Wunderkammern der Selbstwerdung

15. Februar 2023. Identitätsfragen waren für das Kinder- und Jugendtheater schon immer zentral. Wer bin ich? Wer soll ich sein und wer will ich werden? Queere Themen sind hinzugekommen und zum selbstverständlichen Teil von Erzählungen geworden, die offen und vielfältig sind. Ein Essay zur Reihe "Play Time – Stream und Diskurs Junges Theater".

Von Georg Kasch

"Space Queers" am Jungen Deutschem Theater Berlin © Arno Declair

15. Februar 2023. "Name?" "Zwei, bitte", sagt die junge Frau*, die unruhig auf ihrem Stuhl sitzt. Hastig blättert eine der beiden Beamten-Figuren, die hier offenbar für die Namenszuteilung zuständig sind, in ihrem Kasten, zieht zwei Karteikarten heraus und liest: "OlgaFranz". Ihr Kollege fragt weiter: "Geschlecht?" "Zwei, bitte." "Jungemädchen", konstatiert er und haut mit zwei Stempeln gleichzeitig aufs Formular. Ein wenig kafkaesk wirkt diese Amtsstube schon, die entsprechende Abgründe birgt. Eine Figur erhält gar keinen Namen und ist verzweifelt: "Ohne Namen weiß niemand, dass es mich gibt."

Es ist eine prägnante Szene im Kinderstück "Das Leben macht mir keine Angst" des Jungen Schauspielhauses Düsseldorf, die – ausgehend vom gleichnamigen Gedicht Maya Angelous – sieben Figuren auf eine Reise zu sich selbst schickt. Wenige Themen beschäftigen Kinder mehr als Identitätsfragen: Welche Eigenschaften besitze ich? Was macht mich besonders, was habe ich mit anderen gemeinsam? Welche Erwartungen gibt es an mich – von den Eltern, Großeltern und Geschwistern, von anderen Kindern, den Erzieher:innen, den Lehrer:innen? Kann und will ich sie erfüllen? Zu welcher Gruppe gehöre ich? Und mit wem will ich auf keinen Fall in Verbindung gebracht werden?

Ein Begriff, der an Identitätsfesten rüttelt

Genau hier setzt Kinder- und Jugendtheater an, das sich mit queeren Themen, Motiven, Fragen auseinandersetzt. Queer ist ja weit mehr, als sich hinter dem LGBTQIA+-Abkürzungsstrauß verbirgt, mehr auch als sexuelle, romantische und Gendervielfalt und das Hinterfragen von Heteronormativität. Gerade weil der Begriff definitionsoffen ist, in seiner Geschichte so viele Entwicklungen durchlaufen hat – vom Schimpfwort über die kämpferische Selbstbezeichnung insbesondere mehrfach Marginalisierter bis zum intersektionalen Theorie- und Lebenskonzept –, taugt er auch für Stücke, Inszenierungen und Performances, die eher generell an Identitätsfesten rütteln – wie "Das Leben macht mir keine Angst". Je nach Lesart ist queer zudem eine alle Marginalisierten umarmende Utopie: Jede:r ist willkommen.

PT 4 Leben keine Angst 2 DavidBaltzerSchwimmen können muss, wer im Wasser bestehen will: Jonathan Gyles, Eduard Lind, Fatih Kösoglu, Natalie Hanslik, Noëmi Krausz, Felicia Chin-Malenski in "Das Leben macht mir keine Angst" von Regisseurin Liesbeth Coltof © David Baltzer

Bereits kleine Kinder erleben Anerkennung und Ausgrenzung, beschäftigen sich mit Identitäts- und Genderfragen. Im Kindertheater sind queere Themen und Motive oft eingebettet in eine Erzählung über Mut, Angst, Ich-Findung. Zum Beispiel in Ulrich Hubs "Ein Känguru wie du". Zwei kleine Tiger vermuten, dass ihr Trainer schwul ist, laufen deshalb von ihm weg und freunden sich mit einem boxenden, ziemlich lässigen Känguru an. Der Clou: Das Känguru ist schwul, der Trainer nicht. Deutlich behandelt das Stück Vorurteile und Unwissen einem Schulhofschimpfwort wie schwul gegenüber. In erster Linie aber geht es um Freundschaft, Vertrauen, (Wahl-)Familie. Interessant und aufschlussreich, dass diese Themenvielfalt wiederum keine Rolle spielte, als Eltern 2017 die "Känguru"-Inszenierung des Theaters Baden-Baden boykottierten, um ihre Kinder vor vermeintlich verfrühter Sexualisierung zu bewahren (obwohl Sex im Stück natürlich keine Rolle spielt).

Vom Buch auf die Bühne und darüber hinaus

Apropos Sex: Es liegt nahe, dass lange dominierende Begriffe wie Homo-, Bi- und Transsexualität mit verhindert haben, queere Geschichten als das anzunehmen, was sie sind: Erzählungen von Selbstsuche und Selbstfindung – einfach, weil diese technisch-medizinischen Fachbegriffe mehr nach Geschlechtsverkehr klingen als nach Identität. Heute wünschen sich Lehrkräfte und Erzieher:innen von den Theatern ausdrücklich Themen wie Gender und queere Lebens- und Sichtweisen. Und die Dramatiker:innen liefern. In "im wald (da sind)" erzählt Ruth Johanna Benrath von einer Regenbogenfamilie (hier: Mutter, Mutter, Kind, Kind, Hund), die von den Waldtieren plötzlich als die Eindringlinge und Anderen wahrgenommen werden. In Fayer Kochs "Wir zwei" verliebt sich Tobi in Rudi, was Tobis Tochter nicht so lustig findet, weil sie sich wie das dritte Rad am Wagen fühlt. Sergej Gößner skizziert in "Die fabelhafte Die" eine durch und durch queere Wunderwelt zwischen Zirkus und Jahrmarkt, voller fantastischer Geschichten und Strukturen, die jede Binarität ins Absurde treibt.

Wie jung diese Entwicklung ist, zeigt das Detail, dass queere Stoffe im Kindertheater noch bis vor Kurzem stark aus anderen Medien adaptiert wurden: "Der Katze ist das ganz egal" über ein transidentes Kind war ebenso zuerst ein Bilderbuch wie der moderne Märchenklassiker "König und König". Auch Ulrich Hub veröffentlicht seine Stoffe oft erst als Prosa, bevor er sie zu Bühnenstücken umarbeitet. Vielleicht, weil der Buchkauf eine individuelle Entscheidung ist, von (Groß-)Eltern, (Paten-)Onkeln und Tanten, zuweilen auch von Kindern selbst. Kindertheater aber wird oft als Gruppenereignis organisiert von Kindergärten und Schulen; Erzieher:innen und Lehrer:innen, vor allem aber (vermutete) Elternmehrheiten werden hier zu Zugangs-Gatekeepern – siehe Baden-Baden.

Beitrag zur Entstigmatisierung des Schulhofschimpfworts

Auch im Jugendtheater ist die Explosion queerer Themen und Motive eine relativ junge Entwicklung; auch hier stammten die Erzählungen zunächst aus Roman ("Die Mitte der Welt") und Film ("Fucking Amal", "Blau ist eine warme Farbe", "Boys Don’t Cry"). Eine interessante Ausnahme ist "Beautiful Thing" von Jonathan Harvey, das 1993 in Großbritannien als Theaterstück entstand und 1996 sehr erfolgreich verfilmt wurde. Allerdings wird es erst seit 2008 an deutschsprachigen Bühnen inszeniert – weil ein abendfüllendes Coming-out-Stück kein Hit zu werden versprach? (Es ist vermutlich überflüssig zu erwähnen, dass es in "Beautiful Thing" um Liebe, Klassismus und Rassismus geht – siehe oben). Daneben musste lange Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" von 1891 (!) herhalten, um über die eher unscheinbare Szene zwischen Hänschen und Ernst von jugendlicher Homosexualität zu erzählen – was in Nuran David Calis‘ Adaption von 2007 wesentlich mehr Raum einnimmt.

PT 4 FruehlingsErwachen Dresden 1 Matthias HornNuran David Calis' Bearbeitung von Wedekinds "Frühlings Erwachen", hier mit Sonja Beißwenger, Svenja Wasser und Picco von Groote am Staatsschauspiel Dresden © Matthias Horn

Und dann gibt es noch als weiteren Sonderfall die überaus erfolgreiche Romanadaption von Wolfgang Herrndorfs "Tschick" ab 2011: Das schwule Coming out des coolen, unerschütterlichen Titelhelden, der lässige Umgang des jugendlichen Erzählers in einer Roadnovel, die vor allem von Mut und Freiheit erzählt und der Güte der Welt, hat vermutlich mehr zur Entstigmatisierung des Schulhofschimpfworts beigetragen als aller Bio- und Sozialkundeunterricht.

Von Coming-of-Age-Geschichten zu komplexen Identitätserzählungen

Natürlich gab es auch vor und in den 1990ern und 2000ern queere Figuren und Konstellationen – man denke nur an den berühmten schwulen Kuss in "Linie 1"von 1986. Aber sie waren oft auf Nebenrollen und -handlungen beschränkt. Gender- und Identitätsfragen wurden vor allem anhand von Konflikten um starke Mädchen und empfindsame Jungs verhandelt. Und noch etwas fällt auf: Sie erzählten Coming-out- meist als klassische Coming-of-Age-Geschichten, mit einem Ausgangspunkt, einer Verwirrungs- und einer Klärungsphase. Am Ende war eine Identität gefunden, das Leben konnte beginnen.

Heute hingegen sind Identitätserzählungen oft komplexer, stehen fluide, nicht zu Ende definierte Identitäten im Mittelpunkt, offene Familien- und Lebenskonzepte. Die Botschaft: Es ist okay, wie du bist, auch wenn du selbst noch keine Worte dafür hast und die Begriffe der anderen nicht passen.

Vorreiter war hier die freie Szene mit ihren Projekten irgendwo zwischen Aufklärung und Selbstermächtigung. "You Don’t Own Me" von CHICKS* zum Beispiel queert Geschlechterrollen anhand des an sich konservativen Gesellschaftstanzes, vermittelt Neugier auf eigene Bedürfnisse und Selbstannahme. Pinsker+Bernhardt versammeln in "family creatures" eine Wahlfamilie, die neben den beiden Performerinnen die Zunge, den Hund, den Vorhang, die Big Sis und drei Schwäne umfasst.

PT 4 VirtualSExploration 3 JakobSchleiffLädt ein, achtsam die eigene Sexualität zu erforschen: "Virtual S*Exploration" von Jakob*&Schleiff © Jakob*&Schleiff

Welche Wunderkammern Sexualität, Körper und Identitäten sein können, wenn man achtsam mit sich selbst umgeht, zeigt die digitale Performance "Cybersexhibition” von FEELINGS und Jakob* & Schleiff in der in diesem Fall äußerst sinnvollen Anonymität einer Chat-Plattform. Auch das Nachfolgeprojekt "Virtual S*Exploration" von Jakob* & Schleiff nimmt die Achtsamkeit mit dem eigenen Körper und der eigenen Sexualität in den Blick. Die Projekte wirken dabei als Schnittstelle zwischen ehrlichem Auofklärungsunterricht (in der Schule oft ein Graus), Internet-Kummerkasten und performativen Strategien, um spielerisch, wertungsfrei und ohne Druck Themen zu verhandeln, die sonst schnell im Pubertätsgekicher untergehen – ein Alleinstellungsmerkmal des Jugendtheaters.

Queere Stoffe als Teil größerer Erzählungen

Allerdings haben auch im Jugendtheater die Dramatiker:innen reagiert. Heute wird es schnell unübersichtlich, wenn man versucht, die Stücktitel aufzuzählen, die sich mit Identität, Gender und nichtnormativer Sexualität auseinandersetzen. Till Wiebel entwirft in "Funken" ein Ferienlager voller Nerds und treibt den Wettbewerbsgedanken ins Absurde. Eva Rottmann spielt im Klassenzimmerstück "Paul*" die Frage durch, ob man einen Menschen liebt oder dessen Geschlecht. Silvan Rechsteiner erzählt in "MOSAIK" von Selbstbestimmung und Identität, Anaïs Clerc in "LÜGENHAUT" von trans* Menschen, Magne van den Berg in "Gender" ziemlich lässig und fintenreich von Geschlechterfragen.

Daneben gibt es etliche Stücke wie Sam Steiners "Du blöde Finsternis", das von völlig Anderem handelt (in diesem Fall: Überleben und Optimismus im Zeitalter der Katastrophen), in dem aber eine der vier Figuren mit einem Mann zusammenlebt, Paarkonflikte inklusive. Sogar in der so genannten Provinz ist das Thema angekommen: Gerade zeigt die Expedition Chawwerusch im pfälzischen Herxheim "Livename – ein Stück über Gender und Geschichte" von Frederik Müller.

Was bei vielen Stücken auffällt: Gerade weil sie sich mit zahlreichen anderen Aspekten kindlicher und jugendlicher Identitätssuche überschneiden, zudem mit anderen Gerechtigkeitsfragen von race und class, sind queere Stoffe im Kinder- und Jugendtheater heute nicht mehr automatisch abendfüllend, sondern Teil komplexerer Erzählungen. Paradigmatisch für die Entwicklung steht Stanislava Jevićs "Out There", inszeniert am Jungen Schauspielhaus Hamburg: Dass sich eine:r der beiden jungen Menschen als genderfluid definiert, sorgt in ihrem Annäherungsprozess nur kurz für Irritation. Viel dominierender sind ihr Aktivismus – beide sind bei Fridays for Future aktiv –, Klassenunterschiede (Angelina wohnt beengt im Sozialbau, Leo im noblen Viertel Blankenese), politische Wirkmächtigkeit – und Emotionsregulierungen in Zeiten von Social Media.

Stückentwicklungen und Inszenierungen mit queeren Jugendlichen

Noch näher dran als die Dramatiker:innen an dem, was Jugendliche bewegt, sind die Jugendlichen selbst. Auch hier sind die Stückentwicklungen und Inszenierungen mit queeren Motiven exponentiell gestiegen. Sichtbar wird das etwa in den Inszenierungen Suna Gürlers. In "Stören", einer Koproduktion vom Jungen Theater Basel mit dem Berliner Gorki Theater 2016, powerten die sechs jugendlichen Darsteller:innen ihre Texte frontal ins Parkett, verhandelten, was es bedeutet, im strukturellen Patriarchat Frau zu sein. Aber gerade, wenn die "Wir Frauen, Ihr Männer"-Gewissheit unterkomplex zu wirken beginnt, wirft die Geschichte von Transmensch Chantal die binären Gewissheiten über den Haufen, ohne die männliche Gewalt zu schmälern. Auch jüngere Gürler-Abende wie "Bullestress" in Zürich erzählen von queerfeministischem Empowerment jenseits von Geschlechterstereotypen.
Das könnte daran liegen, dass insbesondere großstädtisch geprägte Jugendliche sich heute früher und bewusster mit Genderidentitäten auseinandersetzen, im Netz umfangreicher an Informationen kommen, einfacher Gesprächspartner:innen und Gleichgesinnte finden.

PT 4 Gorki Stoeren 2 UteLangkafelStarke junge Frauen* zeigt Suna Gürler und Ensemble in "Stören", hier Zeina Nassar © Ute Langkafel

Für den Austausch vor Ort bieten sich Theater als Safe Spaces an. An der Schwankhalle Bremen erarbeiten gerade queere Jugendliche den Abend "Friends of Dorothy" nach Motiven aus "The Wizard of Oz". Im Projekt "Queertowns" trafen sich im Frühjahr 2022 eine Woche lang junge Menschen an Theatern in Essen, Dresden, Leipzig und Stuttgart, um gemeinsam Filme, eine Radio- und eine Maskenshow zu entwickeln. Die Junge Residenz der Ruhrtriennale suchte im vergangenen Jahr nach Jugendlichen mit queeren Visionen. Und am Jungen DT entsteht in diesen Wochen "Space Queers" von Paul Spittler und acht Jugendlichen.

Noch immer als Safe Space wichtig

Und nun? Wachstum ohne Ende? Queere Lebens- und Identitätsfeier allerorten? Perlenketten, Bart und they-Pronomen für alle? Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Denn die Heteronormativität, wiewohl in Rückzugsgefechten verstrickt, ist so stark, dass ein Verstoß gegen sie immer noch Kraft und eine bewusste Handlung erfordert, wie Mike Laufenberg in "Queere Theorien" schreibt. Noch immer werden Menschen auch im deutschsprachigen Raum körperlich angegriffen und ermordet, wenn sie als nicht-heteronormativ identifiziert werden. Noch immer sind es ausschließlich queere Menschen, die sich einem Coming-Out-Prozess unterziehen müssen. Hinzu kommt: Alle Rechte, die queere Menschen mittlerweile besitzen oder um die sie aktuell noch kämpfen (wie das Selbstbestimmungsgesetz für trans- und intergeschlechtliche Menschen), werden von einer Mehrheitsgesellschaft gewährt, die diese Rechte auch jederzeit wieder entziehen kann.

Deshalb ist das Kinder- und Jugendtheater auch weiterhin wichtig als Safe Space, Selbstverständigungs-, Lern- und Diskussionsort. Damit Identitätsfragen irgendwann spielerische Angebote sind aus einer unendlichen, individuell wählbaren Farbpalette – und nicht mehr politische Schlachtfelder.

Der Autor dankt Katrin Maiwald und Nikola Schellmann für die wertvollen Anregungen.

GeorgKasch ThomasAurin smGeorg Kasch ist Redakteur bei nachtkritik.de Er schreibt für Tageszeitungen und Magazine, lehrt an Hochschulen und leitet kulturjournalistische Nachwuchsprojekte. Als Kulturjournalist war er Mitglied diverser Jurys, darunter der des Berliner Theatertreffens. In seiner Kolumne "Queer Royal" blickt er jenseits heteronormativer Grenzen auf Theater und Welt.

 

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