Mann ist Mann - Theater Basel
Opfer oder Opportunist?
21. September 2024. Drei Soldaten fehlt der vierte. Kurzerhand schnappen sie sich auf der Straße einen Mann – Galy Gay, der nur rasch Fisch kaufen wollte, nun aber zum Soldaten wird. Wer man ist, hängt allein vom sozialen Kontext ab, erzählte Brecht mit seinem frühen Stück. Jörg Pohl hat es nun in Basel inszeniert – und steht unerwartet selbst mit auf der Bühne.
Von Claude Bühler
21. September 2024. Man staunt: Schauspieler Fabian Dämmich war für die Premiere ausgefallen, spontan sprang Regisseur Jörg Pohl ein. Zu einem Auftakt-Monolog tritt er als erster vor den Gardinen-Vorhang, gibt im sekundenschnellen Wechsel und mit erheblicher Sogwirkung die Rollen eines Gummibaums oder des Mondes, eines Elefantenkalbes und seiner Mutter: "Wer die Handlung nicht gleich begreift, sie ist unverständlich", und wer einen Sinn suche, solle sich lieber aufs Pissoir begeben – ein Vorzeichen für den Abend.
Mit Inbrunst ein anderer sein
Zweites Staunen: Das 100-jährige, wenig gespielte Stück des noch jungen Brecht scheint wenigstens inhaltlich geradezu für unsere Zeit geschrieben, wo uns Kriege erschüttern, der Kapitalismus galoppiert, Identitäten hinterfragt werden und der Kolonialismus als Ursünde debattiert wird. Bei Brecht spielt die Handlung im indischen Kilkoa der Kolonialzeit, bei Pohl in der nahen Zukunft, denn, so die Aussage, geändert hat sich nichts.
Brecht nannte das Stück provokant ein Lustspiel, in Basel enthüllt es sich dazu als ein witzig-absurdes Anti-Lehrstück, das mit der düstern Doors-Hymne "Unknown Soldier" fast etwas zu pathetisch ausklingt. Der irische Tagelöhner Galy Gay gerät in die Fänge dreier verbrecherischer Soldaten, die ihren vierten Mann bei einem Raubüberfall auf eine Tankstelle verloren haben. Sie brauchen ihn, erst für die Vollzähligkeit beim Appell, später für den Kriegseinsatz. Mit Bier und Zigaretten, später mit einem fiesen Deal und einer fingierten Exekution setzen sie ihm derart zu, dass er seine neue Rolle wie freiwillig mit Inbrunst annimmt.
Jan Bluthardt spielt diesen Galy Gay mit einer Art naiver Verschlagenheit. Er ist charmant-kindlich und nicht aus der Ruhe zu bringen. Sein hellwacher Geschäftssinn, sein wie natürlich angelegter Opportunismus machen ihn zum Verräter und am Ende zum Killer. Nur zwei Mal, bei der Konfrontation mit seiner Frau, die er verleugnet, oder vor der Exekution wackelt die Fassade, bricht sein altes Ego bei letzterer in schreiender Todesangst auf.
In der Männerwelt, gen Vernichtung
Aber wie soll man diesen Menschen einschätzen? Ein Opfer, ein Schwächling oder ein neuer Menschentypus, der sich einfach den Gegebenheiten anpasst? Genau das halten die Inszenierung und Bluthardts überaus versierte Rollengestaltung ganz wunderbar in der Schwebe. Und so schaut man zu, inwiefern sich irgendwann tieferes Verständnis öffnet. Klar ist nur, in dieser Männerwelt beugt sich alles vor Hierarchien und für sexuelle Gefälligkeiten, und der Weg führt in die Vernichtung.
Brechts hintersinnige Sprache ("Der Krieg ist ausgebrochen, der vorgesehen war") erhält gerade im lakonischen Ton und vor dem Hintergrund der aktuellen Lage etwas Schauriges und Nahbekanntes. Und dann sieht man auf der Bühne die Soldaten, die sich zwischen Angst vor dem Sergeanten und öder Lusterwartung (einer ruft immerzu "Bier") wie Teenager aufführen, die sich schlau vorkommen. Der Klamauk, etwa ihre comichafte Lautmalerei wie im Kasperletheater, ist dosiert eingesetzt: die präzise Kontur, die genaue Geste zieht unseren kritischen Blick an.
Struppig-schmerzhaft klingen die Songs
Und wohin fahren sie, wenn es in den Krieg geht? "Wenn sie Gas brauchen, in den Norden, wenn sie Öl brauchen, in den Süden". Und selbstverständlich spricht man von "Verteidigungskrieg". Grotesk auch Sergeant Fairchild, der immer "sinnlich" wird, wenn es regnet, mit der Erschießung einiger Einheimischer prahlt und sich zum Ende selbst entmannt; Barbara Colceriu gibt diese lächerliche Figur, in der sich Männerprobleme bündeln, nie leichtfertig der Lächerlichkeit Preis, stets hält sie die Zügel, stellt nur das Phänomen dieser Existenz vor.
Die einzige kommentierende Instanz ist die Basler Rocksängerin und Gitarristin Evelinn Trouble, an der Bühnenseite postiert. Eingebaut hat Trouble etwa einen Folk-Song aus dem 18. Jahrhundert über eine Frau, die nach einem Drink zuviel die gesellschaftliche Akzeptanz verliert. Mit dem Song erhält die Barfrau und Prostituierte Begbick eine tiefere Dimension – und wir bekommen einen anderen Blick auf das Bühnengeschehen. Die Songs von Paul Dessau klingen in Troubles Bearbeitung struppig, manchmal etwas schmerzhaft, machen ein Klang-Panorama auf von PJ Harvey, über Neil Youngs "Dead Man"-Soundtrack bis hin zu Prog- und Techno-Elementen. Ihr Sound wirkt im Stück wie eine stete Erinnerung an die Jetztzeit.
Selten in den letzten Jahren hat man auf den Basler Bühnen im Schauspiel eine derart differenzierte Schauspielarbeit erlebt, die einen Stil durchhält: Ein Abend aus einem Guss und mit unablässigem Puls.
Mann ist Mann
von Bertolt Brecht, Musik von Paul Dessau
Inszenierung: Jörg Pohl, Musikalische Leitung & Live-Musik: Evelinn Trouble, Bühne und Kostüme: Lena Schön / Helen Stein, Lichtdesign: Roland Heid, Stefan Erny, Ton: Laurenz Fregnan / David Huggel, Dramaturgie: Kris Merken.
Mit Elmira Bahrami, Jan Bluthardt, Barbara Colceriu, Jörg Pohl (für Fabian Dämmich, wegen Krankheit ausgefallen) Sven Schelker, Julian Anatol Schneider, Hanh Mai Thi Tran, Evelinn Trouble.
Premiere am 20. September 2024
Dauer: 2 Stunden ohne Pause
www.theater-basel.ch
Kritikenrundschau
Schwer abzuschätzen, ob das so von Jörg Pohl und seinem Team intendiert war, "unklar, ob der Co-Leiter der Sparte Schauspiel das Eintauchen der Zuschauerinnen und Zuschauer in betont brechtscher Manier verhindern wollte", schreibt in der bz Basel (21.9.224). "Sicher ist: Gefühlsmässig abgetrennt von der an sich tragischen Handlung richtet man sein Augenmerk auf jene Elemente, bei denen Verwandlung eindrücklich vollzogen wird oder wurde." Zum einen wäre da die Musik, die von der Zürcher Popmusikerin Evelinn Trouble arrangiert werde. "Ihr gelingt das Kunststück, aus der Vorlage von Paul Dessau Retro-Feeling und moderne Sounds in Einklang zu bringen." Fast ebenso geglückt sei die Verwandlung jener Darstellenden, die hinsichtlich Geschlecht zu großen Teilen über Kreuz besetzt sind.
Jörg Pohl und das Ensemble dächten die Geschichte des Jahrhunderts mit und schauten auf Brecht mit europäischen Augen von heute. Das zeige sich vor allem in ihrer Haltung gegenüber dem Text als Lehrstück ohne sichere Lehre. "Und es zeigt sich natürlich auch im Soundtrack der Musikerin Evelinn Trouble, die Paul Dessaus gestischen Bühnenkompositionen ein flirrendes Rockkleid verpasst", so Andreas Klaeui vom SRF (24.9.2024). Das Ensemble, "die Basler Super-Komödianten", gäben dem Affen Zucker, "es ist das reine Zuschauvergnügen". "Und wenn wir bedenken, wie nah der Krieg und wie gefährdet die Freiheit des Individuums schon wieder ist: auch ein gruseliges Zuschauvergnügen."
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