Ausflug ins All

21. Juli 2022. Die Dramatikerin Ulrike Syha hat einen Job bei einer Produktionsfirma für Videospiele angenommen. Anstatt Theaterfiguren zu entwerfen, schreibt sie nun Dialoge für einen Space-Western. Und blickt nach Feierabend auch anders auf das Theater.

Von Ulrike Syha

 

Das Space-Western-Spiel "102 Light Years Away" © Swinging Lama Productions UG

21. Juli 2022. Wir sind auf einem anderen Planeten, sind hier mit unserem Raumschiff gelandet, ziemlich unsanft, auf der Suche nach einem neuen Zuhause für die Menschheit. Die Erde ist längst unter den Folgen des Klimawandels zusammengebrochen. Dieser Planet hier ist nicht unser ursprüngliches Ziel gewesen, aber an eine Weiterreise ist nicht zu denken, das alte Raumschiff dient bestenfalls noch als Ersatzteillager. Wir müssen uns also mit unserer neuen Umgebung arrangieren. Und das bringt so einige Herausforderungen mit sich.

Der schmale Bereich, in dem es sich einigermaßen leben lässt, der sogenannte Habitual Belt, ist nicht besonders groß. Denn anders als auf der Erde wechseln sich Tag und Nacht nicht ab. Der neue Planet verfügt nur über eine dem Licht zugewandte und eine vom Licht abgewandte Seite. Außerdem ist er keinesfalls unbewohnt. Es gibt eine reiche Flora und Fauna, die zum Großteil mit Vorsicht zu genießen ist, und eine Zivilisation, die der Natur mit sehr viel Respekt begegnet.

Wie gehen wir Menschen mit dieser Situation um? Haben wir aus der Geschichte der Erde etwas gelernt und streben eine friedliche Koexistenz an? Oder kommt es zu blutigen Kämpfen um Vorherrschaft und Ressourcen? Noch ist diese Frage nicht endgültig entschieden. Unter den Menschen haben sich Lager gebildet, aus denen dann zwei Parteien wurden. Während die einen auf persönliche Freiheiten und das Gesetz des Marktes setzen, machen sich die anderen für Ansätze stark, die auf den Vorrang des Gemeinwohls abzielen. So weit, so erdnah.

Fantasie gefragt

Es hat mich zeitweise in die Welt des Game Writing verschlagen. Interessiert hatte mich das schon länger, ich war aber immer davon ausgegangen, dass die Tatsache, dass ich kaum Ahnung von Games habe, mich nicht gerade für die Arbeit in diesem Bereich prädestiniert. Über einen Wettbewerb von TOP: Talente e.V. hatte sich dann aber die Möglichkeit ergeben. Und zu meinem Erstaunen war Spezialwissen in Bezug auf Spielkonsolen dabei gar nicht so sehr gefragt, sondern eher Fantasie, Dialoghandwerk und ein solides schriftliches Englisch.

In der echten Welt (also der Welt des Theaters) habe ich manchmal das Gefühl, dass mein Hang zu Story und Dialog eher als Manko gesehen wird. Nicht als mein persönliches Manko – Story und Dialog sind seit einer Weile generell nicht besonders en vogue. Zumal, wenn es sich um einen deutschsprachigen Text handelt, nicht um einen Import aus dem englischen Sprachraum. Von daher durchaus wohltuend, dass meine Liebe zum Geschichten-Erfinden endlich auch mal zu etwas gut sein darf.

stadttor unityTor in eine andere Welt © Swinging Lama Productions UG 

Die meiste Zeit bin ich damit beschäftigt, den Wesen der fremden Welt Worte in den Mund zu legen. Dialoge für sie zu schreiben. Bei 102 Light Years Away, einem Space-Western, den die in Deutschland ansässige Firma Swinging Lama entwickelt.

Dabei arbeiten die meisten Mitarbeiter:innen, auch ich, von zu Hause aus. Egal, ob Festangestellte:r, Praktikant:in oder freie Mitarbeiter:in. Anders als am Theater ist dieser Umstand aber kein Thema bei unseren Meetings. Wir sprechen einfach nicht darüber. Es wird weder positiv noch negativ bewertet. Weder als die unabhängige, selbstbestimmte Arbeit von morgen gepriesen, noch mit dem Untergang alles Zwischenmenschlichen in Verbindung gebracht. Es ist einfach so. (Auch das ganz wohltuend.)

Dem Teamgeist tut das digitale Arbeiten jedenfalls keinen Abbruch. Dem Vorankommen des Projekts auch nicht, soweit ich das beurteilen kann. Und das, obwohl doch recht viele Köpfe an der Entstehung von 102 Light Years Away beteiligt sind.

Ganz ohne Planung geht das natürlich nicht. Im Gegenteil: Alle Beteiligten wissen ziemlich genau, an was die anderen gerade arbeiten. Bei täglichen, wöchentlichen oder monatlichen Meetings werden Aufgaben verteilt, Ideen präsentiert, offene Fragen diskutiert. Es wird aber auch geprüft, wie weit man hinter (oder vielleicht auch mal vor) dem gemeinsam gesetzten Zeitplan liegt.

Als Outsiderin brauche ich eine Weile, um zu verstehen, wessen Aufgabenbereich was umfasst. Was der 2-D-Artist tut, was der 3-D-Artist. Was alles in die Zuständigkeit der Game Developerin fällt, mit der ich als Dialogschreiberin besonders eng zusammenarbeite. Gut, was die Musikerin macht, erschließt sich auch mir. Je länger ich dabei bin, umso deutlicher wird, wie aufwendig manche Schritte sind (oft natürlich die, von denen man es am wenigsten erwartet hätte).

Dass es bei der dreidimensionalen Ausgestaltung einer Figur einen großen Unterschied macht, was für eine Frisur sie hat und welche Accessoires sie ständig so mit sich herumschleppt. Zwei Beutel mit Nähzeug oder doch nur einen? Kann ein paar Tage Arbeit mehr oder weniger bedeuten.

Oft fehlt mir zwar das Vokabular (oder schlicht das Verständnis für räumliches Denken), aber schon bald habe ich den Eindruck, mehr über die Arbeit meiner zeitweiligen Remote-Kolleg:innen zu wissen, als ich das bei Theaterproduktionen im Durchschnitt so tue. Über ihren Arbeitsstand, ihre aktuellen Schwierigkeiten, ihre spezifische Sicht auf das Projekt. (Ebenfalls ganz wohltuend.)

Sheriff Concept ArtStudien der Sheriff-Figur © Swinging Lama Productions UG

Was mir an der Arbeit aber am besten gefällt, ist das gemeinsame, simultane Entwickeln einer neuen Welt. Einer Welt, die von Tag zu Tag größer wird. Eigentlich ist sie von Anfang an zu groß, als dass eine Einzelperson sie wirklich alleine überblicken könnte. So bekommt die Arbeit einen kollektiven Charakter, auch wenn es schon klare Hierarchien gibt. Aber diese Hierarchien beeinflussen die Simultaneität der kreativen Prozesse nicht.

Während ich an der Ausgestaltung der Dialoge der Einstiegssequenz arbeite, schreibt eine andere Autorin bereits die Storyline für das nächste Level. Während der 2-D-Artist noch Studien für einen neuen Greifvogel zeichnet, wird die Figur des Sheriffs bereits animiert. Hin und wieder muss man auch einen Schritt zurückgehen, etwas einarbeiten, was vorher nicht bedacht worden war. Auch das gehört zur Genese einer neuen Welt.

Das Herzstück der Zusammenarbeit bildet die Story Bible. In ihr sind die Vorgeschichte und alle geplanten einzelnen Erzählschritte skizziert. Was nicht heißt, dass wir alle das Ende – oder die multiplen Enden – der Erzählung schon kennen würden. Das Universum, an dem wir arbeiten, befindet sich noch völlig im Fluss. Besonders die Glossare in der Story Bible wachsen stetig. Hier sind die Biografien und Eigenschaften der Figuren – pardon: der NPCs, der Non-Player-Characters – vermerkt. Aber auch Details über Tiere und Pflanzen, das Handelssystem, die geltenden Gesetze, die Wetterbedingungen einzelner Regionen.

Der Luxus des Details

Das gesamte Erzähluniversum ist auf Expansion ausgelegt. Und das fasziniert mich als Geschichtenerzählerin (die ich letzten Endes ja bin) am meisten: Nichts hier muss auf 80 Manuskriptseiten passen. Nichts ist auf einen genau bemessenen dramaturgischen Bogen zugeschnitten. Alles ist möglich. Anfang und Ende (noch) unbekannt.

Gehe ich deshalb aber mit den Figuren anders um als mit denen in meinen Theatertexten? Die Antwort ist kurz: Nein. Natürlich haben die Characters in einem Spiel und die Figuren in einem Stück unterschiedliche Funktionen. Und die variieren auch noch stark, abhängig vom jeweiligen Projekt. Beim Schreiben macht das für mich aber keinen Unterschied. Wenn ich eine Figur in meinem Kopf sprechen lasse, denke ich mich in sie hinein. In dem Moment ist es irrelevant, wo diese Figur mal landen wird, ob auf der großen Bühne oder in der Wüste eines fremden Planeten.

Ein Unterschied zum Theater ist allerdings, dass ich in der Game-Welt mit einer bestimmten Zeichenlänge zu hantieren habe. Ausufernde Nebensätze kann man also vergessen. Dafür sind aber andere Textarten gefragt, nicht nur Dialoge und spärliche Regieanweisungen: Zeitungsartikel, Wahlslogans, Titel für Buchrücken, Gesetzestexte, Fahndungsplakate. Die Liste wird mit jedem Tag länger.

Das Game kann sich den Luxus des Details leisten, es verlangt sogar danach. Jeder Mosaikstein, so unwichtig er zunächst scheinen mag, lässt die neue Welt wieder ein Stück plastischer werden. Und je plastischer, umso besser. Das weckt den Spieltrieb in mir als Autorin. Ein Theatertext hingegen verlangt im Durchschnitt eher nach Leerstellen. Die dann von den Schauspieler:innen und Regisseur:innen gefüllt werden können. (Oder so wird es mir zumindest seit vielen Jahren von Dramaturg:innen erklärt.)

Sheriff RenderDer Marktplatz von New Kourou, Hauptstadt der Neuen Welt © Swinging Lama Productions UG

Was engt nun mehr ein: Die Funktionalität der Game-Welt oder die Funktionalität unserer dramaturgischen Konventionen? Schwer zu beantworten.

Zugegebenermaßen weiß ich bei 102 Light Years Away im Durchschnitt schon, was ich schreiben werde. Denn auch die Inhalte der Dialoge sind in der Story Bible festgelegt. Trotzdem bleibt genug Raum für eigene Fantasie. Die Besonderheiten einer Figur und ihre spezifische Sprechweise müssen ja noch ausgestaltet werden. Sind diese Punkte einmal festgelegt, bedingt im Erzählkosmos das eine das andere.

Schon die kleinsten Änderungen können zu großen Konsequenzen führen. Konnte dieser NPC sich vorher im Dunkel der Nachtseite zurechtfinden oder nicht? Ist er oder sie den Playern schon mal begegnet? Und wenn ja, ist es dabei mal wieder zu einer Schlägerei gekommen? Für bereits Geschriebenes beantwortet die (hoffentlich ständig aktualisierte) Story Bible diese Fragen. Aber auch bei neuen Dialogen dürfen sich keine Logikfehler einschleichen.

Am Anfang denke ich noch, ich vermeide solche Logikfehler am ehesten, indem ich mich auf bekanntem Terrain bewege. Meine Dialoge also mit dem Textverarbeitungsprogramm meines Computers schreibe. Aber ich muss schnell einsehen, dass das Team nicht ohne Grund andere Programme als Word oder Pages verwendet. Programme, die es viel einfacher ermöglichen, nicht-linear zu erzählen, mit unterschiedlichen Handlungssträngen und den daraus resultierenden Bedingungen und Eventualitäten.

Nachdem ich mich durch die entsprechenden Tutorials gearbeitet habe, fange ich schon bald an, beim Schreiben in diesen Programmen zu denken. In grafisch visualisierten Textstrukturen. Und nicht mehr nur in Buchstaben. Auch vor dem inneren Auge. Ich bin selbst verblüfft.

Dass ich auch bei meinen Theatertexten gerne mit dramaturgischen Schlaufen und Variablen arbeite, kommt mir dabei sicher entgegen. Wie wohl auch die Tatsache, dass ich mich als Kind mit großer Hingabe durch eine ganze Reihe von Spielebüchern und Pen&Paper-Adventures gewühlt habe – und meine Kenntnisse erst während der Pandemie im Rahmen eines Dungeons&Dragons-Workshops bei einem 13-jährigen D&D-Master aufgefrischt habe. Da soll noch jemand sagen, es wäre am Ende nicht doch alles zu irgendwas gut.

Meinen Ausflug ins All habe ich jedenfalls nicht bereut. Ich komme gerne jederzeit wieder mit an Bord. Es tut gut, hin und wieder mal eine Welt zu erfinden, habe ich festgestellt.

 

Syha c BO LAHOLA PHOTOGRAPHY DESIGN© Bo Lahola Photography
Ulrike Syha, geboren 1976 in Wiesbaden, studierte Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" in Leipzig. Seit 2003 lebt sie als freie Autorin und Übersetzerin in Hamburg. Sie wurde unter anderem mit dem Kleist-Förderpreis für Junge Dramatiker (2002), dem Hamburger Förderpreis für Literatur (2010) und dem Walter-Serner-Preis (2015) ausgezeichnet. Sie war Hausautorin am Nationaltheater Mannheim (2009/2010) und Writer-in-Residence in Nanjing, China (2015), Novo Mesto, Slowenien (2016) und anderen Städten. Ihre Stücke wurden mehrfach zu den Mülheimer Dramatiker-Tagen eingeladen. 2018 erhielt Ulrike Syha für ihr Stück "Drift" den Autorenpreis des Heidelberger Stückmarkts.

 

 

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Kommentare  
Dramatik trifft Game Design: Publikum für Story und Dialog
Extrem interessanter Text. Zwei Zitate möchte ich anführen, die viel über Theater in Deutschland aussagen. Und über meine andernorts gestellte Frage, warum deutschsprachige Stücke nicht mehr die Grenzen ins fremdsprachige Ausland überschreiten.
Zum einen: "In der echten Welt (also der Welt des Theaters) habe ich manchmal das Gefühl, dass mein Hang zu Story und Dialog eher als Manko gesehen wird. Nicht als mein persönliches Manko – Story und Dialog sind seit einer Weile generell nicht besonders en vogue. Zumal, wenn es sich um einen deutschsprachigen Text handelt, nicht um einen Import aus dem englischen Sprachraum."
Da fragt man sich: Hängt vielleicht so mancher nicht belegter Theatersitz und so manche schlechte Auslastung damit zusammen, dass es nach wie vor ein Publikum für Story und Dialog gibt - aber Regie und Dramaurgie das nicht bedienen, weil sie das nicht mögen (was eigentlich den Eindruck erweckt, da solle ein ungeliebter Konkurrent um die Aufmerksamkeit des Publikums in die Schranken gewiesen werden).
Und: "Es tut gut, hin und wieder mal eine Welt zu erfinden, habe ich festgestellt." Ja, auch das will das Publikum haben, nämlich eine Welt auf der Bühne, dafür geht man vielleicht doch lieber ins Theater als um dort Uni-Seminare, Belehrungen oder Politaktivismus geboten zu bekommen.
Nachbemerkung: Ich würde aus Neugier gerne wissen, welche Schreibprogramme, die hier nicht explizit genannt werden, Frau Syha verwendet hat. Was sie dazu anmerkt, klingt sehr spannend.
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