Bei Netflix bedient

31. August 2022. Den Theatern laufen die Zuschauer:innen weg. Hannes Tronsberg glaubt, dass die Künstliche Intelligenz den Publikumsschwund beenden kann. Der Gründer des Startups "future demand" verspricht seinen Kunden volle Säle.

Interview von Sophie Diesselhorst

Hannes Tronsberg, Gründer und CEO von future demand © Jan Bröcker

 31. August 2022. Herr Tronsberg, im Theaterbetrieb geht das Gespenst des Publikumsschwunds um. Selbst Premieren sind nicht ausverkauft, man hat Angst, dass die Zuschauer:innen nach der Pandemie nicht mehr zurückkommen ...

Wenn wir den gesamten Veranstaltungsmarkt angucken, werden 2022 sogar mehr Tickets pro Woche verkauft als im bisherigen Rekordjahr 2019. Aber, und jetzt kommt der für die Veranstalter relevante Teil: Es gibt auch mehr als doppelt soviele in der Vermarktung befindliche Veranstaltungen. Wenn ich das aufeinanderlege, habe ich fast nur noch die Hälfte der Auslastung pro Veranstaltung. Es werden viele Tickets verkauft, aber es gibt gerade ein absolutes Überangebot aus dem Überhang der Pandemie-Zeit.

Die Verkaufszahlen im klassischen Hochkultur-Bereich sind schlechter als der Durchschnitt. Das liegt einfach daran, dass die Wettbewerbssituation gerade extrem brutal ist. Ein wichtiger Punkt, der in der Besucherforschung der Theater gerne vergessen wird, ist: Theater konkurrieren mit der Bundesliga und Rock am Ring. Und in allen Bereichen wird gerade viel aufgeholt.

Die effektivste Möglichkeit, die Säle wieder zu füllen, ist nicht eine pauschale "Hey, wir sind wieder da"-Botschaft, sondern an die persönlichen Erinnerungen zu appellieren, die die Zuschauer:innen haben. Es gibt nicht einen Grund, sondern ganz viele individuelle Gründe, wieder eine Theaterkarte zu kaufen.

Sie haben mit dem von Ihnen gegründeten Unternehmen "Future Demand" ein mit Machine Learning arbeitendes Tool entwickelt, mit dem Kultur-Veranstalter, so das Versprechen, ihre Veranstaltungen ausverkaufen können. Das ist ziemlich dick aufgetragen! Können Sie dieses Versprechen halten?

Natürlich kann man nicht jede Veranstaltung ausverkaufen. Aber im Kern sehen wir schon, dass die Online-Marketing-Kampagnen, die die Veranstalter mit unserem Tool lancieren, Auslastungssteigerungen von 10-20 Prozent bewirken, also: substantiell zusätzliche Nachfrage und Umsätze. Mehr Ticketverkäufe zu regulären Preisen.

Wie genau funktioniert das?

Wir haben uns relativ schamlos bei Netflix bedient. Da hat ja jede:r Nutzer:in eine eigene Oberfläche mit personalisierten Empfehlungen. Wir haben sowas Ähnliches entwickelt und nennen das Taste Cluster. Uns interessiert nicht, wer kommt. Ich will wissen, warum jemand ein Ticket kauft. Diese Frage ist viel leistungsstärker. Denn so lässt sich Diversität im Geschmack abbilden. Es gibt ja viele Menschen, die an Oper und Fußball oder an Wacken und den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern gleichzeitig Interesse haben.

Unsere Software beschreibt eine einzelne Vorstellung – nicht Produktion, sondern Vorstellung! – mit über 1000 Merkmalen. Wir versuchen ein sehr detailliertes Verständnis davon zu bekommen, warum jemand diesen speziellen Termin wahrnehmen wollen könnte.

Was sind das für Merkmale?

Es gibt diese Tendenz im Hochkulturbereich, sich sehr stark an den Inhalten zu orientieren – aber zu vergessen, dass 45 Prozent der Besuchenden in der Regel für ein soziales Erlebnis ins Theater kommen. Deshalb ist eine genaue Beschreibung von Vorstellungen und Produktionen natürlich wichtig, aber eben nur eine Perspektive. Rund 150-200 Merkmale stehen für die Vorstellung oder Produktion zur Verfügung, ergänzt von vielen Merkmalen zu Künstler:innen und Ensembles. Aber eben auch zum Beispiel Dinge wie: Wie ist das Wetter? Was findet an dem Tag sonst statt? Ist da ein Marathon, eine Wahl, ein großes Rockkonzert? All das hat einen Einfluss auf Ticket-Kaufentscheidungen.

Wo kommen die Daten her?

Wir sprechen von zwei Datenwelten. Das eine sind Informationen, die wir kunden-unspezifisch über die Anbindung von 120 Datenquellen ermitteln. Das reicht von Wikipedia, Spotify, über genre-spezifische Datenbanken bis hin zu Experten, die zum Bespiel Opernproduktionen mit zusätzlichen Merkmalen versehen können. Das sind die Kontext-Daten. Die andere Datenwelt sind die Transaktions-Daten der Theater. Wir gucken uns also die Geschichte der einzelnen Kunden-IDs an. Die Bildung der Taste Cluster ist dann eine Machine-Learning-Aufgabe, in der die beiden Datenwelten übereinandergelegt werden.

Wie finden Sie denn dann heraus, dass Kunden-ID 38, der letztes Jahr zweimal in der Oper war, auch Fußballfan ist?

Die individuelle Person ist nicht relevant für uns. Wir gucken auf das Cluster. Wir wissen, wann parallel Fußballspiele stattgefunden haben. Und können ermitteln: Dieses Taste-Cluster geht tendenziell nicht in die Oper, wenn der FC Bayern spielt. Über die Zusammenführung aus Kontext- und historischen Transaktionsdaten können diese Muster von der Software erkannt werden, ohne dass man das auf eine Einzelperson runterbrechen muss. "Der gläserne Besucher" ist jenseits ethischer Bedenken häufig nicht mehr effizient. Und mit den aktuellen Datenschutzgesetzen auch technisch nur schwer möglich.

Außerdem lassen sich die Daten ja auch nur so in Social Media einspeisen, wo Anzeigen auch interessensbasiert geschaltet werden …

Genau. Wir erreichen dort übrigens alle, die an den Parametern, die unser Tool als Zielgruppe ermittelt hat, Interesse haben – unabhängig davon, ob sie schon mal ein Ticket bei unserem Theater gekauft haben. Die Transaktionen durch diese Kampagnen ziehen häufig Neukundenanteile von 20-30 Prozent nach sich. Meta (Facebook und Instagram) ist für solche Kampagnen der effektivste Kanal im deutschprachigen Raum, weil Reichweite und Zielgruppengenauigkeit mit Abstand am besten sind.

Ihr Tool ist eventbasiert – funktioniert es auch für ein Stadttheater mit Repertoire-Betrieb?

Ja. Eigentlich ist das Mehrspartenhaus das ideale Modell für unser Tool, denn je größer die Diversität im Angebot ist, desto besser funktioniert es. Desto besser kann ich die verschiedenen Interessensgebiete des Publikums in den Taste Clustern abbilden.

Traditionell funktionieren Empfehlungs-Algorithmen nach dem “Kleinster Gemeinsamer Nenner”-Prinzip, bei uns ist es genau umgekehrt: Die Traviata, die eh immer ausverkauft ist, braucht keine Kampagne. Die Uraufführung aber schon. Die Eigenlogik unseres Tools führt also auch dazu, dass die Nischen mehr Licht bekommen.

Sollten gerade die kleineren Stadttheater also jetzt komplett auf Online-Marketing umsteigen?

Der Papieranteil in der Werbung ist in der Branche auf jeden Fall immer noch viel zu hoch. Plakate verschaffen Aufmerksamkeit und stärken die Marke. Das ist wichtig. Aber Plakate alleine verkaufen keine Tickets. Und deshalb sollte man nicht 80 Prozent seines Marketing-Budgets da reinstecken, wie es an vielen Häusern noch der Fall ist. Eine moderne Vermarktung sollte Budgets immer mehrheitlich in zielgerichtete Maßnahmen investieren.

Wie arbeiten Mensch und Maschine zusammen, wenn ein Theater Ihr Tool nutzt?

Ein erfahrener Marketeer braucht ohne unser Tool 6-8 Stunden für eine Facebook Kampagne. Das reicht von den Fragen "Welche Zielgruppen? Was ist die Botschaft?" über die Einrichtung im Facebook Ads Manager bis dahin, die Kampagne zu optimieren, zu überwachen und am Ende zu evaluieren.

Wir haben diese Schritte angeguckt und uns gefragt: Was kann der Mensch besser, was kann die Maschine besser? Bei Formulierungen ist der Mensch ungeschlagen. Die KI-Tools, die es dafür gibt, sind noch nicht wettbewerbsfähig. Besonders im Deutschen.

Aber die ganzen anderen zeitaufwändigen Schritte können wir automatisieren, so dass Stunden auf Minuten zusammenschrumpfen. Und in der Regel freut sich ein Marketeer und ist erleichtert, wenn ich sage: Du musst nie wieder den Facebook Ads Manager öffnen. Denn der ist leistungsstark, aber beim besten Willen nicht intuitiv in der Nutzung, und erst recht nicht, wenn ich nicht sehr viel Erfahrung damit habe.

Die Theater müssen in der Digitalisierung endlich vorankommen. Wir bieten mit unserem Tool an, fünf bis sieben Jahre Rückstand aufzuholen. Das ist wichtig, weil sich die Entwicklung ja immer weiter beschleunigt.

Was kostet Ihr Tool die Theater?

Wie bieten ein Abo, für das eine monatliche Gebühr anfällt, die von der Größe des Theaters und der Anzahl der verkauften Tickets abhängt. Das beginnt bei 1000 Euro im Monat.

Dazu kommt eine variable Komponente für diese Online-Marketing-Kampagnen, wo wir erfolgsbasiert arbeiten. Je mehr zusätzlicher Umsatz damit generiert wird, bekommen wir davon einen kleinen Teil ab. Wenn ein Haus das also intensiv nutzt und damit großen Erfolg hat, profitieren wir auch davon.

Gibt es Konkurrenz zu Future Demand oder sind Sie Monopolisten, wie die großen Social-Media-Anbieter, deren Logik Sie bedienen?

Wir helfen Kulturinstitutionen, ihre Unabhängigkeit zu stärken, indem sie auf Basis ihrer eigenen Daten identifizieren können, warum ihr Publikum zu ihnen kommt und wie und wo sie neues Publikum erschließen können – ohne in die Abhängigkeit von einzelnen Konzernen zu fallen. Unsere Konkurrenz ist "Nichts tun" beziehungsweise "So weiter wie bisher".

 

Hannes Tronsberg Ceo and Founder Jan Bröcker uHannes Tronsberg ist Gründer und CEO von future demand. future demand entwickelt Software für Veranstalter, um die Nachfrage Jahre im Voraus zu prognostizieren und den Umsatz für Veranstaltungen mit geringer Nachfrage zu steigern. Vor der Gründung von future demand arbeitete er als Projektleiter bei actori, einem führenden Unternehmen für Strategieberatung im Kulturbereich. Er war Geschäftsführer des klassischen Musikfestivals Martinu Festtage und Kommunikationsleiter bei den ICF Freestyle Kayak World Championships. Er studierte Wirtschaftswissenschaften, Philosophie und Musikwissenschaft.

 

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Kommentare  
KI gegen Publikumsschwund: Lieber heute als morgen
Tolle Sache. Würde ich sofort mal gerne als Zuschauer ausprobieren. Ich gehe ca. ein mal pro Woche ins Theater. Leider muss ich zu viel Zeit für die Vorauswahl der Stücke verwenden. Ich habe schon versucht mir eigene Algorithmen mit RSS-Readern und Content-Syndicators zu bauen. Aber irgendwie verpasse ich immer wieder spannende Sachen.
KI gegen Publikumsschwund: Kein Wundermittel
Prinzipiell sehr gut und interessant! Allerdings war/ist auch bei Netflix der genialste Algorithmus kein Wundermittel und Garant für viele Abos und starke Nachfrage. Es muss auch ganz klassisch kreativ-künstlerisch und mit bestmöglichem Instinkt am Angebot gearbeitet werden.
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