Die Verstörung

18. September 2024. In Berlin präsentiert eine Werkschau Arbeiten der Künstlerin und Choreographin Gisèle Vienne. Die Gewaltdarstellungen sind nichts für schwache Nerven. Sogar die hart gesottene Florentina Holzinger musste schlucken.

Von Elena Philipp

Gisèle Viennes Puppen im "Haus am Waldsee" © Frank Sperling

18. September 2024. Groß und leer starren die Augen ins Nichts, vorbei an den Besucher*innen, die sich über die Glaskästen mit den lebensgroßen Teenager-Puppen beugen. Eine Frau hat die Hände verschränkt wie zu einem Begräbnis, wir alle fotografieren die Leiber aus Holz und Schaumstoff, die da zu unseren Füßen liegen. Schneewittchen meets "The Virgin Suicides". Und das Teenie Horror-Genre: Eine der so lieblich scheinenden Figuren mit ihrer rosig-bleichen Haut und den hellen Augen hat eine Maske halb auf dem Kopf – eine geknautschte Gummi-Fratze, die blutige Zähne fletscht.

Gewalt gegen junge Körper ist ein zentrales Thema im Werk von Gisèle Vienne, die Bildende Kunst und Performances schafft, Filme dreht, Essays schreibt und fotografiert und seit dem Alter von 11 Jahren mit ihrer Mutter Dorothéa Vienne-Pollak Puppen baut. Die Arbeiten der französisch-österreichischen Multikünstlerin kreisen von Beginn an um die Konstellation aus physischer Gewalt, deren psychischen Folgen und den gesellschaftlichen Strukturen, die dehumanisierende Übergriffe normalisieren – zuletzt in der Produktion Extra Life, die zum Theatertreffen 2024 eingeladen war.

Aufgebahrte Puppen

Derzeit sind Gisèle Viennes bildnerische und filmische Arbeiten in Berlin zu sehen. Das Haus am Waldsee widmet ihr eine Einzelausstellung. In der eigens für die Kunst-Villa zusammengestellten kleinen Werkgruppe sind die Puppen in den sargähnlichen Vitrinen ausgestellt. Im Georg Kolbe Museum korrespondieren Viennes Exponate mit Werken der feministischen Avantgarde von Hannah Höch, Sophie Taeuber-Arp oder Emmy Hennings. In den Sophiensaele nwiederum, die im hippen Galerien-Viertel in Mitte angesiedelt sind, steht zur Berlin Art Week ein Filmscreening und ein Künstlerinnengespräch mit der Choreographin Florentina Holzinger an, bevor dort im November "Crowd" gastieren wird, eine Performance aus dem Jahr 2017, in der Party-Besucher*innen gesteigerte Bewusstseinszustände erleben.

Auf dem Panel mit Holzinger geht es, wie in den Texten zu den Ausstellungen, um Viennes Kritik am – oder vielleicht auch Obsession mit dem – "liberalen, gewalttätigen, sexistisch-rassistischen Blick", der uns antrainiert sei und unsere Wahrnehmung anderer Menschen und ihrer Körper präge. Machtverhältnisse transformierten sich in eine physische Tatsache und manifestierten sich körperlich: Sie selbst sei mit dem entwertenden Blick auf ihren Körper aufgewachsen, habe ihn in ihre Selbstwahrnehmung integriert – und dissoziiert, erzählt Vienne.

Teenie-Zimmer hinter dem Türrahmen © Johannes Dunkel

Dissoziation als Reaktion auf traumatische Erlebnisse, das Abspalten von Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen, ist ein auch ästhetisch prägender Bestandteil von Viennes Arbeiten. In "Extra Life" scheint bisweilen die Zeit stehen zu bleiben, eine Szene friert für lange Momente ein, bevor sie weitergeht – wie ein Mensch, der Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung erlebt und innerlich erstarrt. Äußerlich mag sich Dissoziation als ein Erschlaffen äußern, ein Wegtreten – da ist man bei Viennes Puppen mit dem leeren Blick. Doch unterhalb dieses "gefrorenen Meeres“ toben die Emotionen.

Explizite Gewalt auf der Audiospur

Muten die Puppen in den Glasvitrinen ambivalent an (sind sie unseren Blicken hilflos ausgeliefert oder kommunizieren sie an uns vorbei miteinander und verschalten sich mental gerade zur rebellischen Teenie-Truppe?), stürzt Gisèle Vienne uns Zuschauer*innen in dem knapp einstündigen Film "Jerk" in die Abgründe (un-)menschlichen Verhaltens.

Puppenspieler Jonathan Capdevielle, der mit der gleichnamigen Inszenierung von Vienne ab 2008 zwölf Jahre international tourte, spielt hier die Folterungen, Vergewaltigungen und Morde an Jungen und jungen Männern nach, die der texanische Serienkiller Dean "Candy Man" Corll in den siebziger Jahren beging. Bestialische (oder doch: sehr menschliche) Taten, die in der Performance quälend detailliert nachgestellt werden. Dabei gibt es keinerlei visuelle Splatter-Details, sondern Vienne und Capdevielle fokussieren aufs Auditive. Und das ist vielleicht noch unerträglicher.

Capdevielle steckt eine Hand unter den Pullover der knapp 30 Zentimeter langen Handpuppe, die das erste Opfer darstellt. Dieser Miniaturausgabe ihrer Puppen im Haus am Waldsee hat Vienne zum markenbewussten Jugendoutfit ein zwar ähnlich bleiches, aber leichengraues Gesicht gemalt. Die Mörder-Puppen tragen Tiermasken – der erste Eindruck ist harmlos. Aber dann macht Capdevielle mit dem Mund die Geräusche des Fistings nach, mit dem Dean Correll sein Opfer zu Tode quälte. Es schmatzt und glitscht grauenvoll, und als Corll zum Orgasmus kommt, läuft dem Performer dicke weiße Spucke aus dem Mund. Ein ästhetisch verfremdeter Snuff Movie: Allen Zuschauer*innen, mit denen man im Anschluss spricht, schlägt diese abgefilmte Performance auf den Magen. "Das war eine ähnliche Erfahrung wie bei 'Antichrist'", Lars von Triers Psychothriller, sagt auch Florentina Holzinger, die "Jerk" offenbar zum ersten Mal gesehen hat. "Und das ist ein Kompliment."

Dissoziative Filmgestaltung

Verstörend ist das Erlebnis und, so denkt man erst: völlig eindeutig. Aber Jonathan Capdevielle beherrscht virtuos das Spiel mit mehreren Ebenen. Während Corll das erste der Opfer dieses Abends fistfuckt, schmiegt sich die Puppe von Wayne, einem der beiden Teenager, die ihm bei seinen Morden halfen, an die Wange des Spielers. Dieser wiederum verkörpert David Brooks, den zweiten der minderjährigen Mitmörder, der die Videos zu den Gewaltorgien drehte und bei Vienne schlussendlich die Polizei ruft. In Haft bildete sich der jugendliche Serienmörder zum Puppenspieler aus und – der Aufhänger für Dennis Coopers Textvorlage – stellte seine Morde nach. Eine bizarre Traumatherapie.

GiseleVienne Jerk CCompagnie des Indes uFilmstill aus "Jerk" © Compagnie des Indes

Jonathan Capdevielle begibt sich tief in dieses entmenschlichende Universum aus Machtphantasmagorien. Die Filmversion von "Jerk" ist eine Hommage an diesen exzeptionellen Puppenspieler und seine auch mental-emotionale Leistung. Wie geht es jemandem, der zwölf Jahre lang mit solch einer Performance tourt? Die Frage wird auf dem Panel gestellt, aber nicht beantwortet.

Als "Mikro-Choreographie" begreift Vienne ihren Film. In den langen Einstellungen kommt die Kamera Capdevielles Gesicht oft bis auf wenige Zentimeter nahe – man sieht jede Pore, jeden Schweißtropfen und die Verfärbung der Haut. Filmästhetisch ist auch das eine Art dissoziatives Verfahren, denn während die dargestellten Vorgänge emotional entsetzen, registriert die Kamera als Messgerät mit neutraler Aufmerksamkeit kleinste physiologische Veränderungen. Die unterdrückten Gefühle, Abscheu, Wut, Entsetzen, äußern sich körperlich, das ist der diagnostische Aspekt von Viennes Kunst, die in Berlin einen starken Auftritt hat. Nur eines gelingt ihr nicht: das psychosoziale Paradigma zu verändern, das sie so drastisch darstellt. Eine Flucht, die auch zum Komplex von Trauma und Dissoziation gehört, ist in ihren Arbeiten nicht möglich.

 

This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play
Einzelausstellung Gisèle Vienne
Haus am Waldsee
12. September 2024 – 12. Januar 2025

https://hausamwaldsee.de

 

Jerk
Film von Gisèle Vienne
Regie: Gisèle Vienne, Drehbuch: Dennis Cooper, Originalmusik: Peter Rehberg, Herstellung der Puppen: Gisèle Vienne, Dorothéa Vienne-Pollak, Erstellung der Tattoos und Zeichnungen: Jean-Luc Verna, Make-up: Mélanie Gerbeaux, Kamera: Jonathan Ricquebourg, Schnitt: Caroline Detournay, Toningenieur: Pierre Bompy, Chef-Elektriker: Georges Harnack, Chef-Maschinist: Romain Riché Erste Assistenz Operator: Ronan Boudier, Stellvertretende Assistenz Regie: Brandon Luong, Regieassistenz: Camille Queval, Inspizienz: Antoine Hordé, Farbkorrektur: Yov Moor, Mischung Ton: Mikaël Barre, Spezialeffekte: Robin Kobrynski, Drehort: Centre national de la danse (CN D Pantin).
Mit: Jonathan Capdevielle, Mit den Stimmen von: Catherine Robbe-Grillet, Serge Ramon.
Dauer: 1 Stunde
Französisch mit englischen Untertiteln
Screening in den Sophiensaelen am 15. September 2024

https://sophiensaele.com

mehr porträt & reportage

Kommentar schreiben