Carolin Haupt + Linda Pöppel über ihre Aktion zur Landtagswahl in Brandenburg
Nach der Wahl ist vor der Wahl
20. September 2024. Wie können wir das Mikrofon nutzen, solange wir es noch haben? Mit dem Ensemblebündnis Berlin haben die Schauspielerinnen Carolin Haupt und Linda Pöppel einen Kollektivtext initiiert, an dem sich dreizehn Autor*innen beteiligten. Als Wahlkämpferinnen für die Kunst zogen sie damit durch Brandenburg.
Ein Interview von Esther Slevogt
20. September 2024. "Stellt euch vor, es ist Wahl und alle gehen hin! Wirklich alle, auch die Tiere, auch die Natur, das Klima, ein paar Autos sogar, zahllose Individuen, manche kommen in Begleitung ihrer Armut, und alles und alle sind ausgerechnet an diesem entscheidenden Tag extrem politisiert", so begann der Aufruf an Theaterautor*innen für den Kollektivtext. Am Wahltag wird er noch einmal zu hören sein, im Roten Salon der Volksbühne in Berlin.
Anlässlich der Landtagswahlen in Brandenburg haben Sie die Kunst-Aktion "Wahlverwandt" gestartet. Wie kam es dazu?
Carolin Haupt: Nach der Europa-Wahl am 9. Juni 2024 und dem großen Erfolg rechter Parteien bei dieser Wahl haben wir uns die Frage gestellt: Wann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir tätig werden müssen, in dem Wirkungsfeld, das uns selbst zur Verfügung steht? Da wir uns bereits 2021 als Ensemblebündnis Berlin vernetzt haben, boten sich die anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg an, diese Vernetzung auszuweiten und in Kontakt mit unseren unmittelbaren Nachbar*innen in Brandenburg zu treten.
Vielleicht kurz zwei Sätze zum Ensemblebündnis?
Linda Pöppel: Das Ensemblebündnis Berlin ging während der Pandemie aus einer Initiative der Ensemblesprecher*innen der Berliner Bühnen hervor: Die Ensemblevertretungen vom Deutschen Theater, Berliner Ensemble, Gorki, der Volksbühne, der Schaubühne und der Parkaue haben sich damals zusammengeschlossen, als Verbund gegen die konkurrenzbedingte Vereinzelung, die unser Berufsstand oft mit sich bringt. In Anbetracht der Europawahl wollten wir unser Bündnis nun auch verstärkt auf künstlerischer Ebene nutzen und ausweiten: Wie finden wir eine Stimme über unsere jeweiligen Betriebsgrenzen hinaus?
Carolin Haupt: Mit Lorenz Just hatten wir früh einen Autor an unserer Seite, der uns bei ersten Überlegungen und dem Verfassen des Aufrufs an die Autor*innen begleitet hat. Zentral war die Vision, einen Text eigens zur Wahl zu verfassen, den wir dann in Berlin und Brandenburg an unterschiedlichsten Orten mit Kolleg*innen aus Brandenburger und Berliner Theatern vor der Wahl lesen wollten. Dieser Text sollte eine Vielstimmigkeit und auch Vielseitigkeit unserer Gesellschaft und Kultur abbilden, sich mit der Verantwortung, aber auch dem großen Privileg von demokratischen Wahlen befassen – und den unterschiedlichen Motivationen zu wählen. Daher wollten wir möglichst viele Autor*innen dazu einzuladen, sich an einem solchen Kollektivtext zu beteiligen, auch, um diesen Prozess zu demokratisieren.
Am Ende haben dreizehn Autor*innen mitgemacht: Hannes Becker, Olga Hohmann, Thomas Melle, Rainald Grebe, Magdalena Schrefel, Anne Kulbatzki, Kevin Rittberger, Dmitrij Gawrisch, Maria Milisavljević, Thomas Köck, Lorenz Just, Patty Kim Hamilton und Sivan Ben Yishai. Was ist das für ein Text geworden?
Linda Pöppel: In unserer Zeit werden schnelle, laute Antworten immer präsenter, finden immer mehr Anklang und Klicks. Wir sind auch konfrontiert mit einer immer gewaltsamer werdenden Sprache. Dieser Text ist ein Versuch, dem etwas zu entgegnen. Auch wir Künstler*innen stehen vor der großen Frage: Welche Bedrohungen und Beschränkungen kommen auf uns zu, wenn antidemokratische Parteien weiter an Boden gewinnen? Was hat das für Konsequenzen für uns? Wie können wir das Mikrofon nutzen, solange wir es noch haben? – um hier einen Satz von Sivan Ben Yishai aufzugreifen. Ich habe in der letzten Spielzeit in Polen am Slowacki Theater in Krakau gearbeitet und die Auswirkungen einer achtjährigen autoritären rechtsnationalen Regierung wie der PiS-Partei selbst erlebt. Der Kollektivtext hat eine ganz eigene Brüchigkeit, lebt von ununterbrochenen Perspektivwechseln, Humor, Pessimismus, Aktionismus, Poesie, Hilflosigkeit und Emotionalität, all den Gefühlen also, mit denen wir konfrontiert sind, wenn wir unserer eigenen Verletzlichkeit begegnen.
Was kann dieser Text aus Ihrer Sicht bewirken?
Carolin Haupt: Der Hauptgedanke war, dass wir diese Botschaft der Verbundenheit als Kulturschaffende nach Brandenburg senden wollten, weil wir in dieser Wahl tatsächlich miteinander verbunden sind. Auch wenn wir in Berlin jetzt nicht wählen, wird uns die Wahl in Brandenburg trotzdem in ihren Auswirkungen betreffen. Daher auch der Titel unserer Aktion: Wahlverwandt. Außerdem wollten wir die Kolleg*innen vor Ort in den Institutionen mit dieser Vernetzungs-Aktion unterstützen. Es war uns daher von vornherein wichtig, die Lesetour in häuserübergreifenden Besetzungen zu gestalten.
Linda Pöppel: Eine Frage, die in den Institutionen immer wieder sehr intensiv gestellt wird, ist ja: Erreichen wir überhaupt die, die nicht mehr demokratisch wählen? Und das ist ganz klar ein Problem. Unsere Erfahrung mit dieser Aktion und der Lesetour in Brandenburg hat uns aber auch verdeutlicht, dass die Akteur*innen und Institutionen vor Ort selbst Unterstützung brauchen. Dass wir uns als Kunstschaffende und Zivilgesellschaft untereinander stärker vernetzen müssen.
Auf welche Institutionen bezieht sich das genau?
Carolin Haupt: Wir haben von Anfang an nicht nur mit Theatern, sondern auch mit Vereinen in Kontakt gestanden, die demokratiefördernde Projekte machen, später auch mit dem Landesverband Freie Darstellende Künste in Brandenburg – es geht ja auch um die Freie Szene. Ein Verein in der Prignitz – die Phronesis Diskurswerkstatt – war schon in einem ganz frühen Stadium begeistert von unserer Vision der Aktion Wahlverwandt und hat wichtige Unterstützungsarbeit geleistet, Veranstaltungen organisiert, Plakate gedruckt. Dieses große Vertrauen entgegengebracht zu bekommen, war für uns sehr ermutigend.
Mit dem Text sind sie dann lesend durch Brandenburg gereist. Wo genau waren Sie? Welche Erfahrungen haben sie gemacht?
Linda Pöppel: Wir waren unter anderem in der Stadtbibliothek Rathenow, beim Spielzeiteröffnungsfest des Staatstheaters Cottbus, beim Stadtfest "Frankfurt bleibt bunt" in Frankfurt/Oder und in der Kant-Schule in Falkensee. Jedes Mal wurde die Diskussion nach der Lesung sehr schnell politisch und emotional. Unser Wunsch, durch das Einfallstor der Kunst mit den Leuten ins Gespräch zu kommen und Begegnungen zu schaffen, hat sich insofern erfüllt, als dass die Texte eine sehr eigene Emotionalität mitschicken und eine persönliche Perspektive anbieten, die im Publikum unmittelbar auf Resonanz stößt.
Carolin Haupt: Wir erleben, dass der Text und sein Inhalt immer der Aufhänger ist, um ins Gespräch mit den Menschen zu kommen, viel stärker als bei manchen Publikumsgesprächen im Theater. Die Gespräche finden auch auf einer anderen, viel persönlicheren Ebene statt als wenn es vorher ein Podium oder einen Vortrag gegeben hätte. Wir merken eigentlich jedes Mal, dass der Text die Leute anders berührt und sie oft in das Gespräch einsteigen, indem sie zum Beispiel Zitate aus dem Text aufgreifen.
Worum geht es in den Gesprächen nach den Lesungen?
Linda Pöppel: Wir bekommen vor allem einen Einblick, wie stark das Thema "Rechts" gerade die Menschen umtreibt. Dass etwa die AfD massiv auch vor Schulen steht und Kids anspricht, das als einzige Partei weit und breit tut – und damit erfolgreich ist.
Carolin Haupt: Und wir erleben die Verzweiflung derer, die im aktiven "Widerstand" sind, sich nicht einschüchtern lassen wollen und nach wie vor ihre Freunde und Nachbarn für die Demokratie begeistern wollen – man merkt, dass der Grad der Angefasstheit ein so unvorstellbar anderer ist, im Vergleich zu dem, was wir hier in Berlin erleben.
Wie würden Sie ihr Publikum beschreiben?
Linda Pöppel: Es sind politisch engagierte Menschen, würde ich sagen. Zwei Mal saßen auch Kandidaten des Wahlkampfs im Publikum und haben danach sehr offen mitdiskutiert. Was besonders auffällt, ist die Abwesenheit der Jugend.
Carolin Haupt: Ja, selbst in der Schule, in der wir gelesen haben, kamen nur zwei Schüler*innen. Eine*r davon hatte Technikdienst.
Linda Pöppel: Genau, darum geht es dann auch oft – mit den Eltern dieser abwesenden Generation zu sprechen. Und dabei stellen wir verstärkt fest, dass die verbreitete Vorstellung, die Überzeugungen würden aus dem Elternhaus kommen, einfach nicht mehr stimmt. Diese massive Zuwendung zur AfD bei den U16-Jährigen hat größtenteils mit den sozialen Medien zu tun. Vor allem hören wir immer wieder von TikTok. Wir sind verzweifelten Vertreter*innen von Elternräten begegnet, die sich darüber austauschen wollten, wie sie damit umgehen sollen, wenn sie am Abendbrottisch feststellen, dass ihr Kind die AfD wählen will. Eltern, die dann völlig ratlos fragen: Wo kommt das her? Was haben wir falsch gemacht?
Aber was kann Theater da ausrichten? Wenn schon jetzt zu Ihren Veranstaltungen nicht unbedingt diejenigen kommen, die Sie eigentlich erreichen müssten?
Linda Pöppel: Unsere Hoffnung ist, dass diese Aktion der Auftakt für eine größere Vernetzung ist – auch bundesweit –, um zumindest in den Bereichen, auf die wir Einfluss haben, lauter zu werden. Ich glaube, ein Vehikel dafür könnte tatsächlich der Zusammenschluss, die gegenseitige Unterstützung sein. Und zwar nicht nur, wenn es akut ist, sondern dauerhaft. Sich zusammenzuschließen und Einladungen auszusprechen für so etwas wie eine empathische Gesellschaft, ist nach wie vor die Kraft, die wir im Theater haben. Dort können wir es erproben, erlernen, entwickeln. Weil Theater eine Kunstform ist, in der wir Berührungspunkte finden und erschaffen können.
Die AfD beansprucht für sich, auch eine Partei innerhalb des demokratischen Spektrums zu sein. Besteht nicht die Gefahr, dass die AfD Aktionen wie die Ihre gegen Sie verwendet?
Carolin Haupt: Es ist natürlich zu befürchten, dass in Institutionen das politische Profil zurückgefahren beziehungsweise das Programm "angepasst" wird. Aber vielleicht ist das eben genau die Aufgabe der Institutionen: Jetzt nicht kleinbeizugeben, sich selbstbewusst und sichtbar zu positionieren – für die Demokratie – und diesem Anliegen auch konkrete Aktionen folgen zu lassen. Ein Beispiel ist das Programm "Haltung zeigen!" der Neuen Bühne Senftenberg. Damit machen sich Institutionen oder Vereine schon jetzt angreifbar, und es braucht in Brandenburg vielerorts mehr Mut und Resilienz als in Berlin, diese Haltung zu zeigen. Strukturen – gerade die Aktionen von Vereinen, die demokratiefördernde Arbeit leisten – sind schon jetzt bedroht, und das nicht nur in Bezug auf die Sorge um künftige Fördermittel
Linda Pöppel: Ich frage mich, ob sich Theater mit Vereinen nicht stärker austauschen, mehr zusammenarbeiten sollten, um in bestimmten Regionen präsenter zu sein. Raus aus den eigenen Betriebsgrenzen zu gehen wird wichtiger. Immer mehr Kulturinstitutionen vor Ort werden zunehmend bedroht. Wie schaffen wir einen Austausch und ein Netzwerk, um uns gegenseitig zu schützen und zu stützen? So etwas wie einen Organismus – damit sich niemand alleine fühlt, egal in welcher Region. Angriffe auf Kulturinstitutionen oder einzelne Arbeiten meinen immer alle anderen mit. Wenn etwa ein Abend bedroht oder zensiert wird wie zuletzt der Weiße-Rose-Abend am Jugendtheater Burratino im Erzgebirge, weil er Bezüge zu Höcke und der AfD hergestellt hat, wie reagieren wir als Kulturschaffende darauf? Könnte dann dieser Abend als Gastspiel nach Berlin oder woanders hin eingeladen werden – um die Sichtbarkeit zu erhöhen?
Die Abschlussveranstaltung von "Wahlverwandt" findet am Wahltag in der Berliner Volksbühne statt. Was soll da passieren?
Carolin Haupt: Wir werden natürlich gemeinsam die ersten Hochrechnungen anschauen und den Ergebnissen begegnen. Auch den Kollektivtext werden wir noch einmal lesen – in einer größeren Besetzung als bisher, wieder mit Spieler*innen aus Berlin und Brandenburg. Danach wird es auch wieder ein Publikumsgespräch und diesmal ein Podium geben mit Vertreter*innen von Kulturinstitutionen in Brandenburg und der freien Szene. Von diesem Austausch erhoffen wir uns auch eine Verabredung oder Ideen zu einer noch größeren Vernetzung – mit Blick auf die Bundestagswahl. Nach der Wahl ist vor der Wahl.
Audio mit einem Stück aus "Wahlverwandt" – gelesen von Carolin Haupt und Linda Pöppel:
Linda Pöppel war von 2016 bis 2023 festes Ensemblemitglied am Deutschen Theater Berlin. Momentan arbeitet sie freischaffend an unterschiedlichen Theatern sowie für Film und Fernsehen. 2024 erhielt sie den Grimme-Preis. Außerdem ist sie Gründungsmitglied des EnsembleBündnisBerlin und Mitinitiatorin der Aktion WAHLVERWANDT.
Carolin Haupt wurde in Rathenow geboren und wuchs in Berlin auf. Seit 2019 ist sie festes Ensemblemitglied der Schaubühne in Berlin. Außerdem arbeitet sie als Sprecherin für Funk, Fernsehen und Hörbuchverlage und ist Mitinitiatorin der Aktion WAHLVERWANDT des EnsembleBündnisBerlin.
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
mehr porträt & reportage
meldungen >
- 11. Oktober 2024 Theater Ansbach: Großes Haus bleibt bis 2026 geschlossen
- 10. Oktober 2024 Berlin: Neue Teamleitung fürs GRIPS Theater ab 2025
- 10. Oktober 2024 Literaturnobelpreis für Han Kang
- 08. Oktober 2024 euro-scene Leipzig: Kritik an Einladung palästinensischer Produktion
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
- 04. Oktober 2024 Internationale Auszeichnung für die Komische Oper Berlin
- 04. Oktober 2024 Kulturschaffende fordern Erhalt von 3sat
neueste kommentare >
-
Kultursender 3sat bedroht Kontaktformular
-
Neumarkt Zürich Klage Was wäre die Alternative?
-
Neumarkt Zürich Klage Jens Balzers Essay
-
Der Reisende, Essen Variation
-
Neumarkt Zürich Klage Kopf auf Füße
-
3sat bedroht Mehr Vielfalt
-
euro-scene Leipzig Arnas Kinder
-
euro-scene Leipzig Kuratorische Unwucht
-
euro-scene Leipzig Tendenziös
-
euro-scene Leipzig Versuch einer Antwort
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
https://www.deutschestheater.de/programm/produktionen/wahl-spezial-vol-i
https://podcasts.apple.com/de/podcast/wahlverwandt-zu-gast-bei-zement-giessen/id1737375269?i=1000670092656