknummer, die den Tiefpunkt des Abends darstellt. Dass sich die treue Marlene am Ende die Pulsadern aufschneidet: Who cares?"

Der minimalistisch eingerichtete Bühnen-Raum verströme im Maklerjargon "Industriecharme", auch in so einer minimalen Bühneneinrichtung lasse sich die verhängnisvolle Liebesbeziehung zwischen Petra von Kant und dem um viele Jahre jüngeren Model Karin Thimm erzählen, schreibt in der FAZ (12.5.2023). "Der Schwere des Stücks versucht die eingesprungene Anna Bergmann mit Humor entgegenzuwirken." Das funktioniere überraschend gut in Form von Impromptu-Musikeinlagen, Zitaten aus Popkultur oder ironischen Metakommentaren. Dass die Aufführung mit vierfachem Applaus gewürdigt wurde, liege vor allem auch an Carina Braunschmidt, "sie hat sich die Titelrolle spürbar angeeignet". 

Kommentare  
Bittere Tränen, Basel: Fragwürdiger Regie-Wechsel
Danke, Claude Bühler, dass Sie die künstlerische Fragwürdigkeit dieser Art von Regie-Wechsel ansprechen.
Wozu musste dieser Premierentermin gehalten werden? Wäre nicht auch eine langfristige Verschiebung der Premiere möglich gewesen und Frau Charriot hätte die Inszenierung dann zu Ende führen können, wenn das nach dem familiären Krankheitsfall eben wieder möglich gewesen wäre? So wirkt es mir so, dass der Betrieb eben laufen muss, egal was ist.
Und was ich wirklich sehr unangenehm empfinde, dass das Theater Basel und Frau Bergmann es so ausgestellt vor sich hertragen, dass es ja „nur“ 2 Wochen zu Proben noch waren und alles neu entwickelt und gefunden werden musste. Gab es denn nichts, was bis dahin mit Frau Charriot entwickelt wurden und das weitergeführt werden konnte?
Und wenn ein Theater und eine Regisseur:in sich zu einem Regie-Wechsel ohne Premierenverschiebung entscheiden, dann tut das und zieht es durch! Aber bitte nicht schon vorher sich schon absichern mit „es waren ja nur 2 Wochen“. Niemand hat euch zu dieser Entscheidung gezwungen, dann haltet sie bitte in ihrer Konsequenz auch aus. So empfinde ich das zumindest. Ich mag nicht im Zuschauerraum sitzen und mir etwas ansehen, wo ihr euch hinter einem „es waren ja nur 2 Wochen“ versteckt. Dann verschiebt bitte die Premiere so lange, bis ihr euch sicher seid und nicht mehr euch hinter schon im Vorfeld gestreuten Entschuldigungen absichert. Ist meine Meinung.
Ansonsten, alles gute zum Geburtstag, Frau Bergmann. Und den Schauspielerinnen alles gute für die Vorstellungen.
Bittere Tränen, Basel: Lieber Ersatz-Regie?
Tatsächlich ist eine langfristige Verschiebung von Premieren aufgrund der engen Disposition an vielen Theatern oft gar nicht so leicht und wenn überhaupt nur Monate später oder auch eine komplette Spielzeit später möglich. Gerade wenn sich die Saison wie jetzt in der Schlusskurve befindet, gibt es vermutlich wenig Planungsspielraum und die Variante wäre, die Produktion komplett hintenüber fallen zu lassen. Daher schon verständlich, kurzfristig eine Ersatz-Regie zu suchen. Dass dann allerdings zwei Wochen vor Premiere offensichtlich kaum szenisches Material vorhanden ist, lässt einen schon darüber nachdenken, ob nicht eher künstlerische Gründe zu dieser Entscheidung geführt haben. Kommt ja hier und da vor und in den Pressemitteilungen wird aber natürlich stets von persönlichen / familiären / organisatorischen Gründen gesprochen. Aber in diesem konkreten Fall wäre das natürlich Spekulation.
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