Interview mit der Regisseurin und Karlsruher Schauspieldirektorin Anna Bergmann über Geschlechtergerechtigkeit und die Frauenquote im Theater
"Von allein ändert sich nichts"
Anna Bergmann im Interview mit Anne Peter
4. Februar 2019. Die Heinrich Böll Stiftung hat soeben den Aufsatzband "Moralische Anstalt 2.0: Über Theater und politische Bildung" veröffentlicht, mit diversen Beiträgen zu politischen Fragestellungen des Gegenwartstheaters. Das aus diesem Band hier veröffentlichte Interview mit der Regisseurin und seit Sommer 2018 Karlsruher Schauspieldirektorin Anna Bergmann greift eines der politischen Schwerpunktthemen der vergangenen Spielzeit auf: die Geschlechtergerechtigkeit an deutschsprachigen Bühnen. Mit ihrem Quotierungsvorschlag für Regie am Badischen Staatstheater Karlsruhe hatte Anna Bergmann eine der großen Diskussionen zu dem Thema angestoßen.
Anna Bergmann, Sie haben nach Ihrer Berufung als Schauspieldirektorin in Karlsruhe entschieden, in Ihrer ersten Saison nur Frauen inszenieren zu lassen. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Ich habe mir gesagt: Wenn ich schon das Privileg habe, in einer Leitungsposition zu arbeiten, möchte ich auch ein politisches Zeichen setzen. Gerade in der gegenwärtigen Situation, in der 70 % der Inszenierungen in Deutschland von Männern stammen. Dem wollte ich etwas entgegensetzen. Es ging mir gezielt darum, junge Frauen, Regisseurinnen zu unterstützen, die ich gut fand, unbekannte und etablierte, auch Künstlerinnen aus dem Ausland. Neben dieser 100 %-Frauenquote wollte ich aber auch einen Spielplan mit Stücken gestalten, die hauptsächlich weibliche Perspektiven auf die Bühne bringen. Das ist so auch noch nie dagewesen.
Welche Reaktionen gab es auf Ihre Regiefrauen-Setzung?
In den Medien wurde das allgemein sehr positiv aufgenommen. So ein Spielplan hat in seiner Absolutheit ja auch etwas Bestechendes, er ist mutig und konsequent. Auf Facebook und in der Leserkommentarspalte auf nachtkritik.de waren die Reaktionen gespalten. Da gab es auch sehr negative Kommentare, die mir Männerfeindlichkeit unterstellt haben oder mir vorwerfen, ich würde gegen das Grundgesetz – "Alle Menschen sind […] gleich" – verstoßen und Männer diskriminieren. Das hat mich total überrascht. Es kräht ja kein Hahn danach, wenn an anderen Bühnen 90 % Männer inszenieren. Oder wenn ausschließlich Männer auf der großen Bühne inszenieren, während die Frauen ins Studio gesteckt werden.
Hat das auch eine Vorbildfunktion für andere?
Klar! Es hat bei vielen anderen Theaterleitern etwas angestoßen. Das zeigt das Feedback, das ich bekommen habe. Plötzlich gehen auch andere bewusst auf die Suche nach regieführenden Frauen. Unsere Setzung war richtig und wichtig, sowas hilft mehr als gutgemeintes Reden. Machen ist immer besser als Quatschen. Wir zeigen: Es geht! Keiner kann mehr behaupten, es sei unmöglich, gute Regisseurinnen zu engagieren.
Im letzten Jahr sind Bande unter weiblichen Theaterschaffenden geknüpft worden. Haben Sie sich auch zuvor schon in einer Art Frauen-Netzwerk bewegt?
Sowas Netzwerkartiges gab es früher nicht. Meine Karriere habe ich als Einzelkämpferin gemacht. Seit meinem Diplom 2004 arbeite ich als Regisseurin – hauptsächlich
an Häusern, die von Männern geleitet werden. In Schweden, wo ich seit fünf Jahren arbeite, ist die Vernetzung von Frauen untereinander schon viel stärker ausgeprägt. Dort arbeiten Frauen am Theater auch schon viel länger in Führungspositionen.
Hat sich an Ihrer Einstellung zur Geschlechtergerechtigkeit in den letzten Jahren etwas verändert? Waren Sie schon immer für die Quote?
Ja, da hat sich einiges verändert. Früher dachte ich immer: Hey, wenn man richtig gut und begabt ist und etwas unbedingt will, kann man es auf jeden Fall schaffen. Durch bestimmte Erfahrungen und viele Gespräche mit Kolleginnen über die Jahre ist mir klargeworden, dass das leider einfach nicht reicht. Und deshalb unterstütze ich die Forderung nach einer Quote für Frauen. Von allein ändert sich nichts, das haben wir in den letzten Jahren gesehen. Es geht ja in so vielen gesellschaftlichen Bereichen darum, die Lage für Frauen zu verbessern. Ich bin in der tollen Lage, dass ich in der Öffentlichkeit stehe und jetzt die Macht habe, hier am Theater etwas zu verändern, das nach außen strahlt.
Was hat Sie persönlich politisiert?
Das ist ein Zusammenspiel von vielen Erlebnissen und Begegnungen, von Dingen, die ich zu hören bekommen habe: "Du bist ein Mädchen, sowas kannst du nicht machen." Oder: "Wenn du weiter hier arbeiten willst, müssen wir schon miteinander ins Bett gehen." Solche Sachen passieren einem als Frau immer wieder.
Was haben Sie am Haus in Karlsruhe verändert, seit Sie als Schauspieldirektorin berufen wurden?
Ich habe zum Beispiel eingeführt, dass montagvormittags keine Proben stattfinden, damit die Schauspieler automatisch einen freien Vormittag haben, wo sie sich um Kinder, Arztbesuche usw. kümmern können. Im Ensemble gibt es jetzt viel mehr Frauen – was Einfluss auf die Stückauswahl hat, weil ich denen natürlich möglichst interessante Rollen anbieten möchte. Kinder springen jetzt öfter im Haus herum, nicht nur meins.
Anna Bergmann, Schauspieldirektorin am Staatstheater Karlsruhe, studierte Theaterwissenschaft, Philosophie und Anglistik an der FU Berlin und Regie an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch". Seit 2003 arbeitet sie als Regisseurin an den großen Bühnen im deutschsprachigen Raum, seit 2014 inszeniert sie auch regelmäßig am Uppsala Stadsteater sowie am Stadsteater Malmö, zuletzt Persona von Ingmar Bergman in Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin. Die Arbeit ist zum Berliner Theatertreffen 2019 eingeladen. 2016 war Anna Bergmann für ihre Inszenierung von Fräulein Julie am Wiener Theater in der Josefstadt für den Nestroy-Preis in der Kategorie "Beste Regie" nominiert.
Mehr zum Thema: Anne Peter hat in einem großen Übersichtstext die Debatte um Geschlechtergerechtigkeit im Theater aufgearbeitet. Eine Diagrammserie unterlegt den Text mit Zahlen und Fakten.
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Einer Frau grundsätzlich vorzuwerfen, daß sie an der Spitze steht ist -mit Verlaub- hirnrissig und kontraproduktiv. Das Theatersystem, lassen wir es ruhig auf den gesamten kulturellen Sektor ausweiten, ist "sexistisch, kapitalistisch und homophob" weil er Teil einer solchen Gesellschaft ist. (Diese Erkenntnis ist noch gar nicht so lange in der allgemeinen Wahrnehmung, da sich untereinander gerne auf die superliberalen Schultern geklopft wird.)
Wie Frauen in so einer Gesellschaft leben und überleben ist ja nun ganz individuell. Auch in der amerikanischen Politik gibt es nicht nur eine Ivanka Trump, sondern auch eine Kamala Harris, eine Ruth Bader Ginsburg, neuerdings eine Alexandria Ocasio-Cortez etc. Und es werden mehr, wie auch (hoffentlich) in den Intendanzposten/-teams der Theater.
Unter diese Meldung einem unzutreffenden Vergleich mit einer korrupten Millionärstochter hinzuhauen kann ja wohl nicht ihr Ernst sein. Es wäre wohl Zeit Ihren eigenen Sexismus unter die Lupe zu nehmen.
Es mutet widersprüchlich an, wenn einerseits tools der Identitätspolitik eingesetzt werden um auf vermeintliche Missstände in Karlsruhe aufmerksam zu machen, und im nächsten Atemzug die gesamte Identitätspolitik als neoliberal verunglimpft wird. Bei anderen Bühnen werden übrigens „Alleinstellungsmerkmale“ gesucht oder gefeiert.
Vage Unterstellungen sind keine ernstzunehmende Kritik. Wessen „Ungerechtigkeiten und soziale Mißstände“ sind der Intendantin angeblich egal: Der Arbeitnehmer am Haus? Der Theaterprofessionellen insgesamt? Der Migranten oder sozial Schwachen in Deutschland? Der Textilnäherinnen in Bangladesch?
Wissen Sie um die Herkunft oder Sexualität der Angestellten, der berufenen Künstler oder der Besucher so gut Bescheid um mit Überzeugung solche Worte wie „Segregation“ in den Raum zu stellen?
Und dieser als Kulturkritik dünn maskierte Seitenhieb, Frau Bergmann wäre nur aufgrund hohler PR zum Theatertreffen eingeladen ist vom traditionellen „kannnix, weissnix, hatsichhochgeschlafen“ nur ein Haarbreit entfernt. Obwohl den Ausgewählten des TT regelmässig Vieles vorgeworfen wird (mein Beileid übrigens), so eine üble Diffamierung musste sich kein anderer Regisseur anhören. Selbst ein "Schützling der Kritiker" hat es da noch besser. Sehen Sie den Unterschied?
Wir können gerne eine offene Diskussion führen, und auch Frau Bergmann darf natürlich kritisiert werden. Dies aber bitte mittels konkreter Beispiele, handfester Argumente, konstruktiver Vorschläge und einem realistischen Blick auf den Beruf der Theaterleitung. Zum Abgleich verweise ich gerne auf Jo Freemans „Trashing: The Dark Side of Sisterhood“.
"Es gibt nicht Gutes außer: Man tut es."
Veränderungen müssen konkret sein, beginnen oft im Kleinen. Das ist mühsamer als großartig Systemveränderung zu fordern. Und auch das Pauschalurteil von Clarissa, das Theater sei homophob und sexistisch, ist falsch.
Auch die Einforderung der so genannten Diversität bringt nicht viel weiter. Wenn jede Gruppe, jedes Grüppchen, seine Besonderheit, sein Anderssein gegenüber der Mehrheit betont, befördert das nur die Entsolidarisierung und das Geschäft des neoliberalen Kapitalismus.
Die Qualifikation sollte immer noch über ein Engagement entscheiden.
Im Musiktheater, in dem ich lange arbeitete, gibt es übrigens eine Diversität, die es im Schauspiel nie geben kann. In meinem letzten Engagement hatte ich es mit 18 verschiedenen Nationen zu tun, und zwar problemlos.
Namen zu nennen, wie es Sam fordert, ist heikel. Wort stünde gegen Wort. Ich traue Frau Bergmann zu, dass sie die betreffenden Herren souverän hat abfahren lassen.
Wo bleiben künstlerisches Talent, Charisma, fachliches Verständnis, Kompetenz oder andere Fähigkeiten als Auswahlkriterium?
Sollte das Geschlecht nicht unglaublich irrelevant sein?