Videos aus dem Keller

5. Mai 2023. Die Ukrainer Pavlo Arie und Stas Zhyrkov erzählen von einer Zürcher Fotografin, die ihrer Ehe entkommen will. Und Erlösung ausgerechnet in der Hölle von Butscha findet.

Von Valeria Heintges

"Antigone in Butscha" am Schauspielhaus Zürich © Philip Frowein

4. Mai 2023. Antigone ist Fotografin. Kriegsfotografin. Vor ihrer äußerst anstrengenden, vor dem Zerbrechen stehenden Ehe flieht sie immer wieder in Konfliktgebiete. Vorher macht sie sich kundig. "Butscha ist ein kleiner Ferienort, der zwischen zwei kleineren Flüssen liegt, ein Vorort der Millionenstadt Kiew", liest sie auf Wikipedia. Dann fährt sie hin – und landet in der Hölle. Tote überall: Alte, Frauen, Kinder, Männer. Über der ganzen Stadt hängt der Geruch verwesender Leichen. Sie sucht Schutz in einem Keller. Und trifft dort eine Frau, die sich eingekerkert hat. Die ukrainischen Soldaten sind dabei, die Leichen zu begraben, aber ihren Mann Sergei dürfen sie nicht holen. Der sei nicht tot, sagt die traumatisierte Frau. Er schlafe nur. 

Von Sophokles bleibt nicht viel

Der ukrainische Regisseur Stas Zhyrkov hat Pavlo Aries "Antigone in Butscha" am Pfauen des Zürcher Schauspielhauses uraufgeführt. Von Sophokles’ namensgebender Vorlage bleibt nicht viel: ein Land im Krieg, ein Leichnam, der begraben werden soll. Ein Konflikt zwischen Mann und Frau, die nicht König sind und Bürgerin, sondern Ehemann und Ehefrau. Eine Frau, die im steinernen Gefängnis sitzt. Einige wenige Sätze, ein paar Motive. Man könnte länger suchen, ergiebig wäre es nicht, weil Stas Zhyrkov und sein Autor Arie anderes im Sinn haben.

Antigone in Butscha5 805 Philip Frowein uVor Bildern aus Butscha: Karin Pfammatter und Lena Schwarz © Philip Frowein

Zhyrkov leitete vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine das Left Bank Theatre in Kyiv und inszeniert seither mit offizieller Ausreisegenehmigung in Lettland und an deutschsprachigen Bühnen, etwa der Schaubühne Berlin. Am Schauspielhaus Düsseldorf erarbeitete er mit Ukrainerinnen und Düsseldorferinnen eine berührende Odyssee und holte dafür ebenfalls Motive eines antiken Klassikers in die Gegenwart.

In Zürich spielen die Ensemblemitglieder Lena Schwarz, Michael Neuenschwander, Matthias Neukirch und Karin Pfammater höchst differenziert sehr wandelbare Figuren. Neuenschwander gibt den Ehemann der Fotografin. Seit fünf Jahren weiß er, dass sie die Pille nimmt, obwohl er sich Kinder wünscht. Er ist überzeugt, dass ihn der Krieg in der fernen Ukraine nichts angeht. "Was habe ich davon?", fragt er seine Frau, als sie – heimgekehrt aus der Hölle – im "schlafenden Europa" mit ihren Erinnerungen an Butscha umzugehen versucht. Tizians Gemälde "Raub der Europa" hängt, riesenhaft vergrößert, an der Rückwand der Bühne von Lisa Chiara Kohler, doch in der Mitte des Bildes ist ein riesiger, schwarzer Fleck.

Raus aus der inneren Leere

Matthias Neukirch ist mal ein sehr engagierter Psychotherapeut oder ein Fernsehmoderator, der pseudo-tiefgründelnd zu erkunden versucht, ob aus Kriegsfotografie und Gräueltaten Kunst werden kann und darf. Karin Pfammatter gibt die ältere Fotografin und das kleine Kind, das nie geboren wurde, aber in der Phantasie des Vaters lebt und älter wird. Lena Schwarz ist Antigone: die Ehefrau, die mit Pseudo-Gutlaune die wattene Enge der Ehe und der Heimat zu überspielen versucht. Und die als Kriegsfotografin, in keiner Sekunde klischiert oder peinlich, ihrer inneren Leere entflieht.

Antigone in Butscha1 805 Philip Frowein uBilder aus der Hölle: Vitalina Bibliv (im Video), Lena Schwarz, Karin Pfammatter © Philip Frowein

Erfüllung findet sie ausgerechnet in Butscha, in einer tiefen Freundschaft mit einer Frau, die alles verlor: Das Kind schon vor Jahren, den Mann vor einigen Tagen. Die Ukrainerin Vitalina Bibliv ist ausschließlich im Video zu sehen, in dem sie phänomenal und ungeheuer bewegend die Frau im Keller-Kerker verkörpert. Als spielte sie keine Rolle, sondern schilderte eigenes Erleben, eigenes Trauma, als hätte sie wirklich eine Fotografin aus der tiefsten Verzweiflung gerettet.

Immer wieder spielt das Regieteam mit Ferne und Nähe. Wenn Geschehen hinter dem Eisernen Vorhang per Video auf diesen projiziert wird, wenn der Therapeut und die alt gewordene Fotografin die Eheleute beobachten. Wenn Videos auf einem riesigen Handy zu sehen sind. Und natürlich vor allem, wenn aufgedeckt wird, dass sich der Keller-Drehort nicht in der Ukraine, sondern im Untergeschoss des Schauspielhauses befindet. Mitten in Zürich.

Die schlafende Schweiz

Zhyrkov, Autor Arie und das zürcherisch-ukrainische Inszenierungsteam fragen immer wieder deutlich nach der Rolle Europas und konkret der Schweiz in diesem Krieg. Zhyrkov beschreibt im Programmheft die Einstellung des Landes als "Schlafend. Schlafend und träumend". Aber er zeigt seinen Befund eher mit kopfschüttelndem Unverständnis als mit Wut oder Anklage.

Doch greift die Inszenierung weiter, fragt nach der Rolle der Kunst und der Medien. Und mit Zeitsprüngen ins Jahr 2032 und 2052 nach den Auswirkungen der Traumata in der Zukunft. Der Abend vermag nachhaltig und immer wieder zu bewegen und zu beunruhigen. Aber so großartig alle spielen, besonders Vitalina Bibliv, so hätte ihm doch immer wieder eine Konzentration, eine Verdichtung gut getan, etwa in den Paartherapie- und den Fernsehszenen. Und manche Bilder, etwa das von Rehen und Wölfen in der nächtlichen Fotofallen, geraten zu deutlich und eindimensional. Auch da wäre weniger mehr gewesen.


Antigone in Butscha
von Pavlo Arie, aus dem Ukrainischen von Sebastian Anton
Inszenierung: Stas Zhyrkov, Bühnenbild: Lisa Chiara Kohler, Kostümbild: Paulina Barreiro; Musik: Bohdan Lysenko, Video: Max Wuchner, Licht: Christoph Kunz, Dramaturgie: Katinka Deecke.
Mit: Vitalina Bibliv (im Video), Michael Neuenschwander, Matthias Neukirch, Karin Pfammatter, Lena Schwarz.
Premiere am 4. Mai 2023
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

"Gross." Mit diesem Urteil würdigt Alexandra Kedves im Tages-Anzeiger (6.5.2023) diesen Abend. Die 135 Theaterminuten "begeistern und erschüttern uns so, dass ein scharfes Urteil über Details bloss noch popelig erscheint und am Schluss ohnehin in den stehenden Ovationen absaufen würde", schreibt sie. Autor und Regisseur reproduzierten "den metamedialen Diskurs, operieren mit Anspielungen und gar kleinen Spässen, es entsteht ein intellektuell aufgemöbeltes Couch-Surfing-Theater mit einem fantastischen Ensemble."

Von "grossem Applaus für ein abgründig kluges und hinreissend trauriges Stück" berichtet Roman Bucheli in der Neuen Zürcher Zeitung (6.5.2023). "Lena Schwarz als Antigone und eine grossartige Vitalina Bibliv als Ukrainerin treffen aufeinander. Ihr Realismus verwischt die Grenze zwischen Realität und Theater vollends. Und wieder stellt sich die Frage: Darf man das? Hier könnte das Stück in den Kitsch kippen. Es ist das Verdienst aller, dass dies nicht geschieht. Und dass alle Fragen am Ende offenbleiben und kein Widerspruch aufgelöst wird."

"Die ukrainische Schauspielerin Vitalina Bibliv spielte in den Videosequenzen mit einer solchen Wahrhaftigkeit, dass die Fiktion der Rolle vollständig in den Hintergrund trat. Der unfassbare Schmerz, der sich angesichts der Grausamkeiten, die in Butscha geschahen, tief in ihr Gesicht furchte – ich werde das nie vergessen", schreibt Eva Marburg in ihrer Theaterkolumne im Freitag (19.5.2023). "Ich verstand, dass die ukrainischen Künstler*innen hier auch inszenieren und spielen, um nicht den Verstand zu verlieren. Dass Theater im wirklichen Sinn existenziell sein kann. Dass es auch dazu da ist, in der Kunst als Mensch zu überleben. Und dass wir viel erfahren können, wenn wir in diesen Fällen im Theater hinhören und zusehen."

"Ein geschicktes Spiel mit Authentizitätseffekten und -erwartungen", so Jakob Hayer in der Welt (19.5.2023). Die Botschaft scheine so klar wie das Bühnenbild: Tizians "Raub der Europa" bediene die verbreitete Vergewaltigungsmetapher, darauf prangt ein riesiger schwarzer Fleck, als hätte die "Letzte Generation" Hand angelegt, "mehr Message, weniger Antigone?"

 

Kommentare  
Antigone, Zürich: Flucht unmöglich
Aktuelles Politikgeschehen zusammen mit einem antiken Drama: Butscha und Antigone. Hervorragende Kritiken. Dieses Stück musste ich mir ansehen. Doch es begann nicht gut. Die Einführung ins Stück war eine Zusammenfassung eines Textes aus dem Programmheft auf Mittelschulniveau. Die Schauspieler betreten die Bühne, in dem sie von hinten durch den ganzen Zuschauerraum rennen. Nun, da gab es auch schon Originelleres.

Das Stück fing mit einem kurzen Text an, in dem ich «Antigone» von Sophokles wiederzuerkennen glaubte. Und ja, eine der vier Figuren hieß Antigone. Das war es dann auch schon mit «Antigone» von Sophokles in diesem Stück von Pavlo Arie. «Antigone in Butscha», eine vegane Leberwurst. Putin – oder Selenskyj? – als Kreon, wenigstens andeutungsweise? Der Konflikt zwischen Staatsräson und Ethik? Nichts von dem. Ich konnte mich eines Eindrucks nicht erwehren: «Antigone» im Titel dient vorwiegend dazu, die Alten aus dem Stammpublikum in den Pfauen zu locken. Ohne diese wäre der Zuschauerraum mehr als nur dünn besiedelt gewesen. Wenigstens wurde ein Mittel gefunden, dass der Raum während der Vorstellung nicht leerer wurde: die 2¼ Stunden wurden ohne Pause durchgespielt. Flucht unmöglich.

Im Stück gibt es zwei Handlungsstränge. Da ist die Beziehungskiste zwischen Antigone, der Kriegsfotografin, und ihrem Ehemann. Und das ist die Geschichte der Überlebenden im Keller in Butscha, die nicht wahrhaben will, dass ihr Mann tot vor dem Haus auf der Straße liegt. Eine Beziehung zwischen den beiden Handlungssträngen? Fehlanzeige. Spannungen und Entwicklungen im Laufe des Stücks? Fehlanzeige. Träge zieht sich die Handlung dahin. Lange Kameraeinstellungen tragen das Ihre zu einer schnell eintretenden Müdigkeit bei. Stas Zhyrkovs Regie überzeugt mich ebenso wenig wie Aries Text.

Nein, es war nicht alles schlecht. Die auf den Vorhang übertragenen Nahaufnahmen von Schauspielern – entweder früher aufgenommenen oder gleichzeitig auf der Bühne hinter dem Vorhang gespielt – waren teilweise eindrücklich. Vor allem galt dies für die Aufnahmen von Vitalina Bibliv. Die Kritik, die sie als phänomenal und ungeheuer bewegend, als großartig bezeichnet, untertreibt. Ihr hätte ich gerne am Schluss applaudiert. Ihre Schauspielkunst wird mir in Erinnerung bleiben.
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