Don't make Femicide sexy again!

25. Oktober 2021. Den Sündenbock als Opfer, um die Gemeinschaft zusammenzuschweißen, hat der Philosoph René Girard beschrieben. Aber welche Rolle der Frauenmord spielt, bei der Befestigung des Patriarchats auf der Theaterbühne? Eine Analyse.

Von Jorinde Minna Markert

© Louise Mushet

25. Oktober 2021. "Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord. So schön, als man ihn nur verlangen tun kann", spricht das Schlusswort von "Woyzeck" ein selten feingeistiger Polizist in Betrachtung der toten Marie. Im Duktus des kanonischen Kunstkenners bewundert er, was vor ihm liegt: ein Mord, der die ikonografische Checkliste abhakt. Die Getötete: jung, weiblich gelesen. Die Lippen: rot. Der Tatort: das Ufer eines Gewässers. Die Art der Tötung: Messerstiche. Das Motiv: Eifersucht, Promiskuität.

Als Konsumentin einer Kultur, die Where the wild roses grow, Laura Palmer, Ophelia und Schneewittchen hervorgebracht hat, wundert man sich kaum über die Behauptung eines "schönen Mordes". Wenn kanonische Kunstwerke nicht dermaßen unverblümt ihrem nekrophil-ästhetischen Fetisch ausleben würden, würde man sich und den "Woyzeck"-Beamten vielleicht fragen: Moment mal, es ist also nicht jeder Mord per se unschön? Aha, und was wäre dann bitte ein hässlicher Mord?!

Edgar Allen Poes Leichenschmaus

Edgar Allen Poe hat eine ganze Theorie zu der Verwertbarkeit der "toten Frau" verfasst. Er proklamiert in "Die Philosophie der Komposition" der Tod einer schönen Frau sei ohne Zweifel das poetischste Thema der Welt. Denn in diesem Motiv würden sich Melancholie und Schönheit verbinden – das erzeuge die größte poetische Spannung. Am geeignetsten dazu, diese Spannung in Kunst zu verwerten, sei der Liebhaber und Betrachter der "schönen Toten". Anders gesagt: Das weibliche Subjekt stirbt, damit der Kunstproduzent seine Emotionen anzapfen kann.

Femizid 7 c Louise Mushet© Louise Mushet

Der Vorstellung, dass am besten über die Sterblichkeit des weiblich gelesenen Individuums ihr cis-männlicher Betrachter berichten kann – nicht etwa sie selbst – liegen binäre Konzepte von Muse und Kunstproduzent, Subjekt und Objekt, aktiver, geistesorientierter Männlichkeit und passiver, rein verkörperlichter Weiblichkeit zu Grunde. Behauptet wird eine Grammatik des Blicks, in dem der Einbahn-Akt des Blickens ein Subjekt und ein Objekt konstituieren muss – Ich sehe Dich. Dieser Satz ist die Grundformel des Male Gaze, des männlichen Blicks, der sich als universell ausgibt. In dieser Formel bleiben die mannigfach kanonisch reproduzierten "schönen Toten", von Poeten wie Poe zum Motiv erklärt, das "Du", das ewig Andere, das Betrachtete.

Der doppelte Tod der Frau

Die Literaturwissenschaftlerin Elisbath Bronfen sieht den Tod der "schönen Frau" bereits weit vor ihrem Ableben eintreten – ab dem Moment, wo sie zur verkörperten Passivität gemacht wird. In ihrer Publikation "Die schöne Leiche – Weiblicher Tod als motivische Konstante von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die Moderne" sammelt und versammelt Bronfen die "hübschen Toten" und diagnostiziert ihren "doppelten Tod" – da sie schon vorm biologischen Sterben eine Verdinglichung erfahren. Die "schöne Frau" ist leblos, bevor sie stirbt: "Ihre Hinrichtung ist letztendlich nur die Erfüllung der von Beginn an gesetzten Zeichen ihres Verhängnisses. Es zeigt sich: In dieser Art von Texten ist die Darstellung des weiblichen Todes auch in dem Sinne ein Pleonasmus, als er, ob erduldet oder gesucht, nur eine verdeutlichende Potenzierung ihres eigentlichen bzw. von Anfang an zugewiesenen Zustandes ist, oder anders gesagt, der Tod erweist sich als ihre Apotheose." Und weiter: "Dieser symbolische Tod vor dem Tode äußert sich nicht zuletzt auch darin, dass in Texten des 19. Jahrhunderts die Dinghaftigkeit von Frauen betont thematisiert wird, wobei auch hier die Grenze, ob darin eine Kritik an dem herrschenden Zustand oder eine Apologie dieses Zustandes bewirkt wird, nicht eindeutig zu ziehen ist."

Der "tragische" Täter

Im bürgerlichen Trauerspiel schließen die Apologetik des Täters und die große Gesellschaftsanklage sogar Kompliz:innenschaft. Dramen wie "Maria Magdalena", "Emilia Galotti" und "Kabale und Liebe" servieren die tragischen Konsequenzen der Repressionen und Willkür des Adels gegenüber dem gemeinen Bürger:innentum und der geltenden Moral. Die "schöne Frau" als Totalverkörperung von passiver Unschuld ist hier der Gegenstand, anhand dessen sich im Kontrast die Verkommenheit der Machthabenden besonders gut demonstrieren lässt.

Weinend über die "hübsche Leiche" gebeugt, kann der männliche Akteur seine Weltanklage proklamieren. Selbst wenn er die Tötung zu verantworten hat, erlaubt das Framing die Interpretation seiner selbst als Opfer tragischer Umstände. Er ist nicht Angeklagter sondern Ankläger der Schlechtigkeit, die ihn dazu gebracht hat, es zu tun. Femizidiale Plots enden mit den Tränen des Täters, der Sympathieträger und Identifikationsfigur bleiben soll. Schließlich hat er es aus Liebe und Leidenschaft getan … oder nicht?

femizid 3 c 1© Paul Hocksenar

"Allzu oft werden Femizide als spontan interpretiert, als sogenanntes Verbrechen aus Leidenschaft. Meine Forschung hat das Gegenteil gezeigt: In der Mehrzahl der Fälle wurde mit erheblichem Aufwand reflektiert, geplant und entschlossen gehandelt", resümiert Kriminologin Jane Monckton Smith im Interview mit dem Spiegel und zeigt damit auf, dass dieses Entlastungs-Narrativ keineswegs mit Schiller & Co. gestorben ist.

Dabei stehen die staatlich subventionierten Kulturstätten in nichts der Bild-Zeitung darin nach, den Mythos des "Dramas aus Leidenschaft" weiter zu verwerten. Ein:e Zuschauer:in des Sommertheaters "Kabale und Liebe" in Kiel beobachtet und beschreibt in einer Leser:innenkritik hier im nachtkritik-Forum: "Was in Schillers‘ Stück und auch in der aktuellen Inszenierung geschieht, ist eine Romantisierung dieser Gewalttaten. Ja, es ist eine Tragödie, aber vor allem für Ferdinand – den Mörder. Ein Mann, der seine "Geliebte" aus Eifersucht tötet, weil sie nicht seinem Bild von Reinheit und Keuschheit entspricht. Ein Mann, der bereit ist alles zu opfern, damit "seine Luise" niemandem außer ihm selbst gehört. Das ist keine Liebe. Das ist keine Romantik. Ferdinand ist nicht Opfer tragischer Umstände, sondern kaltblütiger Täter."

Parfümierte Gewalt

Die Ästhetisierung misogyner Gewalt macht sich nicht nur am wortwörtlichen Gegenstand des schönen, toten, weiblich gelesenen Körpers fest – eine Ästhetisierung, ja Verkitschung, ja Versüßung bis zum Würgereiz erfolgt auch, indem unsexy strukturelle Bedingungen mit großen Emotionen parfümiert werden. Man liest in den Programmheften nichts von Kabalen und toxischer Männlichkeit, von Othellos gekränktem Narzissmus oder von Don Josés piefigstem Erzkonservatismus, der Carmen das Leben kostet. Stattdessen erzählt die Semperoper Dresden mit viel Einfühlungsvermögen für den Täter in ihrem "Carmen"-Programmheft folgende flauschige Geschichte: "Carmens Freiheitsdrang und ihre Lust auf Leben und Liebe sind zu viel für den Soldaten aus Nordspanien." – "Während Escamillo in der Stierkampfarena ein Tier zu Tode bringt, tötet José die Frau, die er liebt." Und auch die Oper Frankfurt sieht eine gewisse Logik darin, dass eine dermaßen lebendige Frau es nicht lange bleiben kann: "Carmen stellt Josés Leben auf den Kopf, sie tanzt, singt und setzt sich über viele Widrigkeiten hinweg, bis sie erstochen am Boden liegt."

Impliziert wird eine Opfertypologie statt einer Tätertypologie – es trifft gerade diese Frau, weil sie besonderes Provokationspotential bietet. Für ein "typisches Opfer" gibt es in der kriminologischen Forschung keinen Beleg – die Muster finden sich bei den Tätern.

femizid 4 c © Paul Hocksenar

Kitschige Programmheftprosa über die "lebenshungrige" Carmen und Schlagzeilen wie "Drama aus Leidenschaft" und "wenn Liebe gefährlich wird" haben bei aller Blödheit reale juristische Auswirkungen. Im Fall einer im Affekt verübten Tat werden weniger "niedere Beweggründe" geltend gemacht – was die Schwere der Tat und Strafe mindert. Das Narrativ der "Tat aus Liebe" und der "Tat aus Leidenschaft" schützt de facto Gewalttäter, die sich bei vollem Geistesbewusstsein für die Auslöschung eines Individuums entschieden haben.

Aber so will man Ferdinand, Don José und Co. nicht sehen. Das ist nicht die Story, die eine täterzentrierte Gesellschaft konsumieren will – das ist kein schöner Mord.

"Wieso ist sie bei ihm geblieben?"

Es ist bemerkenswert wie wenig Komplexität bei der endlosen Reproduktion von Bildern der Gewalt gegen weiblich gelesene Personen vermittelt wird. Ein wichtigen und meist unsichtbaren Aspekt abusiver Beziehungen beschreibt der Podcast des Bayrischen Rundfunks Femizide - Und wieso die Popkultur Komplizin ist. "Wieso ist sie bei ihm geblieben?" – diese implizit vorwurfsvolle Frage wird hier entlarvt. Denn sie geht einher mit der Darstellung der von Gewalt Betroffenen als apathisch, gelähmt und unfähig, sich aus der Situation zu befreien.

Dabei wissen Frauen, die in gewalttätigen Beziehungen (über-)leben, genau um die Gefahr, die der gefühlte Kontrollverlust des Täters durch die Beendigung der Beziehung für sie und möglicherweise andere Bezugspersonen wie die eigenen Kinder bedeutet (Intimizide werden auch an "Ersatzopfern" ausagiert). Die Phase unmittelbar nach der Trennung ist die gefährlichste – hier kommt es am häufigsten zur Tötung. Die von Gewalt Betroffene rettet sich mit jeder Minute, die sie es in der Beziehung aushält. Das ist permanente Schwerstarbeit.

"Woyzeck" neu gelesen

Die Inszenierung "Woyzeck Interrupted" am Deutschen Theater Berlin leistet hier ihren Beitrag zur Sichtbarmachung der vernachlässigten Perspektive von Betroffenen wie Marie. Neben der realen Gefahr für Leib und Seele zeigt sie noch einen Grund dafür, "warum sie bei ihm geblieben ist": ökonomischer Zwang.

woyzeck interrupted arno declair"Woyzeck Interrupted" am Deutschen Theater Berlin, auf dem Bild: Lorena Handschin und Enno Trebs © Arno DeclairMahin Sadri und Amir Reza Koohestani arbeiten in ihrer Neufassung des Büchner-Stoffs mit Tondokumenten, die von realen Gewaltverbrechen der Gegenwart berichten. Dass der Stoff, der sonst gerne mit den Stückzitat "Jeder Mensch ist ein Abgrund" übertitelt wird, hier mit anderen sexistischen Gewalttaten eingereiht und als Femizid benannt wird, ist eine neue Rahmung. Mit dem Begriff "Femizid" wird der sexistische, patriarchale Kontext hergestellt. Das ist ein ganz anderes Framing als "der Abgrund", der zu Assoziationen von Naturgeschaffenem und Ewig-Steinernem einlädt, gewaltiger Tiefe, peitschendem Wind an rauen Klippen – don‘t make femicide great again! Und auch dass dieser Abgrund – der eigentlich ganz im Gegenteil etwas unfassbar Flaches, Piefigmiefiges ist – in jedem Mensch lauern soll, ist im Kontext intimpartnerschaftlicher Gewalt eine unbrauchbare Aussage. Möglicherweise ist jeder Mensch ein Abgrund, eine Grube, ein Baggersee – das liefert aber keine Erklärung für die Ursachen sexistischer Gewalt, sondern lenkt sogar von ihnen ab. "Wir sind doch alle ein Abgrund" – nein, sind wird nicht. Diese Gewalt ist gegendert.

Gefangen im Lockdown

Was genau wird in "Woyzeck interrupted" denn unterbrochen? Zunächst mal die globalisierte Weltgeschwindigkeit – Dramatikerin Mahin Sadri und der Regisseur Amir Reza Koohestani versetzen den Stoff in den Lockdown und ins Metatheater: Marie ist hier Hospitantin und lernt den Schauspieler Franz bei Proben zu "Woyzeck" kennen. Die beiden werden ein Paar und Marie zieht schnell in Franz' steriler Bude ein, will sich nach einigen Monate aber wieder trennen – dann wird der erste Lockdown verhängt und versetzt die unglückliche Zweck-WG umso mehr in den Zustand der Zwangsintimität. Marie findet keine Wohnung und sich stattdessen in strangen Pärchen-Reenactments wieder: Netflixend mit Franz auf der Couch oder zum gegenseitigen Haareschneiden in der Küche.

Die scheinbar relaxten Szenen stehen unter Hochspannung. Es wird klar, dass in der Beziehung Übergriffe stattgefunden haben. In einem Videocall mit einer Vertrauten äußert Marie mit gesenkter Stimme und Franz im Nebenzimmer, dass sie Angst vor ihrem Ex-Partner hat. Lorena Handschin verdeutlicht mit ihrer Darstellung der Marie, wie die Bedrohte als Bewältigungsstrategie die Gefahr durch den Ex-Partner immer wieder für sich herabspielt – es scheint erträglicher, sich selbst Paranoia zu unterstellen als dem Partner Gewalttätigkeit.

Mit "Woyzeck interrupted" soll nicht nur einen Einzelfall, sondern auch ein Muster aufgezeigt werden, informiert der Programmtext – "nicht um es zu reproduzieren, sondern um es zu unterbrechen."

Alternative Enden

Man kann von einer Theaterproduktion nicht erwarten, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie femizidiale Muster effektiv zu unterbrechen sind. Dramaturgisch schafft der Abend die Unterbrechung indem er dem Ende – Franz schubst Marie von der Dachterrasse – noch ein zweites, alternatives Ende anfügt. In diesem zweiten Ende verweigert Marie die Zigarette, mit der Franz sie aufs Dach zitieren will. Während sie in Version eins ängstlich und widerstrebend in die fatale Zigarette einwilligt, verneint sie in Version zwei mit fester Stimme, packt ihre Taschen und geht. Die Botschaft, die sich daraus ableiten ließe, schiebt wieder ihr die Verantwortung zu: Sie hätte halt nicht mit aufs Dach gehen sollen. Sie hätte halt mal selbstbewusst Nein sagen müssen.

Allerdings hört man in Version zwei einige lange Sekunden nachdem Marie das Haus verlässt ein Geräusch: Knall. Der Haustürknall, der die Beziehung besiegelt oder ist es ein Schuss, den Franz auf Marie abfeuert?

femizid 5 c 0AP.O. Arnäs0A© P.O. Arnäs

Der Knall eines Schusses würde uns sicher mit keinem Happy End entlassen, aber den Tatsachen gerechter werden – dass es bei der Frage nach den Ursachen des Femizids vollkommen egal ist, wie selbstbewusst und bestimmt Marie eine Zigarette abgelehnt hat – der Täter trägt die Verantwortung für die Tat, nicht die Betroffene. Und Kanonkunst, die sexistische Gewalt erotisch und romantisch framed, kann sich gerne mitverantwortlich fühlen.

Unterbrecht Eure Narrative!

Eine tatsächliche Interruption der Gefährdungssituation muss juristisch passieren, während das Theater seine Kompliz:innenschaft mit sexistischer Gewalt aufkündigen kann, indem es seine Narrative interrupted. Das beginnt zum Beispiel bei der Benennung von Femiziden als das, was sie sind – keinesfalls geframed als tragische "Liebesdramen", die zur Identifikation mit dem ach so gewaltig liebenden Täter einladen. An Liebe stirbt man nicht, man stirbt am Patriarchat. Statt der Fassaden-Modernisierung eines Stoffs, der mit digitalen Gadgets und Gegenwartspop beglitzert wird, braucht das historische Gerüst einen Abriss. Nicht nur aus politischen Gründen. Die "Ich sehe Dich"-Konstellation, in der ein Kunstproduzent sich im Akt des Schöpfens seine Anwesenheit beweist, während die schöne Muse stumm posierend ihren apotheotischen, zweiten Tod erwartet, ist auch ästhetisch kaum reizvoller als der Moder in einer jahrhundertelang nicht gelüfteten Kulturstätte.

In der Grammatik des Female Gaze heißt das: Ich sehe Dich Mich sehen. Du siehst Mich Dich sehen. "Woyzeck interrupted" macht einen Anfang, indem es Maries Sicht sichtbar macht. Hoffentlich folgen "Emilia – Stalking interrupted", "Kabale und toxische Männlichkeit" und "Fräulein Julie glücklich am Comer See – hasst Männer immer noch".

Und ach ja, Edgar Allen, in der griechischen Antike war die Muse kein Motiv, sondern Urheberin der Kunst – der Dichter war lediglich ihr Sprachrohr, ihr Medium, ihr Laptop. Dass man sie zum stummen Modell gemacht hat war irgendwie ein kunsthistorischer Irrtum, der sich jetzt lange genug gehalten hat. Und das ist doch für einen Dichter unbestreitbar das poetischste Motiv der Welt: Der leere Platz, von dem die Muse sich erhoben hat.

 

Markert JorindeJorinde Minna Markert schreibt fürs und spielte Theater. Dabei verkörperte sie mal eine Zeitmaschine - nie aber eine tote Frau. Aktuell studiert sie in Leipzig "Literarisches Schreiben" und performt spoken word Texte zu systematisch-kaputten Band-Pop. Sie ist Redakteurin von nachtkritik.de

 

 

mehr debatten

Kommentare  
Femizide: Hinweis
Vielleicht interessant in diesem Zusammenhang: Die Initiative "Kill the TRAUERspiel", die sich u.a. mit folgenden Fragen auseinandersetzt:

Wer ist auf den Bühnen repräsentiert? Welche genderspezifischen Herausforderungen entstehen durch die Pflege des klassischen Kanons? Wie wirken sich daraus resultierende Rollenverteilungen auf Berufsverläufe aus? Welche Darstellungsweisen und Stereotype sind dominant?
https://www.killthetrauerspiel.com/
Femizide: lösungsorientiert
Falls man als Mann lösungsorientiert denkt, ist die Sache doch an sich ganz einfach: Man geht allen Maries, Luises und Carmens aus dem Weg und meidet sie. Stattdessen sucht man sich echte Partnerinnen, die einen nicht nur als Projektionsfläche missbrauchen, sondern vielmehr als Mensch erkennen. Das ist die sicherste Prävention gegen Gewalt. Falls sich an dieser Konstellation etwas zum Negativen ändert, geht man einfach und nimmt seine Kinder mit oder einigt sich rechtzeitig. Man geht einfach konsequent Frauen aus dem Weg, die einen in Sprache, Verhalten und Denkungsart in eine Gewaltecke abdrängen wollen und fordern, dass man ihre Ängste in einem männlichen Rollenklischee koproduziert.
Femizide: Woyzeck interrupted
Es gehört schon einiges dazu, ausgerechnet aus dem Woyzeck eine Femizid-Geschichte zu machen. Ja, es wird eine Frau ermordet. Ja, von einem Mann. Bloß dass die ungeheure Zumutung Büchners doch gerade ist, den Täter als Opfer zu verstehen. Nicht, um den Mord zu rechtfertigen, sondern um uns zu vergegenwärtigen, wohin die Gesellschaft ihre Opfer führt. Büchners Lebensfrage "Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?" wird hier auf die Bühne gestellt. Übergriffe? Wo ist denn Woyzeck Marie gegenüber übergriffig? Er leidet doch wie ein Vieh an seiner Liebe zu ihr, in den Wahnsinn getrieben von medizinischen Versuchen, die er ihretwegen duldet.
Ich kenne die Berliner Inszenierung nicht, aber ich fürchte Schlimmes.
Femizide: Begriffsklärung
#3 Lieber Peter Brunner, ein Femizid ist die Tötung einer Person auf Grund von deren gelesener Weiblichkeit. Wieso richtet sich Woyzecks Wahn nicht gegen den Tambourmajor, den Barbier, den Söldnerkollegen, einen Köter? Wieso ausgerechnet gegen seine Partnerin?
Weil das die naheliegendste Adresse für Aggressions-Abreaktion ist. Ihre sexuelle "Untreue" ist der Trigger, nachdem ihn zahlreiche männlich gelesene Personen gedemütigt haben.
Was soll daran kein Femizid sein, also eine Tötung der Frau WEIL sie die Frau und Partnerin ist? "Er leidet doch wie ein Vieh an seiner Liebe zu ihr" --> Das ist patriarchales Erklärmuster par excellence.
Was glauben sie denn - dass die erdolche Partnerin etwa weniger an dieser "Liebe" zu leiden hat?
Femizide: aha
#2 Und, lieber Herr Baucks, finden Sie, dass Sie Ihrer eigenen Handlungsanweisung hiermit gefolgt sind? Ich finde nicht. Ich fürchte, ich koproduziere grade in allerproduktivster Art männliche Rollenklischées auf Sie... Sie machen es mir aber auch leider sehr einfach.
Femizide: weibliche Übergriffe
@5

Doch, doch! Exakt genauso habe ich es gemacht und danach das Kind alleine erzogen, mit einem wohl geordnetem Besuchsrecht, was mich natürlich nur bedingt vor weiblichen Übergriffen schützte.
Femizide: messianische Frauenwahrheit
Ein hässlicher Mord ist einer, der keine Beziehungstat ist, also nicht von der Fantasie der Überlebenden nicht verkitscht werden kann. - Ich nehme an, Polizisten wissen das schon seit sie ermordete auffinden.

Das Wort "Narrative" hängt mir zum Halse heraus. Eine Geschichte ist eine Beschreibung von einem Handlungsablauf und ein Narrativ ist einfach nur eine Krücke von Ideologie. Das erste ist immer ein Versuch von Erzählen, das zweite ein Versuch eine Deutung von Historie machtvoll durchzudrücken.

Das ist alles ganz großartig - so rein dramaturgisch. Mir möchten ja schon lange den Büchner oder den Schiller bestrafen für ihr Frauenbild, das über ihre Verleger und das Theater und die Dramamturgien usw. bis auf uns Heutige gekommen ist - Mir könntns aber auch RIP lassen, weil wir halt bedenken könnten, in was für einer Zeit die gelebt haben und worin in IHRER Zeit ihre Leistung des Änderns von Narrativen bestanden hat - Könn mir aber nich, nich - mir sind so so so so gut und viel viel viel wertvoller als Büchner oder Schiller oder werweißwernochgotthabihnselig, und auch so viel solidarischer un so un dafür tun wir das Theater brauchen, um diese wundervolle messianische Frauenwahrheit zu verbreiten und sei es auf den Knochen von dem von seinen damaligen politischen Verhältnissen gehetzten Büchner... Un der Herr baucks macht es den schlauen, lustvoll promiskuin leben wollenden Frauen auch so unverschämt unverschämterweise so einfach, männliche Rollenklischees k.o. zu produzieren (...)
Das Theater darf mich anrufen, wenn es mal wieder ne (Zwangs)Handlung abhandeln will statt Ideen zu bebildern - es ist mir dann auch Stulle, ob als Männlein, Weiblein oder Divers anruft -
Tote Frau ist m.E. übrigens ein ebenso lustiges Spiel wie Toter Mann -

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Anm. der Redaktion: Teile dieses Kommentars entsprachen nicht unserem Kommentarkodex, nachzulesen hier: https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12&Itemid=102. Wir haben den Kommentar daher in gekürzter Form veröffentlicht.
Femizide: Moral?
Wenn Theater die Realität spiegeln soll, dann müsste es auch die Gewalt gegen Frauen spiegeln. Hier geht aber die Moral vor: Der Gewaltakt wird nicht als ein ästhetischer Vorgang wahrgenommen, sondern als realer Akt.
Ich habe Kinder in Neukölln beobachtet, die nie zuvor Theater gesehen hatten. Andere Kinder spielten ihnen ein Stück vor, in dem ein Mädchen gemobbt wurde. Am Ende war das theaterunerfahrene Publikum nicht bereit zu applaudieren, das kannten sie auch gar nicht, aber sie zeigten sich sogar aggressiv gegenüber den Schauspielern, die in den Rollen gemobbt hatten.
So ähnlich erscheint mir die Moralisierung von Woyzecks Mord.
Ist die interessantere Frage nicht die, ob die weiblichen Figuren stark gezeichnet sind, vielschichtig, ergreifend? Ob die Handlung des Mords überzeugend dargestellt ist? Bei Büchner als eine paradoxe Tat: unlogisch und dennoch einleuchtend. Ein seltenes Meisterstück.
Der feministische Ansatz, der so wichtig ist und jetzt vieles beleuchtet, ist in so einer Kunstkritik nicht auf der Höhe seiner Möglichkeiten.
Femizide: grob fahrlässig
Lieber Rolf,

grundsätzlich ist es hoch problematisch auf der Bühne dargestellte Morde mit echten Morden gleichzustellen und sie vergleichend zu betrachten, denn ein gespielter Mord kann immer nur ein Produkt der Phantasie sein. Kaum ein schauspielender Mensch war wohl je Zeuge/Zeugin eines Mordes und reproduziert sozusagen aus erster Hand. Auch Büchner war nur nah dran an einer Berichterstattung, nicht aber anwesend am Tatort. Der Denkfehler Woyzeck betreffend beginnt schon damit, dass die Autorin als Motiv Eifersucht und Promiskuität unterstellt. Woyzeck hingegen hört Stimmen, er ist gesundheitlich in einem miserablen Zustand, die ihm sagen, er solle Marie töten. Es ist wahrscheinlich, dass er einen psychotischen Schub hat, der von seiner extrem unterdrückten Lage herrühren könnte. Er ist ja kein Held, niemand der handelt, sondern jemand der behandelt wird, der klassische Antiheld also. Ob er auch schizophrene ist, man kann es nur vermuten. Ihn als Täter im gleichen Atemzug mit Ferdinand zu nennen, ist grob fahrlässig. Heute würde ein Woyzeck wohl in der Psychiatrie und nicht im Gefängnis landen, darf man annehmen. Auch ist die Haltung einer Nebenfigur zu dem Mord an Marie eher als Kritik Büchners am Voyeurismus zu lesen und kann nicht mit der Sicht aller ZuschauerInnen gleichgesetzt werden, die den Mord wohl größtenteils als das empfinden, was er ist, eine grauenhafte Tat, die keine Lust in einem weckt, auf was auch immer. Zudem sind die Milieus auch grundverschieden. Spielt die Kabale im bürgerlichen und adligen Bereich, so ist Woyzeck bei den untersten Schichten in Konfrontation mit dem Militär angesiedelt. Woyzeck ist ein nicht ausformuliertes Fragment, Kabale hingegen ein fünf Akte dauerndes und durchkomponiertes bürgerliches Trauerspiel. Gerne wird hier auch vergessen, dass am Ende der Kabale zwei Leichen auf der Bühne zu finden sind und eine durch Selbstmord zu Tode kam. Dieser Selbstmörder Ferdinand befinden sich eben so in einem extremen Kampf gegen seinen Vater, den Präsidenten und er zieht Luise in den eigenen Selbstmord mit hinein. Ganz ausgeblendet wird, dass kurz zuvor der Vater Luise einen Selbstmord erst ausreden muss. Im Vordergrund der Handlung steht eigentlich eine Kabale, die dieses Liebespaar völlig zerreibt, so es denn überhaupt ein Paar ist und nicht einfach nur gegenseitige Projektionsflächen. Allgemein wurden Mord und Selbstmord in diesem Stück als schockierend empfunden, es kam sogar zu Ohnmächten im Zuschauerraum. Im übertragenen Sinne starben beide auf der Bühne, um das Bürgertum zu einem Selbstbewusstsein zu ermächtigen, das ihnen letztendlich ermöglichte die Regierungsgeschäfte zu übernehmen und den adligen Patriarchen bloß zustellen. Einen Lustmord, den man voyeuristisch genießen kann sehen wir hier eigentlich nicht. So wie man auch sagen kann, dass die Mehrheit des Publikums auch Carmen lieber weiter lebendig sehen würden. Hier handelt es sich jedoch um eine Oper, die wiederum ganz anders funktioniert. Ob man Fragment, bürgerliches Trauerspiel und Oper und ihre Figuren in diesen drei Fällen so einfach auf eine Schnur ziehen kann, man darf das bezweifeln und es gelingt einem wahrscheinlich nur, falls man im als Mann gelesen Körper lediglich ein Sprachrohr, Ein Medium, ein Laptop erkennen möchte und keinen voll funktionierenden Menschen.
Femizide: gegen tradierte Lesarten
Markerts und Baucks Texte ergänzen sich mehr, als sie sich widersprechen. Um eine Jahrhunderte währende Lesart der Frau ändern zu können, bedarf es sicher auch einer gewissen Polemik.
Auch ich habe bei der Lektüre von Programmheften, Schauspielführern und Opernführern häufig darüber gestaunt, wie deutlich der stets männliche Verfasser über weibliche Bühnenschicksale urteilte: nämlich genau in der Art, wie es Markert und Bronfen beschreiben. Das wiederholte sich ähnlich auch in einer Biografie über Billie Holiday, die natürlich selbst an ihrem Drogentod schuld war und so „weiter. In den frühen achtziger Jahren lieferte Christine Brückner mit ihren gegen Monologen (Wenn du geredet hättest, Desdemona, 1983) kluge und geistreiche Gegenrede zu den männlichen narrativen/Monologen/Ideen über das schweigende weibliche Opfer der Literatur und Theatergeschichte.
Dass polemische Texte auf der aktuell-modischen Begriffsklaviatur spielen (Identitäten lesen, Narrative, gendern, und so weiter) mag vielleicht etwas anstrengen. Die Zielrichtung ist aber richtig, und es kann nicht schaden die über Jahrhunderte tradierten Lesarten männlicher Prägung zu hinterfragen und aufzubrechen.
Femizide: therapieren oder historisieren
Liebe Carina,

ehrlich gesagt: Nein. - Wenn ich heute Marie spielen würde, würde ich Woyzeck sagen: Such dir einen anderen Arzt und gib mir nicht ständig deinen ganzen Sold, das steht mir nicht zu. Außerdem weiß ich gar nicht so genau, ob das Kind von dir ist. Und eigentlich finde ich Männer gut, die Haare wie ein Löwe haben und über der Brust aussehen wie ein Rind. Geh vor den Spiegel und schau dich an. Du bist einfach nicht mein Typ.

Drama Ende. Eventuell.

Als Luise würde ich sagen: Such dir einfach einen neuen Musiklehrer und eine Frau, die deinem Stand wirtschaftlich und sozial entspricht. Das mit uns hat so keine Zukunft. No more Drama in my life.

Eigentlich halte ich Luise für unspielbar.

Und selbstverständlich gibt es rückständige Theater in denen Dramaturginnen und Dramaturgen immer noch gerne Rollenklischees bedienen. Aber auch die Autorin hier arbeitet sich doch nur daran ab. Dabei bemüht sie ein Männerbild, das mir so fern ist, dass es mich nicht einmal richtig ärgern kann. Die Theater sind momentan so oder so leer. Wen kümmert es? Wo ist die wirklich neue Perspektive? Ein bisschen Wut über missratene Programmhefte und falsche Wahrnehmungen sind noch kein neuer Weg. Die ganzen klassischen Figuren kann man doch eigentlich nur wegberaten oder sie in ihrem historischen Kontext erzählen. Doch wozu? Es gibt doch genügend neue Autorinnen und Autoren, die ihnen gerne ein Stück darüber schreiben, wie Woyzeck den Arzt wechselt und dort auf Ferdinand trifft und beide miteinander glücklich werden, ganz ohne Marie und Luise. Und meinetwegen ziehen sie auch noch gemeinsam das Kind von Marie auf, falls einem gerade nichts besseres einfällt. Aber besser wäre es sie würden gemeinsam eine Weltreise beginnen oder meinetwegen auch ein Geschäft für neue Herrenmoden eröffnen oder besser noch einfach beides. Dann findet sich schon eine neue Partnerin oder Partner. Wer weiß. Man wird sehen. Aber bloß keine lebensfernen Theorien, die auf Theaterfiguren basieren.
Femizide: Ballast dieser Stoffe
Vielen Dank für diesen Text und die Debatte. Markert macht doch ganz gut klar, welchen Ballast diese Stoffe mit ihren Blicken transportieren, was für ein Frauenbild. Natürlich ist Woyzeck ein tolles Stück und die Titelfigur in gewisser Weise unhintergehbar Trotzdem reproduziert sie ein Verhaltensmuster einer männlich/ patriarchal strukturierten Gesellschaft, die sich die Schwachen vornimmt und straft für das, was die Starken ihnen antaten. Das der Mann Ferdinand sich berechtigt fühlt, Luise zu ermorden, ist doch ein klarer Fall von Ehrenmord.
Femizide: Lesarten
Selbstverständlich steht es jedem frei, Woyzeck, Kabale und Liebe und Carmen ausschließlich als Mord an weiblich gelesenen Personen von männlich gelesenen Personen zu betrachten.

Dies erfüllt ein Grundmerkmal von dramatischen Werken: diese sind erst dann vollständige Werke, wenn sie aufgeführt wurden, in diesem Fall ist dies die Voraussetzung, um betrachtet zu werden. Und durch das Zusammenspiel vieler Personen - Autor, Regisseur, Schauspieler, Dramaturg, Kostümbildner, Bühnenbildner, Lichtdesigner, Musiker und Zuschauer entsteht das vollständige Werk. All dies impliziert natürlich, dass ein geschriebenes Theaterstück oder eine Oper jedes Mal und von jedem immer wieder anders interpretiert werden.
Niemand wird bestreiten, dass bei einer Theateraufführung auf einer Bühne vor 600 Zuschauern jeder Zuschauer etwas anderes gesehen haben wird. Ist dann noch von derselben Theateraufführung an unterschiedlichen Abenden die Rede, vervielfachen sich die Interpretationsmöglichkeiten.

Ähnliches gilt auch für ein unvollständiges Bühnenwerk, also eins, was noch nicht auf der Bühne aufgeführt, sondern lediglich gelesen wird. Auch hier wird jeder Leser und mit Sicherheit auch jede Leserin eine andere Lesart haben, den Text unterschiedlich interpretieren. Ein und derselbe Leser kann ein Stück zweimal zu unterschiedlichen Zeitpunkten seines Lebens lesen und wird vielleicht dann jedes Mal eine andere Deutung finden.

Diese Aufzählung ließe sich jetzt beliebig lang fortsetzen. Bleiben tut, dass es für kein Theaterstück, kein Libretto, keine Oper, für kein Kunstwerk eine einzige objektive Wahrheit gibt. Jede Behauptung einer Wahrheit ist IMMER nur eine subjektive Interpretation.

Frau Markerts Ausführungen zu Büchners Woyzeck sind einzig und allein ihre subjektive Lesart.

Anders verhält es sich im Fall des Woyzecks, der Büchner als Vorlage diente, der letzten Hinrichtung auf dem Markt in Leipzig. Das war ein Kriminalfall, den Polizisten und Richter beurteilten und dann eine Wahrheit dazu ermittelten.

Frau Markert vermengt hier also verschiedene Textsorten und kommt so zu einer fragwürdigen Beurteilung literarischer Werke.
Ebenfalls vermischt werden hier auch historische Zusammenhänge.

Insofern bin ich etwas erstaunt, einen fachlich so ungenauen Text, der sich außerdem sprachlich eher auf dem Niveau eines twitternden Teenager bewegt, auf dem von mir so geschätzten Nachtkritik-Portal zu finden.
Femizide: Realitäten
Schön weiter am Feindbild arbeiten.
Theater kann ein Spiegel der Gesellschaft sein, wenn es gut ist.
Aber es gibt einen mächtigen Unterschied zwischen Realität auf der Bühne oder in der Kunst und der Realität im Leben und der Realität bei der Kripo. Diese Realitäten darf man auf keinen Fall durcheinanderbringen.
Da wird in der Debattenvorlage von Jorinde Minna Markert doch einiges durcheinandergebracht oder zusammengebracht und, na überhaupt, und dann wieder zusammengepappt. Hauptsache, es klingt jung und modern usw. usw. dann wird's auch von Nachtkritik veröffentlicht.

Die klugen Nachtkritikbeiträge und Aufführungsbeschreibungen waren mal eine hochkarätige Alternative zu den üblichen etablierten Theatermedien.

Vor kurzer Zeit wurde ein Beitrag von jungen Theaterleuten veröffentlicht: „Keine Theaterleute und Mitarbeiter mehr über dreißig. “Junge Theatermacher, die wissen, wie es geht, und ruckzuck sind alle Theater wieder voll. Leider wissen die jungen Leute noch nicht, (ist Ihnen auch nicht vorzuwerfen, haben sie ja noch nicht durchlebt), wie schnell im Berufsleben die Zeit vergeht, ein Fingerschnipp und plötzlich ist man 63 und die Anfängerzeit ist noch so nahe, als wäre gerade mal eine Sekunde vergangen. Die können sie sich dann wenigstens ziemlich schnell gleich selber abschaffen, das ist ein Vorteil.


Es gibt auch Stimmen, die verlautbaren:, „Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar braucht auch niemand mehr, kann weg.“
Okay, Meinungsfreiheit. Haben wir ja hundertprozentig!!!

Die Diskussion: „Darf Miller in „Kabale und Liebe“ noch das Wort „Weib“ benutzen? Müssen wir das nicht umschreiben und korrigieren?“ Kann man ja mal nachfragen.

Sind wir noch weit entfernt von Rufen wie: „Ins Feuer mit den Werken von….“???
„Wehret den Anfängen“. Da muss ich den Brecht bemühen.

Gute Theatertexte werden kaum noch geschrieben. Ich meine solche, die man auch spielen kann, wo Konflikte eine Handlung vorantreiben und gute scharfe knackige Dialoge Spannung erzeugen,
wie im „Woyzeck“.
Nee, geht nicht.
Bräuchte man unendlich viele #tw, wie es in den sogenannten „sozialen Medien“ heißt, die junge Menschen sooo gerne konsumieren und wo diese sogenannten Triggerwarnungen jede wirkliche Gefahr von Retraumatisierung absolut relativieren.
Achtung! #tw „Augenreiben“, unbedingt anschauen. (tiktok)

Unter guten Theatertexten verstehe ich jedenfalls nicht die üblichen zur Mode gewordenen Textflächenstücke, die zwar oft Preise gewinnen und dann auch gespielt werden (müssen), die mit Theater aber so viel zu tun haben, wie ein E-SUV mit der Bewältigung der Klimakrise.
Manchmal sind’s allerdings ganz gute Reden, die man im Bundestag zur Weiterbildung vortragen könnte. (Aber bitte immer von den Autoren selbst, die dürfen ihre Texte dann natürlich auch auswendig lernen. Diese Texte lernen sich wirklich ganz leicht. Keine Angst, aus eigener Erfahrung weiß ich, wovon ich rede.)

Hoffentlich ist jetzt „Nachtkritik“ nicht schon von den „sozialen Medien“ übernommen, so oft wie hier der Spendenbalken auftaucht. Diese „sozialen Privatmedien“ passen ja jetzt immer richtig gut auf, dass politisch inkorrekte Beiträge nicht weiterverbreitet werden, und dann wird mein Beitrag gelöscht.
Ach nee, beim Fußball passen die nicht so gut auf, da darf man sogar so richtig böse antisemitisch sein, vor allem wenn eine deutsche Mannschaft gegen eine israelische Mannschaft spielt. Wird nix gelöscht, regt sich auch kaum jemand groß auf.

Und Theater soll doch so aufregend wie Fußball sein. Gab’s mal ein Buch. Ist bestimmt vergriffen.
Und erwachsene Menschen sollten eigentlich nicht mehr mit Barbies spielen.
Naja, mit blutigen geht’s vielleicht. Wo war da eigentlich die #tw?
Jetzt bin ich als Mann (oder wie soll ich mich jetzt lesen oder schreiben oder nennen oder fühlen dürfen?) ganz schön retraumatisiert.
Femizide: Ehrenmörder
Ehrenmord? Luise ist nicht die Schwester von Ferdinand. Und Ehrenmörder bringen sich nicht selbst um. Darüberhinaus sind historische Stoffe kein Ballast, sondern ein Reichtum, falls man sie mit Distanz betrachtet.
Femizide: Wirkzeit
Manchmal haben Diskussionen eine längere Wirkzeit. Und im Moment denke ich: Kann man dann bitte auch mal aufhören den Mord an Kindern/Medea sexy zu machen und an Männern/Penthesilea und andere…?
Femizide: wichtig!
Markerts Text ist wichtig und richtig! Eine solche Perspektive brauchen wir dringend. Danke für den erhellenden und notwendigerweise scharfen Beitrag.
Femizide: in der Uni besprochen
Wir haben den Text heute in der Uni besprochen - vielen Dank für den dezidierten Artikel und wichtigen Anstoß!
Femizide: Danke für den Text
Frau Markerts Beobachtungen bringen eine erfrischende Perspektive auf Stoffe, die sich sicherlich auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen lesen lassen. Sie arbeitet Kontinutitäten in historischen Dramentexten heraus, die mit der Realität (und das kann an dieser Stelle doch einmal festgehalten werden: Femizide sind alltägliche, (normalisierte) Realität und wirken sich auf das Leben von Menschen aus) korrespondieren und darauf hinzuweisen, diese Kontinuitäten sichtbar und damit überhaupt erstmal diskutierbar zu machen, ist schon ein erster Verdienst ihres Textes. Wenn dann richtigerweise die Frage aufgeworfen wird, was diese Korresondenz zwischen Theater und Realität bedeutet (also letztlich wie sie sich gegenseitig bedingen) und ob sich das Theater in den Darstellungsweisen seines heiligen Kanons zumindest mal hinterfragen kann, dann hat das wenig mit der gern zitierten Ideologie zu tun (die sich die Gegenposition im Übrigen nie vorwerfen lassen mag, denn ihr Blick ist in ihrer Normierung unsichtbar), sondern mit dem Versuch einer Fruchtbarmachung solcher Texte durch eine Neukontextualisierung im Sinne tagesaktueller Diskurse. Und seit wann haben eigentlich all diese Martins etwas gegen Polemik? Ach ja, seit sie toxische Männlichkeiten thematisieren. Anyways. Das ist genau das Gegenteil von "Büch(n)erverbrennung", das hier aus welchen Gründen auch immer irgendwie als "Argument" gilt, um diesen Text im Kampf für die armen, schillernden Goats zu diffamieren, obwohl solche Argumentationsmuster uns eigentlich doch eher aus der neofaschischten Ecke bekannt sind. Ich freue mich jedenfalls darüber, dass jene, die den guten alten Nachtkritik und Theater Tagen nachweinen, nun von den (diskutablen) Ideen jüngerer und/oder reflektionswütigeren Menschen ein bisschen Feuer unterm Hintern bekommen und aus ihrer normativierten Ecke des male gaze gelockt werden, um mal zu überprüfen, ob das gute Alte nicht vielleicht doch Teil der großen Reproduktionsmaschine ist, die Femizide normalisiert. Danke Frau Markert für diesen Text!
Essay Femizide: Kompliment, Dank und Kritik
Sehr geehrte*r Jorinde Minna Markert

Seit vielen Jahren ist 'Woyzeck' einer meiner absoluten Lieblingstexte. Ich weiss gar nicht, wie oft ich ihn schon gelesen und im Theater inszeniert gesehen habe.
Dies vorweggeschickt muss ich Ihnen für Ihre Kritik, die streng genommen eher einem Essay entspricht - veranlasst durch das besuchte Theater -, ein grosses Kompliment aussprechen: Anregend, intelligent, sprachlich konzise!

Ich gebe Ihnen recht: a.) Ja!: Marie erleidet den «doppelten Tod» im Sinne von Bronfen: der reale Tod am Ende wiederholt nur den Tod ihrer Subjektivität, den sie als Objekt der Begierde schon erfährt. b.) Ja, Suizid dient hier dazu, das männlich Subjekt in seiner Tragik zu zeigen. & c.)Und ja, der Mord wird als «schöner Mord» problematisiert (und damit die Tragik am Bildnis der schönen Frau als Projektsfläche objektiviert). Ihr Kritik macht diese Dimensionen klug und scharfsinnig sichtbar.

Und dennoch weiche ich auch fundamental von ihrer (bzw. von der Inszenierung indizierten) Lektüre des 'Woyzeck' ab:
Ad b.) ist Woyzeck eben kein bürgerliches Subjekt und der Mord damit zwar Ausdruck vordefinierter Geschlechts-Macht-Verhältnisse, aber nur bedingt solcher, von denen er selber ein Profiteur wäre. Vielmehr zeigt das Stück ja ziemlich klar, wie Woyzeck zum Handlanger männlicher Gewalt wird. Entsprechend gibt sich das Stück wirklich Mühe, uns – obwohl es auf der äusseren Ebene die ‘Tragik’ erklärbar macht – Woyzeck als wahrhaftes Monster zu zeigen. Dass er sich z.B. nicht selber umbringt (wie das in der einen Graphic Novel-Variante der Fall ist), dass er keine Reue zeigt, dass er im Vorfeld den Mord systematisch plant (Messerkauf & nicht Mord im Affekt): all dies reduziert unsere Identifikation mit Woyzeck ja ebenso, wie die over-the-top-Brutalität (in Wort und Tat). D.h. die Idee einer "parfümierten Gewalt lässt sich auf das Stück kaum anwenden. Woyzeck ist ein Monster und handelt monströs. Ein Monster ist kein Repräsentant einer sich selbst als Opfer bejammernden Männlichkeit mehr. Woyzeck wird – so scheint es mir – eher zu einem Epiphänomen toxischer Männlichkeit.
Ad c.) Schon allein darin, dass der Text das Konzept des ‘schönen Mords’ zitiert (Polizist "Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord. So schön, als man ihn nur verlangen tun kann"), problematisiert dieses Konzept ja ungemein. Hier wird nicht nur der «male gaze», sondern ebenso dessen brutale Absurdität hörbar. Das sieht man ja auch daran, dass der Mord gänzlich ‘unschön’ beschrieben wird. Es ist eben keine Präraffaelitische Ophelia-Mystifikation, sondern kalte Brutalität (und unerträglich als solche)
Ich habe ‘Woyzeck interupted’ nicht gesehen. Aber so, wie es in der Beschreibung der Kritik steht, scheint mir die Inszenierung (so berechtigt der Fokus auf den Femizid als Inszenierungsidee ist!) in einem Punkt sehr problematisch: Macht man die Beziehung von Woyzeck & Marie zu einer bürgerlichen Netflix-Serie-Schein-Gemütlichkeit, mit heimlichen sexuellen Übergriffen im Hintergrund, verharmlost man damit meiner Meinung die Strukturelle Gewalt an Frauen und ihren Zusammenhang mit ökonomischen Machtstrukturen, wie sie im ‘Woyzeck’ zur Artikulation findet. Woyzeck als Bürger ist meiner Meinung nach letztlich viel weniger feministisch, weil er die Kritik der Macht über die Massen vereinfacht und mit ihm das Gut-Böse-Schema (das im ‘Woyzeck’ auf so brillante Weise komplex und abgründig ist).

Das gesagt muss ich mich nochmals bedanken: Ihre Diskussion war für mich Anlass, die feministische Komponente des Stückes mehr in den Fokus zu rücken und die in ihm angelegte Kritik des strukturellen Sexismus deutlicher zu sehen. Die oben aufgeführten Kritikpunkte richten sich denn auch mehr gegen die Inszenierung ("Woyzeck interrupted") als gegen ihre Ausführungen, die sehr anregend waren. Herzlichen Dank dafür!
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