Mühevoll das Matterhorn hoch

24. Mai 2023. Seit 2020 hat das Theatertreffen für seine Jury-Auswahl der zehn "bemerkenswertesten" Produktionen der Saison eine Regie-Frauenquote. In ihrem Buch "Status Quote" porträtieren die Theaterkritikerinnen Sabine Leucht, Petra Paterno und Katrin Ullmann sämtliche Regisseurinnen, die in diesen vier Jahrgängen beim Theatertreffen gastierten. 

Interview von Christian Rakow

"Status Quote" © Henschel Verlag

24. Mai 2023. Über ihr Projekt und seine Erkenntnisse sprechen die Co-Herausgeberinnen Sabine Leucht und Petra Paterno mit nachtkritik.de-Redakteur Christian Rakow.

nachtkritik.de: Vier Jahrgänge mit der Regie-Frauenquote beim Berliner Theatertreffen haben wir bisher erlebt. Wie kam es dazu, jetzt erstmals Bilanz zu ziehen?

Leucht: Am Ende unserer Zeit in der Theatertreffen-Jury wollten wir etwas über die tollen Künstlerinnen schreiben, die uns begegnet sind. An die Quote haben wir es erst im weiteren Nachdenken gebunden und damit war auch die Auswahl fix.

Paterno: Die Quote hat uns natürlich besonders beschäftigt, weil – wie wir ja aus der Studie "Frauen in Kultur und Medien" wissen – nur circa ein Drittel aller Inszenierungen von Frauen kommen, und die sind oft auf Provinz- und Studiobühnen zu sehen, oder irgendwo im dritten Stock verräumt. Diese Spielstätten wirken sich auf die Produktionsbedingungen aus. Man hat dort nicht die tollen großen Bühnenbilder zur Verfügung und oft auch nicht die allerbesten Schauspieler.

Im Buch kommen durchweg Frauen zu Wort: neben den interviewten Regisseurinnen auch weitere Theatermacherinnen. Es schreiben Journalistinnen. Warum diese Ausschließlichkeit?

Paterno: Wir werden nicht wissen, ob es einen Unterschied gemacht hätte, wenn Männer die Gespräche geführt hätten. Aber im Zuge der Arbeit ist uns schon aufgefallen, dass wir von Frau zu Frau oft auf Missstände zu sprechen gekommen sind, auf demütigende Erfahrungen, die die Regisseurinnen in ihrer Berufslaufbahn hinnehmen mussten oder gegen die sie angekämpft haben. Konkrete Namen wurden dann bei der Autorisierung oft rausgestrichen. Es gibt eine gewisse Vorsicht im Umgang mit der Thematik.

Leucht: Es sind ja wirklich auch empfindliche Bereiche. Man spricht über sexuelle Belästigung, über handfeste Übergriffe am Arbeitsplatz. Für mich war nach den ersten eigenen Gesprächen mit Regisseurinnen erst klar, dass wir es besser auch bei weiblichen Autorinnen belassen sollten.

Paterno: Zudem gibt es geteilte Erfahrungen: Wir Journalistinnen haben uns ja genauso in einem männerdominierten Umfeld bewegt.

menschenfeind 805 ArnoDeclair uFeministisch geschulte Klassikerausleuchtung, eingeladen zum Theatertreffen 2020: Anne Lenks Inszenierung von Molières "Der Menschenfeind" vom Deutschen Theater Berlin © Arno Declair

In den Interviews gewinnt man den Eindruck, dass die Generation der Frauen über 45 auf wesentlich härtere Widerstände traf und patriarchale Muster für ihre eigene Arbeit als Orientierungspunkt empfand. Viele geben an, kinderlos zu sein. Bei den Jüngeren geht es stärker um die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, immer wieder werden die Kinder erwähnt. Ist die Kruste des Patriarchats in der jüngeren Generation schon aufgebrochen?

Paterno: Ich sag jetzt mal ganz optimistisch: Ja! Ich finde schon, dass sich in der jungen Generation wirklich etwas verändert. Wir haben eine Theaterlandschaft im Umbruch porträtiert, die natürlich den gesellschaftlichen Wandel widerspiegelt. Andererseits herrscht noch immer eine Diskrepanz zwischen Inhalt und Form: Auf der Bühne soll es ja um das Gute, Wahre und Schöne gehen. Und das schlägt sich in den Arbeitsprozessen hinter der Bühne so gar nicht nieder.

Leucht: Pınar Karabulut hat im Interview gesagt: "Wir behaupten im Theater nach außen hin gerne, wie weit wir schon sind, aber innen toben mittelalterliche Kämpfe." Die jüngere Generation der in den achtziger und neunziger Jahren Geborenen bringt nicht unbedingt ein größeres, aber sicher ein anderes Selbstbewusstsein ein. Mateja Koležnik (Jahrgang 1962) dagegen ist die älteste der Frauen, die wir interviewt haben. Sie ist im Sozialismus in Slowenien mit der Überzeugung aufgewachsen, dass alle gleich sind: "Wenn ich keinen Erfolg hatte, war ich einfach nicht gut genug." Diese Überzeugung zieht sich in Varianten durch Statements dieser Generation hindurch. Viele dieser Regisseurinnen haben auch eine Autorität ausgebildet, die am männlichen Vorbild geschult war, bewundern aber in gewisser Weise auch die jüngere Generation, die eine andere Form des Kämpfens entwickelt hat: die nicht einfach Verletzungen runterschluckt, sondern den Konflikt sucht und sagt: Nee, das lasse ich mir nicht gefallen!

Paterno: Die Gegenposition dazu formuliert Claudia Bauer, die, wie sie erzählt, gefühlt hundert Jahre auf der Studiobühne gearbeitet hat, bis sie – noch vor der Quote – zum Theatertreffen eingeladen wurde. Sie sagt: "Die alte Kämpferin in mir erhebt natürlich neidvoll Einspruch: Während ich noch mühevoll das Matterhorn hochklettern musste, gondeln andere inzwischen mit der Seilbahn hoch."

Neben der Frage nach den Arbeitsstrukturen stellt das Buch immer wieder die Frage nach einer "weiblichen Ästhetik". Gibt es darauf eine Antwort?

Leucht: Die Frage ist an sich ein bisschen problematisch, sie klingt nach Frauenbücherecke. Aber tatsächlich entwickeln Regisseurinnen oft doch einen anderen Blick: auf Stücke, Figuren, Konflikte und Besetzungen – oder stärken zum Beispiel die weibliche Position in einer Klassikerinszenierung, wie es Anne Lenk macht. Einige Regisseurinnen betonen im Gespräch auch konkret eine andere Farblichkeit; es muss nicht immer alles schwarz sein, es geht auch pink. In den Stoffen und Ästhetiken gibt es einfach eine größere Diversität durch diese weiblichen Blicke, die sich aus der Sozialisierung an oft männlichen Vorbildern emanzipiert haben.

Paterno: Die Frage hat etwas Altertümliches, aber wir waren neugierig, wie sich die Frauen dazu positionieren. Und ja, erwartungsgemäß stießen wir eher auf Ablehnung dieser These einer "weiblichen Ästhetik".

Leucht: Viel stärker kamen "weibliche" Arbeitsweisen zur Sprache: etwa das Arbeiten im Team oder die Sorge darum, dass alle sich wohlfühlen bei den Proben. Mitunter sind die Interviewten auch enorm selbstkritisch, was die Ergebnisse der eigenen Arbeit angeht.

humanistää2 Bettina Lieder Samouil Stoyanov Nikolaus Ostermann u"humanistää", Theatertreffen-Liebling 2022 vom Volkstheater Wien, in der Regie von Claudia Bauer © Nikolaus Ostermann

Es ist allerdings nicht negativ eine kooperative Einstellung zu haben.

Leucht: Gar nicht. Aber es tut einzelnen Menschen mitunter nicht gut, wenn sie alles, was sie tun, wahnsinnig problematisieren und anzweifeln.

Paterno: Was sich in vielen Gesprächen durchzieht, auch bei den jungen Frauen, die wir als sehr selbstbewusst benannt haben, ist der mangelnde Respekt, den sie für sich und ihre Arbeit erfahren, weil der Theaterbetrieb einfach noch nicht gewöhnt ist, dass Frauen das Sagen haben.

Lisa Lucassen von She She Pop sagt im Buch: "Darauf zu achten, ob alles okay geht und nicht zu sagen 'Hier wird heilige Kunst geschaffen und es ist uns völlig wurscht, wenn da Leute auf dem Zahnfleisch zur Arbeit kriechen', das, würde ich behaupten, ist ein proto-weiblicher Ansatz." Aber hängt die Produktion des Außergewöhnlichen in der Kunst nicht auch mit der Entgrenzung des Alltäglichen zusammen?

Leucht: Widerspricht sich das?

Um Geige wie, sagen wir mal, Anne-Sophie Mutter zu spielen, muss man ein extrem unwirtliches, entbehrungsreiches Leben führen.

Paterno: Ich glaube, hier geht es eher um die männliche Regiegarde der Generation Peymann oder Zadek, also um die Zeit, als man es darauf anlegte, den Schauspieler zu brechen, damit der auf eine gute Rollenführung kommt. Und wir werden nie wissen: Wäre Gert Voss ein ebenso guter oder besserer Richard III. gewesen, wenn es anders abgelaufen wäre?

Leucht: Karin Henkel erzählt, dass sie als 24-jährige Regieassistentin mit dem emotionalen Druck bei Peymann und dem Ton, der am Burgtheater herrschte, gar nicht klar kam, sie musste sich richtiggehend übergeben. Wenn das mit "Entgrenzung des Alltäglichen" gemeint ist, halte ich das für gefährlich. Es muss die Möglichkeit geben, gesund zu bleiben und vielleicht sogar ein Leben neben der Kunst zu führen.

Zwiegespraech c Susanne Hassler Smith HP 094Eine von zwei Theatertreffen-Einladungen fürs Burgtheater 2023: "Zwiegespräch" in der Regie von Rieke Süßkow © Susanne Hassler Smith

Mit der Quote wollte das Theatertreffen einen Anreiz schaffen, Regisseurinnen an Häusern auf zentraleren Spielplanpositionen mit wichtigen Stoffen und herausragenden Spieler*innen zu platzieren. Löst sich diese Absicht ein, proaktiv in die Produktionswelt zu wirken?

Paterno: Im Großen und Ganzen ist die Bewegung natürlich ganz langsam. Subjektiv kann ich fürs Beispiel Burgtheater sagen, dass manche schon ein bisschen erstaunt waren, dass 2023 zwei Inszenierungen von jungen Frauen eingeladen waren und nicht die Inszenierungen des Hausherrn oder eines anderen arrivierten Regisseurs.

Leucht: Das Bewusstsein wächst. Häuser wollen gerne zum Theatertreffen eingeladen werden. Und das hat zur Folge, dass Frauen etwas dominanter in den Spielplänen auftauchen. Das Extrem haben wir jetzt in Frankfurt mit der 100 Prozent Frauenquote auf der großen Bühne, wobei ich es eleganter gefunden hätte, das nicht groß zu verkünden, sondern einfach zu machen. Oder dass eine junge Regisseurin wie Elsa-Sophie Jach am Münchner Residenztheater Hausregisseurin wird. So etwas kommt jetzt verstärkt vor.

Kritiker monieren, dass mit der Quote die kuratorischen und politischen Absichten beim Theatertreffen in den Vordergrund getreten sind. Karin Beier sagt in ihrem Interview: Es ist nicht die Aufgabe der Theatertreffen-Jury, Politik zu machen, und es ist nicht die Aufgabe des Festivals, Gerechtigkeit herzustellen. Ist diese Kritik nachvollziehbar?

Leucht: Ja, ich verstehe das schon. Es gibt auch in unserem Buch einige Vorschläge, doch lieber an anderen Stellen anzusetzen, bei der Ausbildung zum Regieberuf oder an den Häusern, bei den Assistenten und Assistentinnen. Aber dieses Argument "Es darf nur um die Kunst gehen" ist unvollständig. Das ist mir durch die Arbeit an diesem Buch erst richtig klar geworden: Wir sehen ja immer nur die Ergebnisse und nicht, unter welchen Bedingungen sie entstanden sind, wie die Frauen gearbeitet haben, wogegen sie sich behaupten mussten. Da muss sich einfach noch mehr ändern.

 

Status Quote. Theater im Umbruch: Regisseurinnen im Gespräch.
von Sabine Leucht, Petra Paterno, Katrin Ullmann (Hrsgg.)
Henschel Verlag 2023, 223 Seiten, 18 Euro

 

Am 26. Mai 2023 um 17.30 Uhr diskutieren die Herausgeberinnen beim Berliner Theatertreffen mit den Regisseurinnen Mateja Koležnik und Josephine Witt sowie Mitgliedern von She She Pop über die Quote und strukturelle Ungleichheiten am Theater.

mehr debatten

Kommentare  
Interview "Status Quote": Fragen
"Konkrete Namen wurden dann bei der Autorisierung oft rausgestrichen."
Aha - wie oft denn ?
Es gibt eine gewisse Vorsicht im Umgang mit der Thematik."
Soso - warum denn? Und wie lange noch ??
Merkt ihr was?
Interview "Status Quote": Gehälter und Macht
Das ist eine schöne und notwendige Sache, wenn das Bewusstsein für Geschlechtergerechtogkeit wächst.
Und dann?
Interessant wäre noch eine Gehälter und Macht-Debatte. Einige dieser Regisseurinnen (die zu Wort kommen) haben viel Macht und verdienen das 3- bis 4-fache dessen, was andere Kolleg*innen in gleichen Häusern verdienen.
Wer interessiert sich dafür? Was tun?
Buch "Status Quote": Nächster Schritt
#2:
Guter Punkt.
Ein nächster Schritt könnte sein, dass mächtige Regisseure und Regisseurinnen ihre Gehälter transparent machen (inklusive BühnenbildnerInnen!) und dass es Höchstgrenzen bei allen Gehältern gibt, genau so wie Niedrig-Grenzen.
Denn was bringt eine feministische Bewegung, die nur Männereliten durch Fraueneliten ersetzen will?
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