Das Glas Wasser - Werner Düggelin inszeniert in Zürich Eugène Scribe
Die Quintessenz der Intrige
von Andreas Klaeui
Zürich, 5. Mai 2012. Einmal zoomt Werner Düggelin den Zuschauerblick ganz filmisch nah an die Köpfe von Herzogin und Bolingbroke, den beiden Haupt-Gegenspielern in Scribes Komödie, und für einen Moment könnte man wirklich denken, es gebe jetzt den großen Hollywoodkuss. Einen unendlichen Moment lang halten sie sich die Waage, in Anziehung und Abstoßung, Rivalität und flirtendem Kalkül, Hass und Anerkennung. Es ist nur ein Waffenstillstand – die Kampfsituation erfordert es; gleich geht's weiter Stich um Stich und Punkt für Punkt.
Ist das Sarkozy?
Die Herzogin von Marlborough und Bolingbroke sind die beiden, die sich das Wasser reichen können in diesem Stück, alle anderen, die englische Königin inklusive, sind bloße Spielbälle in ihren Intrigen. Vor dem Hintergrund des Spanischen Erbfolgekriegs entwickelt Scribe einen aberwitzigen Showdown, in dem vom titelgebenden "Glas Wasser" das Schicksal ganz Englands abhängen wird – wie das im Detail geht, ist pointensicher verästelt und viel zu kompliziert für eine geraffte Wiedergabe, im Grunde hier auch unerheblich: Es ist mit jeder überraschenden Wendung noch mal gewitzter, Scribe destilliert aus seinem Plot mit zunehmendem Reinheitsgrad die Quintessenz der Intrige.
Fliegende Allianzen, Taktieren, Korruption, Kriegsgewinnlerei – man muss ja nun wirklich nicht weit suchen, um solche Themen in der eigenen Anschauung zu verankern. Die französische Kollegin sah an diesem Vorabend der französischen Präsidentenwahl unwillkürlich einen scharwenzelnden Sarkozy vor sich, wie er sich an die Rechte schmiert; ein schlagender Vergleich – Düggelins Verdienst ist, dass er ihn gerade nicht zieht, dass er Scribes Kondensat in seiner wasserklaren Reinheit zeigt. Nicht länger als 70 Minuten, in einer eigenen, sehr knappen, eleganten Textfassung, eine hochprozentige Sache.
Boulevard-Bühne mit Drehtür und Treppe
Scribe ist eine Meister der "Pièce bien faite", ganz im handwerklichen Sinn, in seiner Stücke-Manufaktur muss er eine Vielzahl industrieller Zulieferautoren beschäftigt haben, es war im 19. Jahrhundert nicht anders als beim "Tatort". Und da sitzt dann auch jeder Effekt, da trifft jede Pointe, da blitzen die Dialoge.
Düggelin bringt es mit leichtester Hand auf die Bühne (und wie schwer ist das!), er spielt mit den Klischees, Boulevard, Charge, aber lässt sich nicht von ihrem Gewicht herunterziehen. Raimund Bauer hat eine Bühne gebaut, die das nämliche Spiel auf ihre Weise weitertreibt: mit schwingenden Drehtüren, einer weitläufigen Treppe, was man vom Boulevard will, aber alles im nüchternsten Licht, ein klarer, heller Raum, verlängert in die strenge Zentralachse eines gestutzten Barockparks.
Hier darf der sportiv einfältige Masham – Lustobjekt aller Damen bei Hof, Königin inklusive – seine Verliebtheit in die Verkäuferin Abigail schon mal von der Rampe her direkt ins Publikum strahlen (Jan Bluthardt); hier wird sich ihm Abigail (Franziska Machens), wenn sie Gefahr von einer andern Frau wittert, kurzerhand auf den Schoß setzen, um das Terrain zu markieren.
Die entscheidende Dummheit
Imogen Kogge macht aus der schwachen Königin einen Wonneproppen der Unentschlossenheit – Düggelin zeigt besondere Empathie für ihre Figur, wertet sie auf, gibt ihr die Wärme einer Träumerin, sogar die abgeklärte Heiterkeit der Melancholikerin, die sich an Baudelaire und seinem "Spleen" berauscht. Sie entzieht sich, und enthebt sich darin gerade ein Stück weit ihrer Passivität. Auch eine Möglichkeit, der "Bürde der Zeit" zu begegnen, und vielleicht nicht einmal die schlechteste.
Gegen den schlauen Bolingbroke und die clevere Herzogin in ihrem Pfauenkostüm hat jemand wie sie naturgemäß keine Chance. Friederike Wagner als Herzogin nutzt es mit insektoider Treffsicherheit, Markus Scheumann als Bolingbroke mit windiger Brillanz. Am Ende wird eine Dummheit das Rennen zwischen diesen beiden entscheiden, mithin den weiteren Verlauf der Weltgeschichte. Ein Glas Wasser. Kleine Ursache, sagt Bolingbroke mal: große Wirkung.
Das Glas Wasser
von Eugène Scribe, deutsche Fassung von Werner Düggelin
Regie: Werner Düggelin, Bühne: Raimund Bauer, Kostüme: Francesca Merz, musikalische Beratung: Daniel Fueter, Licht: Markus Keusch, Dramaturgie: Andrea Schwieter.
Mit: Imogen Kogge, Friederike Wagner, Markus Scheumann, Franziska Machens, Jan Bluthardt und: Nina Eleta, Fabienne Thönen (Violinen), Simon Heggendorn (Viola).
www.schauspielhaus.ch
Werner Düggelin, "der Altmeister des Schweizer Theaters mit dem Faible für die Klassiker des französischen Theaters", habe Scribes Farce zu einer heiter unverkrampften, zeitlosen Salonkomödie entkernt, freut sich Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.5.2012). Das Bühnenbild sei so hell, schlicht und klar wie die ganze Inszenierung. Düggelin zeige, dass der Ladenhüter, "mit Watteau- und Purcell-Zitaten auf historische Betriebstemperatur gebracht und dann zeitgemäß herunter gekühlt", immer noch funktioniere: "nicht gerade als böse politische Farce, aber doch als gut geöltes Salonstück voller Esprit und Eleganz."
"Nur die wasserklare Essenz bleibt übrig in der Screwball-Comedy-Fassung des gut achzigjährigen Regisseurs", schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (7.5.2012). Düggelin schleife und poliere den ausschweifenden Stücktext "zu einem Bijou, das die fünf fabelhaften Schauspieler funkeln lassen". "Souveränin der Szene" sei Imogen Kogge: "Im perfekt austarierten Ensemble wirkt ihre Königin wie ein paradoxes Wunder an Geheimnis und Transparenz: ein offenes Buch mit sieben Siegeln gewissermaßen." Villiger Heiligs beschwingtes Fazit: "Kurzer Abend, grandioses Theater."
Als "flotte, aber auch flache Farce" beschreibt Alexandra Kedves Scribes Stück im Zürcher Tages-Anzeiger (7.5.2012). Werner Düggelin mache durch geschickte Striche die Sache noch flotter, die Komödie noch knackiger, allerdings nicht komplexer. Ein Lob erntet Bühnenbildner Raimund Bauer, der kongenial Düggelins Kargheit und Scribes Komik zusammengedacht habe. "Der Rahmen zitiert die Vergangenheit, die Kostüme ziehen die Affaire in die Gegenwart und der Klamauk ist – zeitlos." Letzteres möge eine Qualität sein, "das Klippklapp und Kladderadatsch funktioniert", eine Lust jedoch sei es nur begrenzt. Der "so erfahrene Schauspieler-Magier Düggelin", der seinem Ensemble jeweils die Bühne freiräume für große Feinheiten und feine Größe, habe sich mit dem "Glas Wasser" keinen Zaubertrank eingeschenkt. "Und uns auch nicht."
"Fast nicht genug kriegen von diesern eineinviertel Stunden Krieg und Frieden en miniature" kann Stefan Busz im Landboten (7.5.2012), "so schön ist Werner Düggelins Inszenierung. Eine ganz kostbare Sache. Die Essenz von Theater." Düggelin habe nur die schönsten Wörter aus der Vorlage auf die Bühne gebracht. "Zu sehen sind die klaren Linien." Düggelin gehe es nicht um den Stoff. "Er zeigt die Haltung. Und wir sehen, wie Menschen sich im Spiel um die Liebe geben."
In der Basler Zeitung (7.5.2012) schreibt Stephan Reuter von einer "Instant-Inszenierung". Mit Scribes "höfischen Satire ganz nach Geschmack der Bourgeoisie im 19. Jahrhundert" gehe Düggelin sehr entschlossen um. "Er leert 'Das Glas Wasser' gewissermaßen in einem Zug und verzichtet aufs Nachschenken." Vom Original sähen die Zürcher Zuschauer in Düggelins Fassung vielleicht die Hälfte. "Dennoch kann niemand sagen, die Inszenierung hätte das Stück verfehlt." Düggelin treffe den Kern. "Und dass die Komödie funktioniert, dafür sorgt das aus einem Guss geformte Schauspielerquintett."
"Bei Düggelin alias 'Dügg' wird vor allem gespielt. Lastende interpretatorische Überbauten sind seine Sache nicht. Lieber einem Werk seine Rätsel belassen", schreibt Torbjörn Bergflödt im Südkurier (7.5.2012). Insofern passe eine ganz auf Bühnenwirksamkeit und Pointen hin angelegte "pièce bien faite" wie "Das Glas Wasser" wunderbar zu Düggelins Personalstil. "Düggelin verzichtet, dem Genre entsprechend, auf profilierte Charakterzeichnung oder gar psychologische Vertiefung." Dafür seien die Figuren immer zur rechten Zeit am rechten Bühnenort. "Schön beziehungsgeometrisch also läuft das Ganze ab – ob nun gerade Rivalinnen ihre Krallen ausfahren oder Intrigen einvernehmlich gesponnen werden." Keinerlei stückfremde Erklärungssucht störe; "die Lustspielmechanik läuft."
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