Kommentar: Zur neuen Leitung des Berliner Theatertreffens
Undeutliche Signale
6. Juli 2022. Das Theatertreffen bekommt eine neue, kollektive Leitung. Sie soll "die Zusammenarbeit mit der Kritiker:innen-Jury gemeinsam" koordinieren. Was genau aber soll koordiniert werden?
Von Christian Rakow
6. Juli 2022. Also eines kann man mit Sicherheit sagen: Eine der üblichen "Wer bekommt welchen Posten"-Meldungen ist diese nicht. Kurz vor der Sommerpause hat der neue Intendant der Berliner Festspiele, Matthias Pees, die künftige Leitung des Berliner Theatertreffens bekannt gegeben. Olena Apchel, Marta Hewelt, Carolin Hochleichter und Joanna Nuckowska sollen das prestigeträchtige Festival zur nächsten Ausgabe im Mai 2023 verantworten. Vier Personen für eine Stelle, die bis dato von einer Kraft ausgefüllt wurde (das war zuletzt Yvonne Büdenhölzer, die nach dem Ende der Intendanz von Thomas Oberender nach zehn Jahren aus dem TT-Amt ausscheidet). Offenbar stehen größere Umwälzungen ins Haus, für die ein Quartett keinen Deut zu klein ist. Nur welche?
Um welche Form der Koordination geht es?
Man hätte gern mehr zu dieser Pressemitteilung erfahren, die just aus dem Haus der Berliner Festspiele einflatterte. Aber der Intendant steht heute nicht zum Gespräch bereit. Aus der Ukraine, Deutschland und Polen kommt sein neues TT-Leitungsteam und damit steht das Versprechen auf frische "internationale Perspektiven", wie es in der Meldung heißt. Gut so. Die Berliner Festspiele, unter deren Dach das Theatertreffen alljährlich im Mai stattfindet, schlugen in anderen Programmreihen dereinst mit der "Spielzeit Europa" übers Jahr verteilt wichtige auswärtige Pflöcke in die Berliner Theaterlandschaft. Unter Thomas Oberender wurde dieser internationale Zug mit dem Festival "Foreign Affairs" zum frühsommerlichen Event komprimiert, was nur mäßige Erfolge zeitigte. In Formaten wie "Shifting Perspectives" rückte die Intendanz Oberender den europäischen Showcase schließlich in den Rahmen des Theatertreffens. Hier hat er sicherlich einen Ort, hier bekommt er die volle Aufmerksamkeit der nationalen wie internationalen Theaterszene. Gern möchte man Werke aus anderen europäischen Ländern im Dialog mit der 10er-Auswahl der bemerkenswertesten deutschsprachigen Produktionen entdecken.
Aber hier beginnen auch die Fragen, die einstweilen ungeklärt sind: Ist denn ein Dialog bezweckt? Oder doch eher eine Verschmelzung, eine Ersetzung womöglich? Soll auch die Jury über die Grenzen der deutschsprachigen Lande hinaus tätig werden? Wie praktikabel wäre das? Das neue Leitungsteam solle alle Festivalformate künftig "gemeinsam und gleichberechtigt" verantworten (was wohl neben der 10er-Auswahl auch die Sparten Internationales Forum, Stückemarkt, Blog und begleitendes Diskursprogramm umfasst) und dabei werde "die Zusammenarbeit mit der Kritiker:innen-Jury gemeinsam koordiniert", heißt es in der Pressemitteilung. Dieser Passus lässt aufmerken. Um welche Form der Koordination geht es?
Die Theatertreffen-Jury speist die Parkett-Perspektive ein
Die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz als Kernprogramm des Theatertreffens werden bekanntlich in einem aufwändigen Sichtungsprozess von einer unabhängigen Jury aus sieben umher reisenden Kritiker:innen ausgewählt. Koordiniert wurde mit dieser Jury bis dato gar nichts, allenfalls wurde ihre Arbeit im Rahmen der Statuten organisiert. Theatertreffenleitung bedeutete inhaltlich: mit dem Unvorhergesehenen umzugehen, also das Tableau an Gastspielen zu programmieren und zu kontextualisieren, was die sieben betriebsfremden Köpfe in langwierigen Diskussionen für bemerkenswert befinden.
Man muss die Besonderheit dieser Jury-Konstruktion, die es so nur noch beim Auswahlgremium für den Mülheimer Dramatikpreis gibt, betonen: Eine Kritiker:innenjury ist eine Vertretung des Publikums, eine Stimme der Öffentlichkeit. Sie verkörpert die Rezeptionsseite im künstlerischen Prozess, nicht die Produktion, nicht den Apparat, nicht die kuratorische Rationalität. Sie speist die Perspektive aus dem Parkett ein und nur diese. Kritiker:innen sind professionelle Theatergänger:innen, deren Expertise sich Lektüren und Interpretationen von Kunstwerken verdankt. In einer Theaterlandschaft, in der nahezu alle Festivals aus dem Kunstbetrieb heraus kuratiert werden, ist diese externe Jury-Position die eigentliche Besonderheit und der Grund für die herausgehobene Stellung des Berliner Theatertreffens.
Es gibt keinen Steuerungsgedanken
Matthias Pees lässt sich in der Pressemitteilung der Festspiele mit den Worten zitieren: "In den vergangenen zehn Jahren hat das Berliner Theatertreffen eine bemerkenswerte und erfolgreiche Entwicklung erfahren, sich für die freie Szene geöffnet, für mehr Geschlechtergerechtigkeit eingesetzt, akute machtpolitische Debatten aufgegriffen sowie Impulse für Fragen der Nachhaltigkeit im Theaterbetrieb gegeben." Mir scheint diese Formulierung am Wesenskern des Festivals vorbeizugehen. Das Theatertreffen kann Diskursmotor sein, weil es mit arbiträren Auswahlen umzugehen hat, die im Idealfall Wahrheiten der Theaterlandschaft sichtbar werden lassen. Bevor die Frauenquote für Regiepositionen als neue Rahmenbedingung in den Statuten des Theatertreffens eingeführt wurde, fand 2017 eine Ausgabe mit nur einer weiblichen Regisseurin und einem freien Theaterkollektiv statt (ich selbst war damals in der Jury, die das zu verantworten hatte). Es war eine langsam im Widerstreit der ästhetischen Beschreibungen gewachsene, sicher von niemandem politisch so beabsichtigte, aber im Ganzen doch hoch signifikante Auswahl, die schonungslos die bestehenden Ungleichheiten in der Verteilung von Ressourcen des Betriebs sichtbar machte (Wer bekommt die große Bühne? Wer arbeitet mit den begnadeten Ensemblemitgliedern etc.?).
In ähnlicher Weise lässt sich über das Auftauchen der Freien Szene sagen: Sie taucht (immer wieder) nicht aus höheren kuratorischen Absichten heraus auf oder weil die Nominierung einen Wert in sich bedeuten würde, sondern aufgrund der punktuellen Überzeugungskraft, weil sich Stücke von Gob Squad, She She Pop, Rimini Protokoll oder Forced Entertainment (um nur die prominentesten Einladungen der letzten Jahre zu nennen) im Vergleich mit den zahllosen anderen Produktionen des Jahrgangs (die Jurys sichten in toto um die 500 Produktionen pro Jahr) bewähren. Jury-Arbeit verdankt sich anders als die Programmierung von Kurator:innen keinem Steuerungsgedanken. Sie ist induktiv, suchend, abbildend. Sie verläuft bottom up, nicht top down.
Es geht um Kritik
Man würde über einzelne Wendungen in der eher spärlichen Pressemitteilung womöglich nicht stolpern, wenn die Festspiele nicht unlängst ein Gespräch von Matthias Lilienthal und Amelie Deuflhard auf ihre Website gestellt hätten, in dem sich die beiden engen Vertrauten von Matthias Pees in der Manier von Spin Doctors über "Festivals der Zukunft" und so auch über die Zukunft des Theatertreffens Gedanken machen. Da finden sich Punkte, die es wert wären, verfolgt zu werden: Man könnte sich die Jury des Berliner Theatertreffens durchaus diverser vorstellen.
Es ist wünschenswert, ließen sich mehr Juror:innen mit Migrationsgeschichte nominieren und womöglich auch Kritiker:innen aus benachbarten Feldern wie Film, Literatur oder Bildender Kunst (so sich die aufwändige TT-Sichtungsarbeit denn mit deren professionellen Verpflichtungen verbinden lässt; Erweiterungen über Spartengrenzen hinweg wurden tatsächlich schon von Yvonne Büdenhölzer angedacht). Solche Vielfalt vergrößert potenziell das Brennglas und hebt neue Eigenschaften an Kunstwerken hervor, die für Jurys diskutabel werden. Aber eben: Es geht um das Justieren von Beobachtungsinstrumenten. Es geht um Kritik.
Eindrücke vom Kantinen-Stammtisch
Zum Stellenwert der Kritik finden sich bei Lilienthal/Deuflhard geradezu bizarre Verkennungen. Der Kampnagel-Intendantin kommt bei dem Stichwort in den Sinn, dass es bessere und schlechtere Schreiber:innen gibt und dass mit Kritik ein Anspruch auf "Neutralität" einhergehe, während Lilienthal (offenbar noch traumatisiert von seinen Streits mit dem Feuilleton der Süddeutschen Zeitung während seiner Intendanz an den Münchner Kammerspielen) Kritik nurmehr als "Anschreiben gegen den Verfall" aufzufassen vermag. Das schwappt vom Kantinen-Stammtisch herüber.
Weder in den Hochzeiten des Meinungsmonopols überregionaler Feuilletons noch heute in Zeiten wachsender Stimmenvielfalt hat sich Kritik als neutral oder gar als objektiv begriffen. Sie hat einzig die Aufgabe, sich in ihrer Positionierung verständlich zu machen. Sie steht, insofern sie Kritik und nicht bloß flüchtige Meinungsbekundung sein will, in Begründungszusammenhängen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Kritik als Abbildung einer qualifizierten Lektüre verkörpert das Gegenüber der Kunst, ihre Außenwahrnehmung, ihre Resonanz im Publikum. Insofern ist Kritik das Korrektiv zum schöpferischen Betrieb.
Wer das Theatertreffen kuratorisch einnorden, mithin "koordinieren" will, macht nicht nur die Arbeit einer Kritiker:innenjury über kurz oder lang obsolet. Er nimmt der Theaterlandschaft ein wichtiges Beobachtungsinstrument. Ist das beabsichtigt? Die Berliner Festspiele senden undeutliche Signale. Sie sind erklärungsbedürftig.
Medienschau
Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (online 6.7.2022) bangt um den "Markenkern" des Berliner Theatertreffens, der in der Jury-Arbeit bestehe, und fordert dafür "Denkmalschutz". Denn: "Der Reise- und Sichtungsaufwand für die Juroren ist immens und ohnehin überfordernd, die Erweiterung auf Europa würde innerhalb des Verfahrens nicht funktionieren. Die Jury könnte nicht mehr als Ganze über die Qualität befinden, weil nicht alle Mitglieder alle Sprachen beherrschen. Das Festival verlöre mit einer solchen Erweiterung sein Profil und damit seine Bedeutung, es würde sich einreihen zwischen vielen anderen kuratierten internationalen Festivals."
Für Peter Laudenbach stellt sich in der Süddeutschen Zeitung (8.7.2022) "die Frage, wer über das Programm des Theatertreffens künftig entscheidet: eine unabhängige Kritikerjury oder wie sonst überall Kuratorinnen und Kuratoren?" Eine "Umformatierung käme der Abschaffung des Theatertreffens in seiner bisherigen Form gleich". Und bisher galt für den Kritiker: "Offener, unabhängiger und überraschender kommt kein anderes Festival zu seinen Programmentscheidungen."
Auch wenn das Theatertreffen manchmal hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibe und sich in den vergangenen Jahren "eine neue Biederkeit beobachten" lasse – "von ästhetisch bemerkenswert verschiebt sich der Fokus immer mehr zu moralisch wünschenswert" –, kämen die Pläne des neuen Intendanten Matthias Pees zur "Neuausrichtung des Theatertreffens als gesamteuropäisches Festival ohne Kritikerjury" einer "Abschaffung der Eigenart des Theatertreffens" gleich, schreibt Jakob Hayner in der Welt (11.8.2022).
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Lieben Gruß (und sieh die Welt nicht zu negativ ;)
So in etwa hat das der Verstorbene Regisseur Peter Brook formuliert. Aber wie dieser Mensch geht, wie er mit dem Raum und evtl. anderen interagiert, ist das nicht das Wesentliche? Und das ein anderer Mensch (Publikum) zuschaut. Aber inzwischen erscheint es mir so, als müssten erst mal Geschlechterparität, Diversität, political correctness,(Inter-)Nationalität und was weiß ich noch alles geklärt sein, bis es korrekt losgehen kann und sich alle berücksichtigt fühlen.Ein Haufen Ideologie und Theorie und aktuelle ästhetische Trends dann noch dazugemischt und das ist es dann?
Was macht denn die Qualität einer Aufführung aus? Dass ich mich in meinen Meinungen bestätigt fühle politisch wieder richtig gelegen zu haben? Oder dargestellte Kunst eines oder mehrerer Menschen egal welchen Geschlechts,Herkunft etc unabhängig von sinnvollen oder weniger sinnvollen inszenatorischen oder technischen Kapriolen.