Dr. Watzenreuthers Vermächtnis - Theater Basel
"Ich bin so vielfach in den Nächten"
14. September 2024. Christoph Marthaler inszeniert und wie erwartet gibt es Tragikomik, viel Gesang und skurrile Momente. Aber halt! Etwas ist anders an diesem Abend – und ganz wunderbar!
Von Valeria Heintges
14. September 2024. Edler Tisch vor edler Täfelung. Vasen und Amphoren auf Säulen, eine Regalwand mit 20 Urnen darin. Und in der Mitte der Hausherr, als Ölgemälde. Dies hier ist "Dr. Watzenreuthers Vermächtnis" im Schauspielhaus des Theater Basel. Regie: Christoph Marthaler. Untertitel: "Ein Wunschdenkfehler".
Die vier Herren, die drei Damen und die junge Frau am Tisch sind alle Mitglieder der Familie Watzenreuther. Die Reihenfolge ist unhöflich, entspricht aber den Tatsachen. Denn hier stimmen die Verhältnisse noch, sind die Herren wichtig und die Frauen "die bessere Hälfte". Immerhin heißt es einmal "Die bessere Hälfte ist die halbe Miete". Die junge Frau aber hat gar nichts zu lachen. Und wenn sie es doch tut, wird sie ermahnt. Erst von der Mutter zu ihrer Rechten. Dann der Reihe nach von allen anderen. Sie lacht oft, aber es ist ein bitteres Lachen, das nichts Gutes verheißt. Aber sie hat ihren Fluchtweg gefunden. Sie spielt Cello, und zwar meisterhaft. Was sagen die anderen? "Unsere Nadja spielt immer noch Blockflöte." Sie kapieren eben gar nichts. Wenn es Nadja zu viel wird, verschwindet sie im Schrank, samt Cello.
Aus dem Staub gemacht
Was auf der Bühne stattfindet, ist teils Sitzung, teils Feier von Nadjas 17. Geburtstag, teils 50. Hochzeitsfest von Klaus und Maria – allerdings sind beide längst verschieden und nur in ihren Urnen anwesend. Es gibt daher wechselnde Monologe, aber eine festgelegte Tagesordnung: "Am Ende kommen wir zum Schluss." Geboten wird ein Wortgeklingel als kruder Eintopf aus gutem Willen und hohlem Geschwätz à la "Es ist auch eine Frage, wie sich die Lage verändert" oder "Wir lassen die Katze aus dem Wrack". Zwischen den Floskeln hat sich der Sinn längst aus dem Staub gemacht, nur Texte von Jürg Läderach, Richard Wagner, Paul Gerhardt und Dieter Roth halten wacker dagegen. Und die Bergpredigt, die Graham F. Valentine großartig-altenglisch vorträgt. Denn sie wissen ja doch, was sie tun. Aber sie erliegen gern ihrem "Wunschdenkfehler".
Dazu werden – wir sind bei Marthaler – Bach-Choräle gesungen oder der Popsong "If you don't know me by now" von Harold Melvin & the Blue Notes erst a cappella, dann zerdehnt, dann auf Deutsch. Dazu lassen die Schauspieler:innen ihre Gesichter einfrieren und grau werden; sie senden erstarrte Blicke voller tödlicher Langeweile, lassen ihre Mienen entgleiten, ihre Köpfe sinken, ihre Körper zusammensacken. Das hat starke Anklänge an Dinner-for-One-artiges "Same procedure as every year". Weil ja alles schon tausendmal gehört wurde und schon beim ersten Mal langweilig war.
Das Bild hängt schief
Dafür kann sich Marthaler auf ein großartiges Ensemble verlassen: Marie Löcker mit geeister Miene, Vera Flück mit wildem Lachen, Ueli Jäggi mit Knollennase, Raphael Clamer mit einem irren Schlagzeugsolo auf allem, was im Raum zur Verfügung steht. Carina Braunschmidt mit beredtem "Schweigegelübde" und Peter Keller als staubtrockener Kammerdiener.
Das ist Marthaler-typisch komisch und tragisch zugleich; spielt im klassisch-durchdachten Duri-Bischoff-Bühnenbild, in dem Loriot-artig der Bilderrahmen verrutscht und Sara Kittelmann die Protagonisten in stockkonservative, unförmige Kleider steckt und – wo nötig – mit grauen Perücken behauptet.
Doch hat es einen ungewohnt bitteren, regelrecht fatalistischen Unterton, der diesen Marthaler-Abend besonders macht. Nicht nur entlockt die wandelbare Cellistin Nadja Reich ihrem Instrument mit Puccini, Bach, Wagner und Mieczyslaw Weinberg immer verzweifeltere Töne, sie schleudert ihren Familienmitgliedern auch den wütenden Satz des französischen Sozialisten Jean Jaurès entgegen: "Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme". Sie sagt mit Emmy Hennings: "Ich bin so vielfach in den Nächten" und prophezeit düster "Vielleicht verwehen meine Vielfachheiten / Ein einsam flatternd, blasses Fahnentuch".
Schimmel hinter den Wänden
Mit ihrer Verzweiflung ist sie nicht allein. Sie ist Teil einer Jugend, die dieses immergleiche Immer-weiter-So nicht mehr erträgt, weil es längst zu große Schäden angerichtet hat. Valentine rührt einen grässlichen, sprachengemixten Monolog aus Satzfetzen all der Radikalen dieser Welt (Inklusive den Vance'schen "childless Cat-Ladies" und dem Trump'schen "All of a sudden she became black").
Und dann fallen die Täfelungen von der Wand, brechen die Stühle ein, liegt die gesamte Gesellschaft niedergestreckt auf und unter dem Tisch. Hinter den Tafeln zeigen sich riesige Schimmelflecken – oder sind es Kunstwerke? Eines ist ein Mensch (Karl Friedrich Maximilian Götte), grau in grau, der von der Wand herunter schimpft und zetert und anklagt. Und mit den Worten endet: "Anders. Keinesfalls so." Da draußen – da sind noch andere verzweifelte Cellospieler:innen. Ihre Musik kommt durch die Lüftung. Es gibt nämlich doch Wege hinaus.
Dr. Watzenreuthers Vermächtnis – ein Wunschdenkfehler
von Christoph Marthaler
Inszenierung: Christoph Marthaler, Musikalische Leitung und Urnenorgel: Bendix Dethleffsen, Bühne: Duri Bischoff, Kostüme: Sara Kittelmann, Lichtdesign: Vassilios Chassapakis, Dramaturgie: Timon Jansen.
Mit: Nadja Reich (auch Cellistin), Carina Braunschmidt, Raphael Clamer, Vera Flück, Martin Hug, Ueli Jäggi, Marie Löcker, Graham F. Valentine, Peter Keller, Karl Friedrich Maximilian Götte, Katharina Gieron, Alina Schmidli.
Premiere am 13. September 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.theater-basel.ch
Kritikenrundschau
Für Salomé Meier von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.9.2024) zeigt Christoph Marthaler an diesem Abend, "was er am besten kann: eine postdramatische Persiflage auf die Menschen von gestern, die sich umso mehr an der alten patriarchalisch-patriotischen Weltanschauung festklammern, je mehr sie zu zerfallen droht. Wie immer verschwimmen darin die Grenzen zwischen musikalischer und dramatischer Performance". In dem Stück entfalte sich "eine entlarvende Komik, gleichzeitig wird eine Atmosphäre von Fatalismus, Absurdität, Bürokratie und Apathie in der Form der Parodie geschaffen".
Für die Badische Zeitung (16.9.2024) berichtet Jürgen Reuß aus Basel: "Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass da Botschaft verkündet werden soll. Bloß welche? Die einzelnen Sequenzen, auch die richtig gut gelungenen, wirken meist eher wie zusammengekehrt als komponiert. Das Stück stellt einen auch nicht aus den Wohlfühlpantoffeln in den Senkel, sondern lässt einen ausgelatschten Eindruck zurück. Herausragen tut nur eins: das Cello. Das Ohr wird verwöhnt, das Hirn darf irrlichtern."
"Der Humor bleibt aber an der Oberfläche – dafür scheint es Marthaler um die Situation der Welt und das gekränkte Selbstbild der Schweiz zu ernst", berichtet Lukas Nussbaumer für die Basler Zeitung (16.9.2024). "Die Symbolsprache ist wenig erheiternd. Wer zum Saisonstart seichte Unterhaltung und eine leicht verdauliche Thematik sucht, ist bei Marthaler fehl am Platz. Das Stück irritiert und bricht Erwartungshaltungen – wie es im Theater sein sollte."
Für den Südkurier (16.9.2024) schreibt Siegbert Kopp: "Marthaler ist seit seinen Anfängen ein Meister der unterdrückten Gefühle, der verschluckten Ressentiments. Angesichts der politischen Krisen der Gegenwart bekommt sein Schaffen plötzlich neue Brisanz. Was er zeigt wie kein anderer: So richtig will man mit seiner rechten Gesinnung noch nicht heraus. Die selbstverfassten Texte sind ein böses Hickhack aus gezieltem Unsinn, starrem Verwaltungsdeutsch, eisigen Höflichkeitsfloskeln und Nonsens. Egoistische Interessen und der Wille zur Macht blitzen selten auf. Sprache hat in dieser Gesellschaft nur einen Zweck: Sie klittert einzelne Sätze zu einem klebrigen Verblendungszusammenhang zusammen."
Ihr Erlebnis "eines insgesamt grossartigen Abends" gibt Kathrin Signer im St. Galler Tagblatt (16.9.2024) zu Protokoll: Es "prasselt der politische Dadaismus minutenlang"; Marthaler sei "ein Meister der episodenhaften Dekonstruktion". Doch in "der Art, wie diese reaktionäre Gesellschaft persifliert wird", zeige sich auch "ein anderer Marthaler, als man ihn kennt. Er ist gegenwärtiger. Er ist fieser. Und lustiger. Obwohl man natürlich nicht mit den traurigen Figuren lacht (und gelacht wird viel am Premierenabend), in deren Gemächern die Zeit stehen geblieben ist, sondern über sie."
Wie in frühen Marthaler-Stücken habe dieser Abend kein "klares, deutliches Thema; er hat Bewegungen, er hat Stimmungen", berichtet Michael Laages für "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (13.9.2024). Das Ensemble sei "irgendwo im Nirgendwo in der Kommunikation eingefangen". Es sei ein Marthaler-Abend, "den man definitiv nicht ausrechnen kann". Mit der Unverständlichkeit und dem verstörenden Potenzial dieses Marthalers verbindet sich eine große Wertschätzung des Kritikers: "Ich finde, es ist angenehm zu sehen, wie er zu seinen früheren, teilweise ganz frühen Methoden zurückkommt und wie das heute noch wirkt."
Lobende Worte findet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (19.9.2024) für Marthalers neue "Theatererfindung": Vieles darin "kommt einem vertraut vor: die meisten der Darsteller, die stupende Musikalität der Abläufe, die Freiheit der Assoziationen. Und doch ist diesmal einiges anders, böser, dunkler. Wobei man sich bei Marthalers Humor generell nicht auf der vermeintlich lustigen Oberfläche sicher wähnen sollte."
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