Ihr Himmelszelt bleibt allein die Kunst

16. Dezember 2022. Von der Klimakrise kündet Elfriede Jelineks neuer Theatertext: Mensch strebt der Auslöschung entgegen, nichts zu machen, nur Haltungsfragen im Sein-zum-Tode zählen mehr. Idealbedingungen für die Kunst, die auf alle Phänomene unter der sengenden Sonne zugleich ihr Licht richten kann. Nicolas Stemann, erprobter Jelinek-Uraufführer, schafft weite Hallräume für die neuste Jelinekiade.

Von Janis El-Bira

"Sonne, los jetzt!" von Elfriede Jelinek in der Regie von Nicolas Stemann am Schauspielhaus Zürich © Philipp Frowein

16. Dezember 2022. Mit Blumfeld kommt alles ganz unten an. Mitten in den Jelinek-Flächen, den Sonnenmonologen und Luftchören, mitten in den an diesem Abend unzählige Male ausgerufenen Weltuntergängen, geht es also plötzlich um Fuchs, Hase und Konsorten. "Kabeljau schwimmt nach Haus / Elephant läuft nach Haus / Ameise rast nach Haus / Die Lampen leuchten, der Tag ist aus." Zwei Stunden sind da schon vergangen im Zürcher Schauspielhaus, als sich das versammelte Ensemble zu Jochen Distelmeyers "Abendlied"-Zeilen an der Rampe wonnig einkitscht. Man fremdelt mit dieser Ungeschütztheit, wie wenn jemand beim Lacan-Lesekreis einige Novalis-Hymnen vortragen will. Und, ja, man ist glatt auch ein wenig berührt.

Autorin als Zentralgestirn

Angedeutet hatte sich das nicht gerade. Nicht bei einer Elfriede Jelinek-Uraufführung und schon gar nicht bei einer, die den Ton direkt noch zwei Regalböden weiter nach oben verlegt, indem sie mit T.S. Eliot anfängt und, viel später, auch wieder aufhört. "This is the way the world ends: not with a bang but a whimper", raunen die Zeilen aus dessen Gedicht „The Hollow Men" eingangs vom Band durch den zappendusteren Zürcher Pfauen. Hinten rechts, weit weg, geht ein kleines Lichtlein an und Karin Pfammater beginnt zu lesen. Konzentrierte 15 oder mehr Minuten Jelinek-Text: "Was ist das, was da durch den Raum jagt, das bin doch nicht ich!" So geht es los, das neue Nobelpreisträgerinnen-Stück, dem der zehnfach erprobte Jelinek-Uraufführer Nicolas Stemann hier erst einmal viel Luft zum Atmen gibt.

"Sonne, los jetzt!", dem an diesem Abend noch ein zweiter Teil, "Luft", untergeschoben wird, ist eine Selbstsetzung der Autorin als Zentralgestirn. Es ist auch, natürlich, eine Selbstbezichtigung, Selbstinfragestellung, Selbstinszenierung. Ein Klimastück, wie beworben, ist der Text natürlich ebenfalls, auch wenn das Wort niemals fällt. Warum auch, wenn man stattdessen alles so schön zusammenfassen kann: "Gewordenes zu zerstören ist lustiger. Jedes Kind, das vor seinem drei Meter hohen Legoturm steht, weiß das."

Irrlaufende Suche nach Haltung

Nicolas Stemann macht aus diesem Monolog, der mal bei der Sonne, mal bei den in ihren Strahlen brutzelnden Menschen verweilt, der Phoebus anruft und Wittgenstein, keine Endzeitparty, auch wenn vieles den Anschein davon hat. Unter einem silbrig bespannten Himmelskörper, dessen Folierung im Laufe des Abends sehr kunstvoll dahinschmilzt, buchstabiert das Zürcher Ensemble vielmehr den Kommentar zu einem fatalen Auskultationsbefund am Herzen der Erde: "Ich verbrenne die Länder und hinterlasse nichts, für keinen, Geschlecht egal", sagt die Jelinek-Sonne, "denn nach uns wird kein Geschlecht mehr kommen". Der Untergang hat also längst begonnen, ist beschlossene Sache. Was jetzt noch bleibt, sind individuelle Haltungsfragen im Sein-zum-Tode.

Sonne los jetzt 1 Philip Frowein uErdbewohner neben Himmelskörper: Daniel Lommatzsch, Sebastian Rudolph, Patrycia Ziólkowska © Philip Frowein

In Stemanns Inszenierung, die Thomas Kürstner und Sebastian Vogel musikalisch behutsam orchestrieren, bedeutet das vor allem ein irrlaufendes Suchen nach dieser Haltung. Wie bei Daniel Lommatzsch und Sebastian Rudolph, die in einem hinreißend blöden Dialog dem Innovationsaktionismus eine Nase drehen, wenn sie die sofortige Erfindung von "Luft ohne Sauerstoff" oder "Anschub ohne Finanzierung" fordern. Oder wenn die Bühne mit Tape abgesperrt, zwischendrin auch mal die erste Publikumsreihe zum Gruppenfotoschießen aufgefordert wird. Ob Aktivismus oder wohlfeiles Klima-Selfmarketing – immer gilt, was Patrycia Ziólkowskas pappstrahlengekrönte Sonne unmissverständlich deutlich macht: "Morgen komme ich wieder, da habe ich den Tod auch wieder im Angebot und es ist schon wieder kein Sonderangebot." Da hilft auch kein Kleben und Blockieren. Es wird, aufs Ganze gesehen, nicht gut ausgehen.

Ungleichmäßig temperierte Uraufführung

Manches an diesem gerade in der zweiten Hälfte textlich weit aufgesprengten Abend gerät recht läppisch. Eine Strandparty, in deren Verlauf Alicia Aumüller zum schmelzenden Matterhorn mit gehisstem Schweizerfähnchen wird, lässt die Text-Bild-Schere doch ähnlich deutlich aufklappen wie eine späte AC/DC-Nummer in zerfledderter Rokoko-Klamotte (hier wie überall sehr toll: die Kostüme von Katrin Wolfermann). Anderes – ein Sonnen-Selbstverbrennungsmonolog von Sebastian Rudolph in Reaktion auf einen Greta-Thunberg-Einspieler – macht dagegen grandios weite Hallräume auf.

Ebenmäßigkeit ist jedenfalls nicht Stemanns Sache in dieser so hoch- wie tiefstapelnden, ungleichmäßig temperierten Uraufführung. Aber es gibt viel zu holen, herauszugreifen, zu drehen und zu wenden. Vielleicht ist "Sonne, los jetzt!" auf seine sehr eigene, verstiegene Art sogar der bislang theatereigenste Beitrag zur Klimafrage. Weil die Welt wahrscheinlich wirklich nicht mit einem Knall, sondern mit einem "whimper", einem Wimmern, endet. Und weil man die Jelinek-Sonne vor keinen Karren gespannt bekommt. Weil sie auf Eliot-Gedichte und Blumfeld-Songs, auf sterbende Erpel am Weiher, auf Wittgenstein und Greta gleichermaßen niederbrennt. Ihr Himmelszelt bleibt allein die Kunst. Es ist an diesem Abend weit genug.

 

Sonne, los jetzt!
Von Elfriede Jelinek
Uraufführung
Regie: Nicolas Stemann, Bühnenbild: Katrin Nottrodt, Kostümbild: Katrin Wolfermann, Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel, Video: Johanna Bajohr, Licht: Basil von Breitenbach, Dramaturgie: Bendix Fesefeldt.
Mit: Alicia Aumüller, Daniel Lommatzsch, Karin Pfammatter, Sebastian Rudolph, Lena Schwarz, Patrycia Ziólkowska.
Premiere am 15. Dezember 2022
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Dem Regisseur Stemann sei jedes Mittel recht, wenn es nur deutlich genug ist; formale Rundung nicht sein erstes Anliegen, findet Andreas Klaeui im Standard (16.12.2022). "Wir leben ja in einer absurden Situation, wir wissen, dass es bald zu spät ist, handeln gleichwohl eher nicht – dieses Gefühl treibt Stemann offensichtlich um, das hievt er mit aller Kraft auf die Bühne." Mit Menschen in Schutzanzügen oder auch mal im Eisbärkostüm, mit einem Bühnenbild, das vor unsern Augen schmelze, mit nachdrücklicher, eindringlicher Textgestaltung, die auch vor ermüdenden Repetitionen nicht zurückschrecke, arbeite der Regisseur – so der Kritiker. "Das will uns etwas einhämmern, das ist Theater, das uns aus der Komfortzone rausrütteln will", ist das Resümee des Rezensenten.

"Berührend radikal" sei, wie Nicolas Stemann mit dem T.S. Eliot-Gedicht zu Beginn einen Hallraum baue für den folgenden "Schwangengesang" der Sonne, schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (16.12.2022). Jelinek schlage im Text einen neuen Ton an: "Da ist weniger Wut, weniger wildes Staccato und böser Klamauk. Stattdessen regiert eine melancholische Abgeklärtheit", so Kedves. Erstklassig sei die Inszenierung besetzt. Jelineks "Stammregisseur" dirigiere einen "uferlosen, grandiosen Bilderfluss", verwebe die unbestimmbaren Stimmen ineinander und lasse den apokalyptischen Choral sanft erklingen. Passagenweise hätte er straffen können, doch: "Schmarotzer, die wir sind, liessen wir uns über weite Teile lustvoll mittragen vom wunderschön wehmütigen, schwarzhumorig grundierten Sound unseres Auf-Nimmerwiedersehens."

Als "irritierend resignativ“ beschreibt Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (17.12.22) Elfriede Jelineks Text. Er sei "didaktisch auf eine verlorene Art, versponnen und selbst für Jelinek-Verhältnisse in einem Maße verrätselt, dass man nach den zweieinhalb Stunden der Aufführung verschiedene Bedürfnisse hat: sich in eine tiefe Höhle zurückzuziehen oder einen großen Schnaps zu trinken". Dann aber, so der Kritiker weiter, komme der Regisseur Nicolas Stemann ins Spiel. "Und die insgesamt sechs Darstellenden, von denen zwei, Alicia Aumüller und Patrycia Ziółkowska, gerade den Gertrud-Eysoldt-Ring erhalten haben, weil sie in Stemanns 'Ödipus'-Inszenierung so gut sind." Die anderen seien an diesem Abend "genauso gut", und was sie auf der Bühne täten, passe.

"Obwohl Elfriede Jelinek keinen Zweifel lässt am dystopischen Finale der Menschheit und die Zürcher Inszenierung gleich mit ihrem Untergang beginnt, hängt Nicolas Stemann stets noch eine Idee, noch eine Szene und noch eine Anspielung an dieses Endspiel", schreibt Ueli Bernays in der Neuen Zürcher Zeitung (17.12.2022). Das sei dramaturgisch nicht unproblematisch, aber schaffe Raum für Stemanns Regie und Freiheiten für das Schauspiel. "Mutter Erde" werde gefeiert wie ein Pop-Star, mit dem man sich in ein Selfie zwängt. Hinter der Maske des Fixsterns blitze das zynische Antlitz der Sprachfurie Jelinek hervor.

Als "großer Gesang auf das von Menschen verursachte Verlöschen der Natur", beschreibt
Wolfgang Höbel vom Spiegel (17.12.2022) den Abend, schränkte den eigenen Jubel jedoch bald wieder ein: "Mehr als der schlimme Befund, dass der Mensch die Schöpfung zerstört hat, fällt weder der Autorin noch dem Regisseur ein." Das mache "die finstere Vergnügungsanstrengung" ein bisschen lahm.

"Jelineks Versuch, die Sonne als nichtmenschliches Bewusstsein zu denken" schlage auf der Zürcher Pfauen-Bühne zunächst düstere Töne an, so Eva Behrendt in der taz (19.12.2022). "Mit der Dummheit, Furcht und den Schuldgefühlen in Sachen Klimakatastrophe, können Stemann und sein furioses Ensemble am meisten anfangen." In der Endzeitrevue treten die Per­for­me­r:in­nen in immer neuen raffinierten Kostümen von Katrin Wolfermann auf. Stemann halte Jelinek mit "Greta Thunbergs aus dem Off eingespieltem 'How dare you?' dagegen", so Behrendt. "Aber es ist eben nicht seine, sondern die Stimme der hier sonst ganz abwesenden nächsten Generation."

Ein Einfall löse den nächsten ab, keiner sei von Dauer. "Ästhetisch ist das genau das, was angeprangert werden soll: Ressourcenverschwendung", schreibt Jakob Hayner von der Welt (19.12.2022). "Stemanns Weg durch Jelineks Textfläche zupft alle Saiten einmal an, traut sich aber nicht, bei einem Ton zu verweilen. Es ist ein Abend, der sich lieber mehrfach absichert, als etwas zu wagen, der lieber einen Allgemeinplatz zu Tode reitet, als etwas Neues einzuführen. Rein technisch ist das alles weit über Mittelmaß, was verdecken hilft, dass es geistig nicht darüber hinaus geht."

 

Kommentare  
Sonne, los jetzt!, Zürich: Jochen singt Hanns Dieter
Das „Abendlied“ stammt von Hanns Dieter Hüsch. Blumfeld haben es gecovert.
Sonne, los jetzt!, Zürich: Danke!
„Ihr Himmelszelt bleibt allein die Kunst. Es ist an diesem Abend weit genug.“ Ich stimme zu! Danke für diese genau gedachte und geschriebene Kritik!
ATT, Berlin: Sonne, los jetzt
Trotz all der Jelinek-Erfahrung des scheidenden Zürcher Co-Intendanten Nicolas Stemann, der sich mit vielen langjährigen Weggefährt*innen wie Daniel Lommatzsch, Sebastian Rudolph und Patrycia Ziólkowska zusammentat, ist dieser Inszenierung eine große Ratlosigkeit anzumerken. Das mag auch daran liegen, dass der Grundton leiser, melancholischer ist, als wir es von der Literaturnobelpreisträgerin gewohnt sind. Statt temporeicher Wortkaskaden, in denen sie vom Hölzchen aufs Stöckchen springt, wirkt "Sonne" deutlich zurückgenommener, dies zeigt sich schon beim langen Einstiegs-Monolog, den Karin Pfammater im Bühnenhintergrund vorträgt.

Sie setzt auch gegen Ende noch mal einen Akzent: als Punk-Lady trat sie schon im Schweizer "Tatort" auf, diesmal rockt sie über den "Highway to Hell". Der Rest der um 15 Minuten auf immer noch sehr langatmige zwei Stunden gekürzten Inszenierung wirkt im unterspannten Ausprobiermodus steckengeblieben. Greta Thunbergs berühmte "How dare you?"-Anklage wird vom Tonband eingespielt, von Wittgenstein bis Hanns Dieter Hüsch springt der Abend mal hierhin, mal dorthin. Immerhin darf das Ensemble die glamourösen, abwechslungsreichen Kostüme von Katrin Wolfermann präsentieren, die aber inhaltliche und dramaturgische Leerstellen kaum überdecken können.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/05/11/sonne-los-jetzt-elfriede-jelinek-theater-kritik/
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