Mit clownesker Ernsthaftigkeit

27. Mai 2023. Ausprobieren, scheitern, wieder anfangen: Ein neues Werk von Grenzwandler-Regisseur Herbert Fritsch, diesmal gelabelt als "Neo-Dada-Oper". Gefeiert wird hier die Kreativität der Improvisation, geboten ein Füllhorn mit musikalischen Einfällen, Slapstick-Nummern, Akrobatik. Und eine große Ensembleleistung.

Von Reingart Sauppe

"Vergeigt" von Herbert Fritsch am Theater Basel © Thomas Aurin

27. Mai 2023. Dass diese Herbert-Fritsch-Produktion eine Oper sei, wie vom Theater angekündigt, ist natürlich ein Etikettenschwindel. Gesungen wird in diesen gut anderthalb Stunden so gut wie gar nicht. Außer mal eine A-Capella-Version des Beatles Songs Because the world is round. Gesprochen aber auch nicht.

Raus aus dem Korsett

Dem Regisseur Herbert Fritsch ist das Schubladendenken eh ein Graus. Aber weil das Stadttheater immer noch in den herkömmlichen Kategorien organisiert ist, labelt der Pressetext die Produktion flugs als Neo-Dada-Oper. Überhaupt wird schon im Vorfeld erstaunlich viel Dramaturgenexegese angeboten: "Vergeigt" sei ein grenzüberschreitender Abend über das Scheitern und Nicht-Können, bei dem auch das Verstehenwollen zum Scheitern verurteilt sei. Unverständlichkeit und Scheitern als Programm? Ein vorprogrammierter Reinfall? So schlimm kommt es nicht. Vier Musiker und drei Schauspieler haben mit dem Regisseur und seiner Methode der improvisatorischen Kreativität folgend gearbeitet. Den Impuls gab die Schweizer Stargeigerin Patricia Kopachinskaja, die sich die Arbeit mit Herbert Fritsch gewünscht hatte, um einmal aus dem perfektionistischen Korsett des klassischen Musikbetriebs auszubrechen. Hier darf sie's endlich mal so richtig "vergeigen" und das tut sie mit Herzenslust.

Zum Auftakt steht Kopachinskaja steht mit ihrem Instrument auf der dunklen Bühne, nur von einem roten Lichtstrahl in Szene gesetzt und traktiert mit vollem Körpereinsatz, gekrümmt und aufbäumend, die langen Haare wild um sich werfend ihre Geige, die laut quietscht und kratzt. Ein Akt der Befreiung, denn hier ist kein Ton falsch. Doch anarchistisch ist das "Vergeigen" keineswegs.

Kafkaeske Marionetten

Die Geigerin reiht sich ein in das siebenköpfige Ensemble, das mit Donnerblechen, Klarinetten, Geigen und der menschlichen Stimme experimentiert und dabei Klangskulpturen entwickelt wie in der zeitgenössischen Musik. Was passiert, wenn der Geigenbogen über den Rücken des Instruments streicht, welche Töne kann man mit einer Klarinette erzeugen, wenn die Finger auf den Klappen spielen wie auf einem Klavier? Jeder Ton, jede Geste, jede Bewegung wird zum Experiment, das einer unsichtbaren strengen Choreographie folgt. Visuelle Effekte sorgen für zusätzliche Verwirrung: Hinter einer hell beleuchteten Wand laufen Schattenfiguren mit großen Rechtecken an der Hand eilig und geschäftig auf und ab. Als sie vor die Wand auf die Bühne treten, aufeinandertreffen, sich den Weg versperren, einen Ausweg suchen, wirken sie in ihren schwarzen langen Mänteln und bleichen Gesichtern wie ferngesteuerte, kafkaeske Marionetten.

Vergeigt3 Thomas Aurin cAuf der Suche nach einem (Aus-)Weg: Patricia Kopatchinskaja © Thomas Aurin

Die großen Rechtecke, die sie an der Hand tragen, entpuppen sich als Donnerbleche, die bei der kleinsten Bewegung drohende Geräusche von sich geben. Wer auf ein Hindernis stößt, muss im wörtlichen Sinne einen Ausweg suchen. Ausprobieren, scheitern, neu anfangen: Mit clownesker Ernsthaftigkeit, die nur an der Oberfläche zufällig und naiv wirkt und tatsächlich einem strengen Plan, einer Choreographie folgt, reiht sich an diesem Abend im Herbert-Fritsch-Zirkus Einfall auf Einfall, Nummer an Nummer.

Akrobatik inklusive: Ein Zirkuspodest auf der Bühne dreht sich im Kreis, wird von zwei Fahrrändern angetrieben. Missgeschicke passieren, einer verhakt sich am Fahrrad, muss mit Jacke und Instrument balancieren, um das Gleichgewicht wieder zu erlangen. Großartig die Nummer mit einem hohen Schiedsrichterstuhl. Das Abrutschen und Auffangen, immer wieder aufs Neue die Leiter erklimmen, wird zur akrobatischen Meisterleistung: Aus dem Missgeschick entsteht Virtuosität.

Die Klarinette verschlucken

Das clowneske Prinzip wird zum Leitmotiv des Abends: Das Bekannte verliert seine Selbstverständlichkeit, wird zum unbekannten Objekt: Wozu eignet sich ein Klarinettenständer? Man kann ihn sich wie eine Clownsnase aufsetzen oder aber doch auf den Boden stellen und eine Klarinette darauf befestigen. Welche Töne erzeugt eine Klarinette? Das Unbekannte erzeugt Furcht, denn jeder Ton, jedes Geräusch ist unvorhersehbar. Die vollkommene Verunsicherung aber bietet immer wieder Anlass zum humorvollen Experiment, etwa wenn der Klarinettist versucht, sein Instrument zu verschlucken, um es anschließend wieder – täuschend echt – aus dem Mund zu ziehen. Abgesehen von solchen Kabinettstückchen, sind die 90 Minuten des permanenten Vergeigens vor allem eine grandiose Ensembleleistung.

Vergeigt1 Thomas Aurin cAuf dem Zirkuspodest © Thomas Aurin

Schauspieler und Musiker verschmelzen zu einer gleichberechtigten Akrobatentruppe. Aus großen Grimassen, slapstickhaften Nummern, pantomimischen Einlagen entsteht wie zufällig ein Zusammenspiel, eine Choreographie, ein A-Capella-Gesang. Zum Erfolg des Abends trägt nicht zuletzt das effektvolle Lichtdesign von Cornelius Hunziker bei, der es versteht, mit großflächigen Farbprojektionen Stimmung zu erzeugen oder die Clowns auf der Bühne in leuchtend-gepunktete Skulpturen verwandelt.

Wer von dieser "Oper" großartige Musik erwartet, wird enttäuscht sein. Dafür punktet die Inszenierung mit einem Füllhorn an Einfällen, Slapstick-Nummern mit Instrumenten und Notenständern. Nicht alles erschließt sich dem Zuschauer: Am Ende tragen alle alte-weiße-Männer-Masken. Natürlich auch der Regisseur beim Schlussapplaus. Vielleicht einfach nur so…Das Label Neo-Dada-Oper adelt diese Produktion als Gegenentwurf zum klassischen Musik- und Schauspieltheater. Das ist vielleicht ein bisschen hoch gegriffen. Vielmehr bedient sich die Inszenierung lustvoll aus dem Handwerkskasten des "Cirque Nouveau", der das Clowneske und die Akrobatik als eigenständige Kunstform etabliert hat. Wer sich darauf einlässt, erlebt einen unterhaltsamen Abend. Nicht mehr und nicht weniger.

 

Vergeigt
Oper von Herbert Fritsch
Inszenierung und Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Jannis Varelas, Lichtdesign: Cornelius Hunziker, Dramaturgie: Meret Kündig.
Mit: Reto Bieri (Klarinettist), Patricia Kopachinskaja (Geigerin), Hubert Wild (Sänger), Jason Rammal-Rykata (Bassbariton) und den Schauspielern Annika Meier, Wolfram Koch, Christopher Nell und Carol Schuler.
Premiere am 26. Mai 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

"Gut möglich, dass das Konzept von 'Vergeigt' so enigmatisch ist, dass es sich nicht entschlüsseln lässt", schreibt Simon Baur von der Basler Zeitung (30.5.2023). Der Kritiker erkennt unter anderem eine Prise Marthaler, einen Schuss Chaplin und dazwischen "eine weltbekannte Geigerin, die den Klamauk liebt". Das alles sei gut angerichtet, und das Publikum danke mit viel Applaus und viel Gelächter. "Doch über wen oder was lacht es eigentlich? Stellenweise erinnert diese ‚Nicht-Oper‘ an jene Clown-Szenen, wo einem das Lachen plötzlich im Hals stecken bleibt."

"Der absurd komische Abend sei perfekt in seiner Faktur, im Timing, in der Choreographie und Artistik", schreibt Alexander Dick von der Badischen Zeitung (30.05.2023). Der Abend biete Theater, Kleinkunst, Kabarett, Zirkus. "Und in den besten Momenten ist es eine durchaus hintergründige Auseinandersetzung mit dem Antagonismus von Individuum und Gesellschaft, oder, ins Künstlerische gewendet, von Solist und Ensemble. Eines aber ist 'Vergeigt' auf jeden Fall nicht: ein Stück mit Narrativ, mit klassischem Spannungsbogen im Sinne einer Dramentheorie. Eher schon eine Art Revue mit circensischen Nummern, eine Clownerie, eine Chapliniade."

"Dieses neunzigminütige Musiktheater-Kunststück wirkt mal höllisch albern, dann wieder himmlisch poetisch, clownesk, pittoresk, chaplinesk, grotesk - mal nah am Schrecklichen, dann wieder nah am Lachhaften", schreibt Siegbert Kopp vom Südkurier (30.5.2023). "Zur Theaterkunst aber wird dieser Abend erst, weil er letztlich durchkonstruiert ist. Herbert Fritsch und das Ensemble erzählen keine Story, sie zeichnen keine unterschiedlichen Charaktere. Was sich entwickelt, das sind Leitmotive, die sich verdichten. Klamauk, Komik und Schrecken steigern sich unmerklich und verdichten sich."

Der Abend sei eine Liebeserklärung an das Clowneske, an das Scheitern und seine Kehrseite, die Hoffnung, die Sehnsucht nach Schönheit. "Da wird auch Sprache zur reinen Musik", so Andreas Klaeui im SRF 2 (30.5.2023). "Zum Scheitern verurteilt an diesem Abend ist allerdings, wer einen Plot sucht in dem witzigen Kuddelmuddel, eine geradlinige Handlung. Darum geht's nicht – aber um Assoziationsräume, die sich im Slapstick und in den Lichträumen weit öffnen. Assoziationen, die vielleicht zu den Gemälden von Marc Chagall führen, oder zum absurden Weltwitz bei Samuel Beckett und Eugène Ionesco."

"Ge­gen En­de die­ser kurz­wei­li­gen, nach Sinn im Un­sinn und Un­sinn im Sinn schür­fen­den 90 Mi­nu­ten wünscht man selbst so ei­ne Al­te-Sack-Mas­ke, wie die Spie­le­rin­nen und Spie­ler sie tra­gen, der Re­gis­seur in­klu­si­ve, glatz­köp­fig und aus fleisch­far­be­nem Gum­mi", so Chris­ti­ne Lem­ke-Matw­ey in der Zeit (1.6.2023). "Weil man sich da ge­gen­sei­tig so hübsch an den Na­sen und Oh­ren zie­hen kann. Weil es nichts Rüh­ren­de­res gibt als glatz­köp­fi­ge al­te Sä­cke und Sä­ckin­nen, die sich an al­ten Ri­tua­len ab­ar­bei­ten." Und weil Frit­schs Phi­lo­so­phie ei­nem nicht be­ha­gen müsse, um trotz­dem Gül­tig­keit zu be­sit­zen: "Wenn in der Po­li­tik we­ni­ger Thea­ter statt­fän­de und im Thea­ter we­ni­ger Po­li­tik, sagt der 72-Jäh­ri­ge, wä­re die Welt ein bes­se­rer Ort". 

 

Kommentare  
Vergeigt, Basel: Christopher Nell
Dear Nachtkritik, you forgot (??) to mention Christopher Nell, even in the list with the cast members.
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Liebe*r Jeanne, vielen Dank für den Hinweis, wir haben Christopher Nell im Cast ergänzt. Herzliche Grüße aus der nachtkritik-Redaktion
Vergeigt, Basel: Namenlos
NACHTKRITIK hat nicht nur zunächst den wunderbaren Schauspieler und Sänger Chistopher Nell zu erwähnen vergessen, die Kritikerin, Frau Sauppe, vermag außer dem Weltstar auf der Violine und dem Lichtmeister keinen einzigen Schauspieler oder Schauspielerin namentlich zu erwähnen, es genügt ihr das pauschale Wort Ensemble. Seltsam!
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