Allerschönste Reminiszenzen an Claire

von Felizitas Ammann

Zürich, 21. Juni 2007. Sie vergisst nichts, die alte Dame. Schon gar nicht das Unrecht, das ihr als junge Frau angetan wurde, und das zu sühnen sie in ihr Heimatdorf zurückkehrt – die Milliardärin Claire Zachanassian mit ihrem unbestechlichen Gerechtigkeitsempfinden und ihrem berechtigten Vertrauen in die Bestechlichkeit des Menschen. Sie ist die Hauptfigur in Friedrich Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame" und in Rimini Protokolls neuem Abend, der den Erinnerungen an die Uraufführung im Zürcher Schauspielhaus vor 51 Jahren nachspürt.

Gespielt wurde die Claire am 29. Januar 1956 von der – man ist versucht zu sagen: unvergesslichen – Therese Giehse. "Werden Sie sich in 50 Jahren noch an heute Abend erinnern?", wird das Publikum gefragt. Damit ist gleich klargestellt, dass es nicht bloß um die Rekonstruktion eines Ereignisses geht. Später werden Kinder in historischen Kostümen den zweiten Teil des Stücks spielen und deutlich machen, dass Erinnerung auch immer eine zukünftige Dimension hat.

Zwei Eimer Wasser, ein Analytiker und Pappkameraden

Zuerst aber wird zurück geschaut: Hans Städeli, der damalige Bühnentechniker, schildert ausführlich, was hinter der Bühne so alles geschah. Er erzählt von Pausen und ehemaligen Kollegen, vom Schnürboden und den beiden Feuerwehrmännern, die mit einem Eimer Wasser bereit standen. Das ist eine einzige und sehr lustige Liebeserklärung an den schwerfälligen Theaterapparat, der sich trotz neuer Technik gar nicht so sehr verändert hat. Unterbrochen wird Städeli vom Inspizienten, der sich immer wieder zu Wort meldet, mit Aufrufen für die historische und für die heutige Uraufführung – die Zeitebenen vermischen sich von Beginn an.

Nach und nach kommen weitere Augenzeugen der Uraufführung dazu, drei Mitglieder des Kinderchors, Zuschauer, die Direktionssekretärin Bibi Gessner, die Dürrenmatts Änderungen zu tippen hatte, oder die Zuschauerin Eva Mezger, die in den fünfziger Jahren die erste Moderatorin des Schweizer Fernsehens war. Regieassistent Richard Merz, heute Psychoanalytiker und Theaterkritiker, hat seine alten Notizen entziffert und schwingt sich kraft dieser schriftlichen Zeugnisse bald zum Regisseur des gemeinsamen Erinnerns auf. Unter seiner Leitung wird mit Textbruchstücken und lebensgroßen Pappfiguren der damaligen Schauspieler Szene um Szene rekonstruiert, unterbrochen von Anekdoten und privaten Geschichten.

Die Methode

Rimini Protokoll (Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel) inszeniert keine Stücke, sondern lässt auf der Bühne Laien, "Experten des Alltags", bestimmte Themen verhandeln. Immer geht es dabei um die Verknüpfung von individuellem und kollektivem Gedächtnis, von Einzelschicksal und Geschichte. Das Regietrio nimmt sich viel Zeit für die Suche nach geeigneten "Experten". Und immer finden sie Leute, die etwas über ein bestimmtes Gebiet zu sagen haben und dabei noch mehr über sich selbst verraten; Menschen, die aus ihrem Privatleben erzählen und dadurch gleichzeitig eine Ära oder ein Milieu porträtieren. Spektakulär ist das, wenn die Schicksale durch ein Ereignis ordentlich durchgeschüttelt wurden, wie etwa in der letzten Arbeit über "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band", womit die Truppe just vor zwei Wochen den gewichtigen Mülheimer Dramatikerpreis gewann.

So stellt sich an diesem Abend unweigerlich die Frage, welchen Einfluss das Theater auf das Leben des einzelnen hat(te). ­ Im Vergleich mit Marx nicht allzu viel, muss man sagen. Jedenfalls scheint diese Uraufführung die Leben der Protagonisten nicht nachhaltig verändert zu haben, mit Ausnahme von Friedrich Dürrenmatt selbst, der mit dem "Besuch der alten Dame" berühmt wurde und schließlich ebenso wie seine Güllener zu Geld kam.

Neukonstruktion der Erinnerung

Doch Parallelen von Stück, Zeitgeschichte und privaten Lebensläufen sind zu entdecken. So wird der Geldsegen der Güllener verbunden mit dem aufkommenden Wohlstand in der Schweiz Ende der fünfziger Jahre ­ und Ursula Gähwilers Erzählung, wie sie als Mitglied des Kinderchors ihre erste Gage für einen Wellensittich ausgab. In den Fernsehnachrichten vom 29. Januar 1956 ist die Rede von Krieg, von einer Schachweltmeisterschaft oder einem zugefrorenen See in der Region. Die Moderatorin Eva Mezger aber erinnert sich vor allem an die einfache Aufnahmetechnik und an ihre Tricks gegen Lampenfieber. Und als Ill zunehmend in die Enge getrieben wird, gibt Johannes Baur, der damals im Publikum saß, seine Jagdanekdoten zum Besten. Die damaligen Zuschauer (ob Existenzialist oder Industriellensohn) berichten davon, wie wichtig ihnen seinerzeit das Theater war.

Doch was ist mit uns, die wir heute im gleichen Saal wie vor 51 Jahren das gleiche Stück sehen, und die wir uns schon lange nicht mehr die Frage nach der direkten Wirksamkeit des Theaters stellen? Wir bestaunen nach wie vor die Stärke des Theaters als Ort, an dem sich individuelles und kollektives Gedächtnis überlagern, wo die Konstruktion von Erinnerung spielerisch dargelegt wird, wo sich Fiktion und Realitäten vermischen und ein neues gemeinsames Erlebnis kreieren. ­ Trotz der immer wieder aufscheinenden Nostalgie wirkt die alte Dame Theater an diesem Abend gar nicht museal, vielmehr höchst lebendig.

 

Kritikenrundschau

"Eine reizvolle Idee, welche leider an ihrer Umsetzung scheitert," bedauert Barbara Villiger-Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (23.6.2007). "Oder vielleicht müsste man besser sagen: Sie strandet in sympathischen, aber zumeist langweiligen Nettigkeiten. Lauter Laien treten auf, die ... damals in irgendeiner Form beteiligt waren und nun mit Hingabe in Erinnerungen schwelgen. Aber wen von den Nachgeborenen interessiert dieses nostalgische Making-of? Im Unterschied zu anderen Rimini-Protokoll-Projekten, die Themen aus den verschiedensten Bereichen aufmixten und geschickt miteinander verlinkten ... , dekliniert diese 'Alte Dame' bloss stückrelevante Stichwörter durch, manchmal pointiert, öfter bieder bis banal."

Bei Spiegel Online (23.6.2007) ist Christine Wahl gnädiger: "Diese vielfache Übermalungsdramaturgie, die so zum Erinnerungsmoment auch undidaktisch die zentralen Stückmotive - Korruption, Gerechtigkeit, Rachsucht - einbezieht und zusätzlich mit den biografischen Experten-Geschichten sowie Exkursen in die Schweizer und die Weltpolitik der fünfziger Jahre überschreibt, ist zweifellos von großer gedanklicher und konzeptioneller Komplexität. Nur schlägt sich das auf der Bühne leider nicht immer nieder. Neben tollen Szenen gibt es in drei Stunden vieles, was sich wiederholt; und Rimini Protokoll muss aufpassen, dass die Expertengeschichten nicht zunehmend in perfekte Anekdoten abdriften, die zwar Spaß machen, aber keine großen Folgen im Zuschauerkopf hinterlassen."

"Andere Stücke von Rimini-Protokoll sind so konstruiert, dass sich aus den persönlichen Geschichten der Darsteller das übergeordnete Thema ergibt, hier verläuft es umgekehrt," konstatiert Rico Bandle im Zürcher kulturblogg.ch (23.6.2007). "Dass in diesem Fall das übergeordnete Thema zudem ein historisches Ereignis ist, macht das Ganze besonders heikel: das Dokumentartheater wird zum Nostalgieabend. Im zweiten Teil spielen Kinder Theater. Der Perspektivenwechsel sollte wohl die Zeitlosigkeit des Stücks betonen. Denn Dürrenmatt wollte mit der "alten Dame" an die Motive der Tragödiendichter der griechischen Antike anknüpfen – und die sind bekanntlich immerwährend. Retten kann das den Abend nicht mehr."

Für Meike Hauk von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (24.6.2007) dagegen zeigt die Aufführung auf intelligente und komplexe Weise, wie man Illusiontheater vernichtet und gibt der Mülheimer Jury recht, die Rimini Protokoll den diesjährigen Dramatikerpreis verlieh, was Vertreter herkömmlicher Dramatik wie den Verlag der Autoren zu Protestrufen veranlasst hätte - "angesichts der Tatsache, dass es nicht mal einen Dramentext zum Nachspielen (also Geldverdienen) gibt. Die Frage, die angesichts der Mülheimer Jury-Entscheidung aufgeworfen wurde, ob es sich bei dem Regiekollektiv um Dramatiker handelt, um Schöpfer von Bühnenwerken, ob also dieser Preis zu Recht vergeben wurde, beantwortet dieser Abend im Sinne eines erweiterten Dramatikbegriffs zweifelsfrei mit Ja."

Tobi Müller legt in der Frankfurter Rundschau (26.6.2007) nach und schreibt über die Riminis, sie seien "die Außenseiter des Theaterbetriebs, die vom Betrieb umarmt werden für ihre Kunst, die Konvention zu sprengen". Noch nie aber hätten sie "so viel Originaltext stehen lassen" wie in dieser Inszenierung. Die "Nähe zur ursprünglichen Dramaturgie" führe dabei zu einem "Analogiezwang zwischen Bühnenexperten und Stückfiguren". Toll werde das, wenn die erzählten Anekdoten der Experten "auf den eigentlichen Rimini-Ansatz verweisen, und weniger auf den Text." Weil dann aber die Kinder "viel zu lange" auf der Bühne seien, wird die Inszenierung "allzu stofflich". Dennoch, die Riminis "flunkern mit Theatermitteln wie noch nie".

Simone Meier beginnt ihren Bericht in der Süddeutschen Zeitung (27.6.2007) mit einem Vergleich zwischen dem Frischegrad der beiden Großschweizer Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch. Den Frische-Bewerb gewinnt der Frisch. Sein Schwimmbad auf dem Zürcher Galgenhügel taugt noch immer, in Dürrenmatts Stück dagegen stapft die Moral knapp am Melodramen-Kitsch vorbei, sagt Frau Meier. Zum Glück aber für alle, den Dürrenmatt, die Dame, die Zuschauer und die Kritikerin sind dann Rimini Protokoll gekommen und haben die Uraufführung der "Alten Dame" mittels Zeitzeugen und Versatzstücken rekonstruiert. "Es sind wie immer bei Rimini Protokoll anekdotisch abgepackte Lebensschnipsel, immer unterhaltsam, immer mit einem Schuss Rührung, Schabernack oder Subversion versehen". Frau Meier hat's gefallen und sie erzählt dann noch schnell, dass Dürrenmatt sich die Million, die er mit dem Stück verdiente, von seiner Bank zeigen ließ, "Schein für Schein".

 

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