Gute Zeiten mit den Orks

23. April 2023. Es spektakelt gewaltig im Zürcher Schiffbau. Nicolas Stemann, Theater Hora und Das Helmi haben sich J.R.R. Tolkiens Saga "Herr der Ringe" vorgenommen. Und bringen sie in zweieinhalb schlanken Stunden bis zum Finale in Mordor. Moment, schlanke Stunden? Ach was! Prall, Leute, prall!

Von Valeria Heintges

"Riesenhaft in Mittelerde" von Nicolas Stemann, Theater Hora und Das Helmi in Zürich © Philip Frowein

23. April 2023. "Herr der Ringe" auf der Bühne? Wie soll das denn gehen? Wie kann man diese Schlachten, die Welten der Hobbits, der Elben, Orks, Nazguls, Balrogs und Zwerge auf die Bühne bringen? Wie 1250 Seiten Buch oder neun Stunden Film auf einen Theaterabend zusammenschnurren lassen? Und warum soll man das überhaupt versuchen?

Die letzte Frage ist schnell geklärt: Weil es Spaß macht, weil es ein Spektakel ist. Und weil man es augenzwinkernd so tun kann, dass auch auf der Bühne eine Inklusion sehr verschiedener Wesen stattfindet. Manche vom Schauspielhaus Zürich, manche vom Theater Hora, einer (Kultur-)Werkstatt für Menschen mit Lernschwierigkeiten und zugleich einer der bekanntesten freien Theatergruppen Zürichs. Und manche aus Schaumstoff, beigesteuert vom Puppentheater Das Helmi.

Märchenerzähler im "Crazy Horst"

Wie man das also machen kann? Als Riesengewusel in der Schiffbau-Halle: Gleich vorne die Kneipe, "Crazy Horst", dunkel, viel Krimskrams an der Wand. Daneben Nicolas Stemann im Fellmantel, ein glitzernder Rock schaut darunter hervor. Er hat ein dickes Buch in der Hand, aus dem er manchmal vorliest. Fazit: "Gute Geschichte, komische Namen".

Hinter ihm ein Podest, das ist noch leer. Mehrere Ebenen, in der Höhe, in der Tiefe. Die Musiker im klingenden Turm, man sieht sie kaum, weil ihre Empore von grünen Schlingpflanzen bewachsen ist. Der Turm der Verwandlung: ein Helmi-Zoo, riesige Pflanzen, viele Pilze, allesamt aus Schaumstoff. Ein Säulenwald mit spiegelndem See. Dazwischen Menschen in langen Gewändern, mit langen Haaren, langen Bärten und hohen Hüten. Viele habe eine Art Spinnennetz auf dem Kopf, andere riesige Zähne ins Gesicht gemalt. Eine "begehbare Inszenierung" ist das, 20 Minuten lang kann man zunächst umstreifen und Katrin Nottrodts Bühnenbild bestaunen.

Riesenhaft2 Philip Frowein uElfenkönig oder Märchenerzähler? Regisseur Nicolas Stemann spielt mit. © Philip Frowein

Man kann an beiden Saalenden sitzen, aber auch weiter umhergehen, stehen oder auf Teppichen lagern. Dann wird man in Bewegung bleiben, denn es werden Podeste hin und her geschoben, Filme gedreht, an verschiedenen Orten gespielt, auf Leinwand übertragen (mediale Inszenierung: Claudia Lehmann und Konrad Hempel vom Institut für Experimentelle Angelegenheiten).

Arthouse meets Fantasy

Zunächst sammeln sich die Schauspieler:innen zum Sprechgesang. "Die Welt ist im Wandel. Ich spür es im Wasser. Ich riech es in der Luft." Dann kommen sie aufs Podest. Der erste spricht: "Hallo, ich bin Kay Kysela. Ich mag eher Arthouse Filme als Fantasy. Heute abend spiele ich Frodo, den Ringträger, weil der genauso wenig Ahnung hat von dem Ganzen wie ich."

Da ist er, der typische Stemann-Sound, mit ein, zwei ganz klaren, beinahe naiven Sätzen ist der ganze Hype in Stücke geschlagen. Das riesige Millionengeschäft – mit 150 Millionen verkauften Büchern und 17 Oscars für die Filmtrilogie von Peter Jackson –, zu dem das Werk von J.R.R. Tolkien wurde.

Riesenhaft2 Philip Frowein uEin Ringfischer in Mittelerde: Andy Böni © Philip Frowein

Aber man kann wie Kysela "wenig Ahnung haben von dem Ganzen", und trotzdem "Riesenhaft in Mittelerde" am Schauspielhaus Zürich genießen. Man wird nicht alles verstehen, nicht jede Anspielung erkennen. Aber egal, denn hier kommen alle auf ihre Kosten. Die einen, weil sie ihre Lieblinge treffen: Frodo, Sam und Gandalf, Eowyn, Arwen, Aragorn, Elrond und Boromir und Saruman und wie sie alle heißen. Brian R. R. Tolkien ist auch dabei und wacht über die Rechte. Gottfried Breitfuss verhilft als Bilbo und Chronist zu nötigen Übergängen und schönen Erinnerung an Märchenstunden. Und zeigt nebenbei, dass Reisen im Kopf ohnehin viel reicher sind als jeder noch so tolle Filmeffekt.

Effekte kann Theater übrigens auch. So wurden etwa die Schauspieler auf den Zürcher Hausberg mit Namen Uetliberg geschickt und verzweifeln dort vor der Tür eines der zahllosen Bunker, pardon: vor den Minen von Moria. Im Theater synchronisieren sich diese Schauspieler selbst. Das ist nicht nur ungeheuer komisch, sondern auch "effekt"-voll.

Mit Ork-Awareness-Team

Gleichzeitig nimmt sich das Regietrio aus Nicolas Stemann vom Schauspielhaus, Stephan Stock vom Theater Hora und Florian Loycke vom Helmi, erweitert um den Sänger und Schauspieler Der Cora Frost, der auch wunderbar singend zu erleben ist, auch das Recht heraus, die fragwürdigen Seiten des Fantasy-Epos zu entlarven. Tolkien muss sich nicht nur Rassismus, sondern auch üble Misogynie vorwerfen lassen. Also gibt es hellhäutige Bösewichte, Männer, die Frauen spielen und umgekehrt. Sogar von Ork-Awareness-Teams ist die Rede – so viel Schauspielhaus-Selbstironie darf sein. Es gibt eine kleine Hommage an "Herr der Ringe"-Motive in der Heavy-Metal-Szene. Und einen Elrond, der kundtut, unter dem beifälligen Gemurmel seiner Gefolgsleute, dass er gar nicht kämpfen wolle, weil er kämpfen doof finde. Er muss natürlich trotzdem. Es gibt neben zahlreichen kleineren Rangeleien, auch sie: die eine, große Schlacht mit ordentlich Getümmel und Gewoge. Aber sie hält sich zeitlich sehr im Rahmen.

"Herr der Ringe" – so kann das gehen auf der Bühne: Mit Humor, einer Verneigung vor den echten Fans der Sache – darauf haben manche Hora-Mitglieder geachtet –, mit Besinnung auf theatereigene Mittel und viel Selbstbewusstsein. Und mit einem Ensemble, das mit viel Spaß bei der Sache ist. Da stört es auch nicht, dass nicht alles akustisch zu verstehen ist und manches ein wenig im Rummel absäuft. Das Ding könnte sich zu einem riesenhaften Spektakel entwickeln, nicht in Mittelerde, sondern am Schauspielhaus Zürich. Und noch einmal ganz andere Menschen ins Theater locken.

 

Riesenhaft in Mittelerde
nach "Der Herr der Ringe" von J.R.R. Tolkien.
Eine begehbare Inszenierung von Theater Hora, Das Helmi Puppentheater und Schauspielhaus Zürich.
Regie: Nicolas Stemann (Schauspielhaus Zürich), Stephan Stock (Theater Hora), Florian Loycke (Das Helmi. Co-Regie: Der Cora Frost, Bühnenbild: Katrin Nottrodt, Kostümbild: Sophie Reble, Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel, Nicolas Stemann, Mediale Inszenierung: Institut für Experimentelle Angelegenheiten (Claudia Lehmann, Konrad Hempel), Licht: Michel Güntert, Dramaturgie: Bendix Fesefeldt.
Mit: Noha Badir, Vincent Basse, Gianni Blumer, Andy Böni, Gottfried Breitfuss, Caitlin Friedly, Der Cora Frost, Nikolai Gralak, Tabita Johannes, Kay Kysela, Felix Loycke, Florian Loycke, Sasha Melroch (krank bei der Premiere), Brian Morrow, Maximilian Reichert, Fredi Senn, Nicolas Stemann, Fabienne Villiger, Lukas Vögler.
Premiere am 22. April 2023
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.ch


Kritikenrundschau

Im Fahrwasser der Ironie bleibe wenig Raum für Bedeutung und Interpretation, schreibt Ueli Bernays
in der Neuen Zürcher Zeitung (24.4.2023). Aber der Humor von "Riesenhaft in Mittelerde" bleibe meist simpel. "Er belustigt, er belehrt aber kaum. Damit fehlt es an kritischem Biss und gesellschaftlicher Brisanz; ein Manko, das bisweilen zu dramaturgischen Längen führt", so Bernays. Als "nicht ganz unproblematisch" erweise sich auch das Zusammenspiel von Schauspielhaus und Hora-Theater. "Die kognitiv beeinträchtigten Schauspielerinnen und Schauspieler des integrativen Theaterprojekts machen zwar eine gute Figur, solange sie sich engagiert und schlagfertig unter die Helden und die Feinde von Mittelerde einreihen. Wenn sie die Regie am Ende aber in einer Art Coda plötzlich sich selbst zur Schau stellen lässt, dann strapaziert das die Idee der Inklusion ebenso wie das Timing der Dramaturgie." Der Abend sei aber insgesamt trotzdem "vergnüglich" wegen der Originalität vieler kleiner schauspielerischer oder szenografischer Einfälle und dem "beherzten Versuch, alle möglichen multimedialen Mittel auszukosten".

"An Aufwand wurde nicht gespart, und die Atmosphäre bezaubert buchstäblich", schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (24.4.2023). Die Inszenierung biete immer wieder flotte Unterhaltung, und das nicht ohne selbstironisch und gesellschaftskritisch aufgeraute Zwischenquiekser. "In ihrer ganzen Wucht, ihrer Länge und, ja, ihrer Bemühtheit macht die Vorstellung die Zuschauenden jedoch auf die Dauer eher zu angestrengten Zeugen eines idealistischen Projekts als zu animierten – oder gar inkludierten – Theaterbesuchenden."

"'Riesenhaft in Mittelerde' ist weder eine ­distanzlose Vergötterung einer doch etwas schlicht in Schwarz und Weiss aufgeteilten Erzählwelt noch eine zweieinhalbstündige Dekonstruktion einer über Fantasy-Literatur die Nasen rümpfenden Kulturelite. Sie ist beides, zu jeder Zeit, was die Inszenierung zugänglich für alle macht", schreibt Julia Stephan u.a. In der Thurgauer Zeitung (24.4.2023).

"Verspielt und liebevoll ist die Ausstattung bis ins Detail, mit den riesenhaften Puppen des Berliner Helmi-Theaters, atmosphärischer Musik, Nebel und Videoeinspielungen ein installatives Gesamtkunstwerk auf diversen Ebenen und ein grosser Spass", sagt Andreas Klaeui im SRF (24.4.2023). "Die Expertise ist unterschiedlich verteilt, auch im Publikum, was aber nichts macht: Was ich sehe und erzählt bekomme, reicht völlig aus, um mich bestens zu vergnügen, auch wenn ich in mittelerdischer Mythologie nicht so versiert bin." Die Kombination von Hauptbühne und separaten Einzelsituationen, die den Stoff nochmal neu beleuchten, vermöge mehr als nur das Spektakel. "Was 'Riesenhaft in Mittelerde' im Schauspielhaus natürlich auch ist, ein Vergnügen mit Hobbits, Orks und Elben, eine grosse Sause der Fantasy und Phantasie."

Der Abend sei "mit das Großartigste, Überbordendste, was man zur Zeit im Theater erleben kann", jubelt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (25.4.2023). Alles sei bis ins kleinste Detail durchgeplant, dennoch wirke der Abend unendlich frei. "Man hat den Eindruck, vieles entstehe im Moment, sei der - manchmal auch herrlich dämliche - Einfall einer Sekunde." Kurz: eine "grandiose Feier all dessen, was Theater (sein) kann".

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