Warum Autoren am Theater nicht mehr gebraucht, Schreiber aber dringend benötigt werden
Raus aus der Krabbelstube, rein in die Theater
von Ulf Schmidt
13. November 2013. Thomas Oberender verkündete, beim nächsten Theatertreffen keinen Stückemarkt mehr abzuhalten. Nun ist es einerseits nicht wirklich schade um diese Krabbelgruppe. Es war schon immer etwas vermessen zu glauben, mehr oder minder lieblos aninszenierte szenische Vorlesungen neuer Texte könnten Eindruck machen, während zugleich die exquisitesten Produktionen des deutschen Sprechtheaters nebenan liefen.
Jetzt ist er weg, der Markt. Und stattdessen sollen Entwicklungen von Performancekonzepten befördert werden. Nicht die schlechteste Idee. Dass das Eine keine Alternative zum Anderen ist, ist offensichtlich. Dass die Begründung, es gebe heute Stückemärkte allerorten, ebenso eine Begründung wäre, das Theatertreffen abzuschaffen, weil sich permanent irgendwo Theater träfen, ist ebenso offenbar.
Der Autor, das Genie
Der Autor des Theaters sei nicht mehr der Schreiber, sondern der Regisseur – das führte Oberender in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur aus. Das Faktische scheint ihm dabei recht zu geben: Gefeierte Theaterstars sind heute nicht mehr Dramatiker (ein Wort, das man kaum mehr ernsthaft benutzen kann), sondern Regisseure bzw. "Macher". Wäre es tatsächlich ein Gegensatz – er wäre schwachsinnig. Tatsächlich geht Oberender nur überraschend unreflektiert mit dem Autoren-Begriff um. Darauf deuten seine weiteren Ausführungen hin, es gäbe in jeder Generation nur einen oder zwei Autoren.
Gemeint sind damit nicht alle Theaterschreiber. Vielmehr wird der "Autor" bei ihm zu einem emphatisch-idealistischen Begriff. Herstammend aus der Zeit, da das Genie vergöttert und Shakespeare für Deutschland entdeckt wurde, da der Sturm und Drang den Schöpfermenschen, die Philosophie das Subjekt in den Mittelpunkt stellte und zu verklären begann. Dass der Autor in diesem emphatischen Sinne tot ist, ist keine Neuigkeit. Er hat bei Freud die Herrschaft im eigenen Haus verloren. Er wurde von Foucault als Machtgebilde entlarvt. Und Derrida überführte ihn, nicht zu wissen, was er geschrieben hat und nicht schreiben zu können, was er schreiben will. So what?
Autor versus Regisseur
Das Theater ist offenbar das letzte Residuum dieses original-genialen Autorbegriffs – und zwar scheinbar paradoxerweise in der Form eines Feindbildes, sofern es sich um schreibende Autoren handelt. Denn mit der Autoritätskritik der sechziger Jahre wurde auch der Autorenbegriff problematisch. Eine goldene Regiegeneration trat an, mit der Behauptung, man müsse den klassischen Autoritäten untreu werden, um ihnen treu zu bleiben; es bedürfe der Übersetzung ins Heute, um zum Kern der Texte vorzudringen.
Das führte zu legendären Inszenierungen der Steins, Zadeks, Flimms, Peymanns usw., aber auch zur bis heute nicht ausgestandenen Werktreuedebatte, die versucht, einen mutmaßlichen Willen des Schreib-Autors gegen die Regie-Autoren ins Feld zu führen. Der Regisseur wurde im Zuge dessen zu einem eigenständigen (um nicht zu sagen: autonomen) "Autoren" (Oberender), einem Verwandlungskünstler, dessen Aufgabe die szenische Aneignung eines Fremden wurde.
Nur Schreibern wie Heiner Müller, die ihren Texten (durch Missachtung der Dramen-Schreibkonventionen) eine hinreichende Befremdlichkeit verliehen, gelang es listig, in Blick und Interesse zu bleiben. So wie heute Elfriede Jelinek, nach deren Textflächen die Regisseure mit geradezu pawlowschen Aneignungsreflexen schnappen: Den Regisseuren bleibt bei Jelineks Texten ja ein Spielraum der Aneignung, um damit selbst Autor zu werden. So konstituierte sich ein doppeltes Konzept von Autorschaft.
Drei Arten von Textverhältnis
Gegenwärtig haben wir es im Verhältnis von Szene zu – nennen wir sie so – "sprachlichen Artefakten" mit mindestens drei Strömungen zu tun:
- Erstens mit dem hochgradig pragmatischen Umgang, der sich von Text-Autoritäten abwendet. Man produziert eigene sprachliche Artefakte im Produktionsprozess. Die können von Experten des Alltags kommen, es sind Aktentexte oder andere selbst erarbeitete Texte. Dabei wird die klassische Autorschaft ausradiert und Sprache in ein Ganzes integriert, das in gemeinschaftlicher Arbeit produziert wird.
- Zweitens wäre da die stadttheatrale Linie, in der die Abkehr von klassischer Autorschaft zu behaupten eine glatte Lüge wäre. Ob es sich dabei nun um im engeren Sinne dramatische Texte der Tradition handelt, Romanadaptionen oder nachgespielte Filme, ist dabei unerheblich. Es stehen im Hintergrund schreibende Autoren: Dramatiker, Romanciers, Drehbuchschreiber. Und so heißen auch die Autoren des Theatertreffens 2013 Bertolt Brecht, Euripides, Hans Fallada, Gerhart Hauptmann, Elfriede Jelinek, Friederike Mayröcker, Dieter Roth, Lew Tolstoi, Tennessee Williams.
- Drittens und (zumindest hier letztens) sind die Produktionen lebender Theaterschreiber zu nennen: 587 Uraufführungen in der Spielzeit 2011/12 laut Deutschem Bühnenverein. Und genau an dieser Stelle werden Entscheidung und begleitende Äußerungen von Oberender fatal. Nicht dass Thomas Oberender von päpstlichem Einfluss wäre, nicht dass seine Entscheidungen und Äußerungen durchgreifende Änderungen in der Stadttheaterlandschaft nach sich zögen. Aber das Signal, das von ihnen ausgeht, ist gefährlich: Ihr interessiert uns nicht mehr (hinzuzufügen wäre: und das habt ihr uns in den letzten Jahrzehnten eh nicht, deswegen die Krabbelgruppe – aber jetzt manifestieren wir das durch Abschaffung des Stückemarktes).
Einmal auf der Nebenspielstätte
Oberender trägt vor, die "Klassiker" hätten sich über Jahrhunderte durchgesetzt, mit denen könne sowieso keiner von heute mithalten. Belassen wir's also beim Kanon der geschriebenen Tradition und spielen das Forellenquintett einfach weiter. Aus Gewohnheit. Welche "Dramen" der vergangenen zwei Jahrzehnte haben es denn schon schon geschafft, in den Kanon Einzug zu finden? Welche Texte können große Bühnenräume sowohl inhaltlich als auch von den Zuschauerzahlen her füllen?
Neue Texte finden im Wesentlichen in einigermaßen lieblosen Inszenierungen auf Nebenspielstätten statt. Es scheint, als habe Oberender mit seiner Ein-bis-zwei-Genies-pro-Generation-These recht. Das ist katastrophal. Weil es die direkte Folge jenes konstruierten Paragone zwischen Autor und Regisseur ist.
Uraufführung: Die absurde Zwickmühle
Den Autor im emphatisch-genialischen Sinne Oberenders vom Schreiber in einem pragmatischen Sinne zu unterscheiden und mit beiden arbeiten zu können, ist die eigentliche Herausforderung. Die wenigsten Autoren sind vom ersten "Werk" (noch so ein hübscher alter Begriff) an Autoren. Trotzdem können sie schreiben – und sich gegebenenfalls zum Autor mausern. Oder großartige Schreiber werden. Wem aber aufgebürdet wird, schon bei Beginn als Autor erscheinen zu müssen und im Nirgendwo zu versinken, wenn sich die Autorschaft nicht realisiert, der ist zum Scheitern verdammt.
Als Unbekannter mit dem ersten Text Anspruch auf emphatische Autorschaft erheben zu wollen und einen "sperrigen" und befremdlichen Text zu verfassen, darf als beruflicher Selbstmordversuch betrachtet werden. Einen nichtsperrigen Text abzuliefern – ebenfalls. Denn er langweilt einen Regisseur, der Fremdes aneignen will. Das ist die Zwickmühle der heute Schreibenden. Das Dilemma der Regie-Autoren lautet hingegen: Einen neuen Text in der Uraufführung inszenatorisch gegen den Strich zu bürsten, ist absurd, solange es noch keinen autoritären Strich gibt, gegen den gebürstet werden kann. Am Text entlang zu inszenieren ist altmodisch, jedenfalls aber nicht ruhmesförderlich auf dem Regiemarkt. Für die Auseinandersetzung mit neuem Sperrgut fehlen die Zeit, der Mut, das Geld. Kein Vorwurf. An niemanden. Nur eine Beschreibung. Und Resultat einer absurden Situation.
Schreiber bleiben draußen
Verzichten wir für das Weitere auf den missverständlichen Begriff des Schreib-Autors. Reden wir von Schreibern. Von allen am Produktionsprozess Theater Beteiligten sind diese die einzigen regelmäßig Ausgeschlossenen. Es gibt alle möglichen Berufe, die in den entsprechenden Abteilungen fest angestellt sind: Neben Schauspieler/innen sind da Tischler/innen, Schneider/innen, Kostümbildner/innen, Beleuchter/innen, Disponent/innen, Spielleiter/innen, Kartenverkäufer/innen, Dramaturg/innen, Billeteur/innen zu finden.
Angestellt und bezahlt. Schlecht bezahlt zumeist, teilweise outgesourct zu miesen Konditionen. Aber alle Teil des Theaters. Mir ist kein deutsches Stadttheater bekannt, in dem es eine Schreibabteilung gäbe, einen "Writers' Room" (dazu später mehr). Damit meine ich nicht die Verlängerung der Krabbelstube hin zum tagesbetreuten Schreiben des "Embedded Authors" in der Form des Hausautoren. Sondern fest angestelltes Personal, dessen Handwerk das szenische Schreiben ist, die Produktion von sprachlichen Artefakten in einem kollaborativen Prozess, der nicht nur mehrere Schreiber umfasst, sondern Regie, Darsteller, Dramaturgie, Technik usw. bereits in den Entstehungsprozess einbindet. Ein dummer Gedanke? Mitnichten.
Wer schreibt, schreibt auf eigenes Risiko
Heute ist der Schreiber frei und ausgeschlossen. Das heißt in der Regel und zumindest bei "Karriere"-Beginn: Du trägst alleine die Kosten und das volle Risiko. Auf Ertrag freue dich nicht zu früh. Damit steht der Schreiber ziemlich einzig da. Wer würde von einer Kostümbildnerin verlangen, dass sie in ihrer unbezahlten Zeit Kostümentwürfe erstellt, diese verfertigt, dem Theater vorstellt, das dann entscheidet, ob es diese Kostüme nimmt. Und das für den Fall der Annahme verspricht, einen Teil der Abendeinnahmen als Entlohnung bereit zu stellen – abhängig davon, wie gut die Sache läuft.
Welcher Billeteur wird abhängig vom "Erfolg" bezahlt? Welches Stadttheater-Ensemble probt erst ein Stück in der Freizeit, um dann der gnädigen oder ungnädigen Entscheidung ausgesetzt zu sein, ob die gesamte Müh' umsonst gewesen ist oder ansatzweise Aussicht auf eine finanzielle Kompensation besteht, die allerdings in keiner Weise ausreicht, den Lebensunterhalt zu decken? Das ist die Situation des Theaterschreibers: Schreib mal deinen Text fertig. Dann schauen wir, ob wir ihn nehmen. Und wenn wir ihn nehmen, trägst du einen Teil des finanziellen Produktionsrisikos. Gibt es irgendeinen Stadttheater-Intendanten in Deutschland, dessen Entlohnung direkt von der Zuschauerzahl abhängig ist?
Ein Kracher. Warum eigentlich? Und warum eigentlich glaubt jemand, dass das für einen Schreiber eine längerfristige Perspektive ist? Dass er so lange bei der Feder bleibt, bis er es vielleicht bis zum Oberender'schen Autor bringt und nicht, wie Oberender selbst, früher oder später den Griffel fallen lässt?
Nebenbei: Glaubt eigentlich jemand, dass ein Mindestlohngesetz in Deutschland eine explizite Ausnahme für Theaterschreiber macht? Oder werden dann 8,50 Euro pro Arbeitsstunde fällig? Ich bin auf Gerichtsverfahren gespannt ...
Das erste Stück ist immer das Leichteste
Wer als Theaterschreiber anfängt, schreibt zumeist über ein Thema, das aus einer engen Vertrautheit oder existenziellen Notwendigkeit herrührt. Es reift über Jahre. Es stammt aus dem unmittelbaren Lebensumfeld, die Figuren haben lebende Vorbilder, das Schreiben geht flüssig. Es geht um Coming-of-age, um Familie, um erste Liebe, Sehnsucht, Freundschaft usw. Der Text schreibt sich fast von selbst. Hat der Schreiber oder die Schreiberin Stilgefühl, vielleicht sogar einen eigenen Stil oder Sound, stehen die Aussichten gut, als neueste arme Sau durchs Theaterdorf getrieben zu werden, die große Bühne zu erreichen, nachgespielt zu werden. Sogar Anwartschaft auf "Sau im Dorf des Jahres" ist vorhanden.
Der Erfolg führt zum zweiten Stück. Was einmal funktioniert hat, funktioniert nochmal. Und das Thema des ersten Stücks ist noch nicht ausgereizt. Das Interesse an der armen Sau ist noch vorhanden, mit etwas Glück könnte dabei zeitweise sogar ein vernünftiger Lohn rumkommen. Die arme Sau wird zum vergoldeten Kalb, um das ein bis zwei Spielzeiten getanzt wird.
Das dritte Stück ist oftmals das Letzte
Doch spätestens beim dritten Stück ist Professionalisierung gefordert, eine ganz andere Herangehensweise als beim ersten oder zweiten Stück ist nötig. Das Thema drängt sich nicht mehr auf, sondern es muss bewusst gesucht und gefunden werden. Dazu muss – anders als bei den Genremalereien zuvor – ein Standpunkt entwickelt werden zum Thema. Eine Geschichte gefunden, Figuren definiert und charakterisiert. Die Texte schreiben sich nicht mehr von selbst. Die alte Notwendigkeit und Flüssigkeit ist weg.
Die Wahrscheinlichkeit, auf die Reaktion "blutleer", "ausgedacht", "theoretisch", "naiv" oder gar "thematisch uninteressant" zu stoßen, ist enorm hoch. Das Dorf hat sich überzeugt, dass es sich doch nicht um das ersehnte Genie handelt. Und zieht weiter, bis die nächste Sau getrieben werden kann. Gerade letzteres ist von einer immanenten Logik, die dafür sorgt, dass die One-Hit-Wonder schnell wieder verschwinden, wiewohl sie anhaltendes Interesse auch nach den Erstlingen verdient hätten und benötigen. Möge jeder im Geiste die armen Säue der letzten Jahrzehnte vor sich Revue passieren lassen und entscheiden, ob das zutrifft.
Querfinanzierung hinter der Theke
Die Aufgaben, die ein Theaterschreiber heute zu erfüllen hat, lassen sich nicht mehr alleine erledigen. Gewohnt, mit ausführlichst recherchierten Fernsehbeiträgen zu allen denkbaren Themen bombardiert zu werden, ausgefeilte Film- und Seriendramaturgien zu erleben, lassen sich Zuschauer heute nicht mehr mit dem Niveau der Tradition abspeisen. Zu welchem Thema könnte ein Schreiber eine politisch-gesellschaftliche Position einnehmen, die nicht längst schon auf drei Kanälen zu sehen war? Zumal er selbst vermutlich sein Wissen von diesen drei Kanälen hat.
Jenseits von Auftragsproduktionen und "Embedded Authorships" sind heute Schreiber für Stadttheater dabei allein gelassen, sich auszudenken, was irgendjemanden interessieren könnte. Findet sich kein Interessent – Pech gehabt. Letztens war beim Goethe-Institut zu lesen, dass Hausautoren 400 bis 700 Euro pro Monat bekommen. Auftragswerke dürften bei rund 5.000 Euro liegen. Hält man für einen Freiberufler ein Jahreseinkommen von 30.000 Euro vor Steuern und Abgaben/Sozialversicherung für ein solides Minimum, bei dem monatlich etwa 1800 Euro netto herauskommen (Bildung von Rücklagen nicht enthalten), hieße das: sechs Auftragswerke hintereinander pro Jahr. Und die Hausautorenschaft durch Kellnern in der Theaterkantine querfinanzieren.
Es bleibt bei ersten Gehversuchen
Kein Wunder, dass laut Künstlersozialkasse das Durchschnittseinkommen von Künstlern im Bereich "Wort", zu dem Theaterautoren gehören, bei 18.047 Euro pro Jahr liegt – in dieser Kategorie treiben allerdings lukrative Zweige wie Werbetext die Statistik nach oben. Für Theaterautoren dürfte man getrost ein Drittel bis die Hälfte abziehen, womit man auf ein Durchschnittseinkommen unterhalb des Existenzminimums kommt.
In der Praxis heißt das: Nach zwei bis drei traditionell fertiggestellten Stücken kommt der Schreiber ins Grübeln. Spätestens dann, wenn die ominöse 35-Jahresgrenze (Regelgrenze für Schönschreibwettbewerbe) erreicht ist, sucht er sich etwas Anderes. Gerade dann, wenn er genug Erfahrung gesammelt hat, um professionell an Texten zu arbeiten. Und Theater stehen dann vor der seltsamen Situation, es immer und immer wieder nur mit Anfängertexten zu tun zu haben. Der Krabbelgruppe ist kein Entkommen – auch weil immer nur erste Gehversuche darin vorkommen.
Stadttheater fressen ihre eigene Zukunft
Wie blind muss man sein, um nicht zu merken, dass hier Arbeitsbedingungen für "Rohstofflieferanten" geschaffen werden, die nicht geeignet sind, langfristig die gewünschte Qualität für den Stadttheater-Apparat zu liefern? Zu wenige Schreiber können es sich unter den gegenwärtigen Bedingungen längerfristig leisten, textlichen Rohstoff in benötigter Qualität zu liefern. Denjenigen, die sich dieser Situation aussetzen, dann noch schofel mit dem Schwadronieren über "ein bis zwei Genies sind willkommen, der Rest interessiert nicht" die Unerwünschtheit zu signalisieren, entbehrt jeder Vernunft. Und wie Oberender, nach eigenen Angaben selbst jahrelang "totgeförderter" Jungautor, im Radiointerview zu behaupten, um die Förderung schreibender Autoren kümmerten sich nur die "größten Deppen" an deutschen Theatern, denen nichts anderes einfällt, ist ... dazu fällt mir nichts ein.
Es geht bei den Schilderungen nicht nur um individuelle Schreiberschicksale und ihre soziale Lage. Es geht dabei vielmehr um die Rohstoffvernichtungsmaschinerie, die sich die deutschen Stadttheater damit leisten. Wenn Autoren nach ein paar Stücken das Handtuch werfen, weil sie sich den Luxus der Schreiberei nicht mehr leisten können oder frustriert sind, gehen gewonnene Erfahrung und Professionalität verloren. Das geht den Theatern selbst an die Substanz – und zwar heute mehr denn je. Warum das so ist, dazu jetzt.
Krise des Erzählens ist eine Krise des Theaters
Bernd Stegemann fordert die Umkehr zum mimetischen Erzählen, und er hat damit auf eine gewisse Weise recht. Es gibt allerdings kein "zurück zu". Es geht um ein Vorwärts zu neuen Erzählformen, neuen gesellschaftlichen Themen, neuer Relevanz. Dem dramatischen Zuschauerschwund und gesellschaftlichen Relevanzverlust der Theater steht die Erfolgsgeschichte jenes Mediums gegenüber, das dramatische oder theatrale Dramaturgien übernommen und in intelligenter (und manchmal weniger intelligenter) Aneignung durch zahllose Schreiber neue (Erzähl-)Formen hervorgebracht hat. Die Rede ist vom Fernsehen, das heute jeden Abend mit 60 Kanälen und On-Demand-Abrufen gegen das Theater antritt. Und die Rede ist insbesondere von den neueren amerikanischen Großerzählungen, die auf allen Schirmen und in aller Munde sind: "Mad Men", "Sopranos", "Breaking Bad", "The Wire", "Homeland", "Oz".
Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht bei der Orientierung an diesem Vorbild nicht darum, Theater zu kommerzialisieren. Es geht nicht darum, zu kopieren, wie das Fernsehen erzählt. Es geht nicht darum, serielle Erzählformate für Theater zu entwickeln. Es geht auch nicht darum, irgendein Produkt nachzuahmen, "Mad Men" oder die "Sopranos" auf der Bühne zu spielen. Es geht darum, von einem kreativen Prozess zu lernen, der dabei helfen kann, neu zu entwickeln, was Erzählen für das Theater im 21. Jahrhundert heißen kann, wie es funktioniert, wie es Menschen interessiert. Es geht darum zu verstehen, dass Erzählungen (und zwar im Gegensatz zur postmodernen Überzeugung sogar "große Erzählungen") in der Lage sind, Menschen in großer Zahl in den Bann zu ziehen. Erzählungen, die von großartigen Schreibern entwickelt wurden – in einem anderen Prozess als demjenigen, der dem prometheischen Originalgenie zugeordnet wird.
Der "Writers' Room" als theaterinternes Erzähllabor
Denn besagte Produktionen (und überhaupt die meisten insbesondere seriellen TV-Produktionen) sind nicht mehr das Werk von "Autoren", sondern von Schreib-Kollaboration. Auch wenn David Chase, Vince Gilligan, David Simon, Matthew Weiner in ihren Funktionen als Creators oder Showrunners in der Öffentlichkeit die großen Meriten einsammeln: Die Werke wurden von Kollektiven aus sechs bis acht Personen in einem gemeinsamen, monatelangen Prozess entwickelt. Das Verfassen des tatsächlichen Scripts ist dann eine Aufgabe, die einer von ihnen erledigt, anschließend begutachtet und revidiert durch den Showrunner. Ohne seinen "Writers' Room" wäre der Showrunner aufgeschmissen. In die Entwicklung können Regisseure einbezogen werden, auch die Darsteller oder der Produzent. Der Prozess ist fokussiert, aber tendenziell offen. Er verabschiedet das prometheische Genie auf Seiten der Schreiber und auf Seiten der Regie.
{denvideo https://www.youtube.com/watch?v=Dd5_pQ2m2U8#t=39}
Writing als kollaboratives Handwerk
Das erfordert andere Arbeitsweisen – sowohl bei den Schreibern als auch bei der Produktion. Das einsame Schaffen am Schreibtisch des Schreib-Autors ist ebenso vorbei wie das des titanischen Regie-Autors. Der Prozess wird erheblich handwerklicher, trotzdem hoch inspiriert von gemeinsamen Brainstormings. Texte werden überarbeitet oder umgeschrieben. Gegebenenfalls mischen sich Produzent oder Regisseur ein, sei es motivierend, sei es rechtzeitig bremsend.
Für den bzw. die Schreiber bedeutet das, auch selbst Abschied vom Selbstbild des Originalgenies zu nehmen. Ein handwerklicheres Verständnis vom Schreiben zu entwickeln. Ein- und vielleicht sogar Unterordnung im gemeinsamen Prozess. Der Anfänger fängt als Jungautor im Team an und muss damit fertig werden, dass, sei es vom Chefautor, vom Regisseur oder von einem Darsteller, die drei über Nacht geschriebenen Seiten abgelehnt werden. Dass die Figuren überarbeitet werden müssen. Dass die Szenenaufteilung während des Schreibens umgestellt werden muss. Schwer. Aber es lohnt sich. Und die in der jüngeren Generation selbstverständlich geübten Arbeitsweisen von Sharing, Co-Creation und Kollaboration lassen erwarten, dass sich Schreiber finden, die sich auf das Abenteuer einlassen.
Abschied von der Fremdheit
Vom Regisseur verlangt das den Abschied von der "Fremdheit" des sprachlichen Artefakts im Inszenierungsprozess. Er oder sie eignet sich das, was entsteht, bereits in seinem sprachlich-konzeptionellen Entstehen an. Er arbeitet an dessen Entstehung mit. Er spricht mit. Er denkt mit. Wenn es ihn juckt, schreibt er mit. Wenn er Autor ist, dann nur noch Ko-Autor, wie alle anderen Beteiligten. Und wenn das sprachliche Artefakt fertig ist, ist damit auch das Inszenierungskonzept fertig, vielleicht schon das Roh-Bühnenbild und die Darsteller kennen ihre Rollen. Sie waren beim Entstehen dabei.
Das Theater definiert selbst, was sein Anliegen ist. Man sichtet nicht fertige Texte auf Interesse und Machbarkeit. Das Haus wählt das Thema aus, bevor irgendein Text an seinen Interessen vorbei produziert wird. Es gibt vor, welche Budgets für die Produktion denkbar sind, welches Personal dafür eingesetzt werden kann. Und wenn es die Entscheidung für die Entwicklung getroffen hat, wird produziert. Bezahlt.
Diese Arbeitsweisen sind nicht neu. Die sogenannte freie Szene, wie oben bemerkt, praktiziert sie. Sie ist "heutig", darauf wies schon Ivan Nagel in seiner Rede zur Eröffnung des Radialsystems hin.
Wozu Neues bei soviel Altem?
Und wozu überhaupt noch Neues, wo wir doch die guten Alten haben? Weil wir in einer anderen Welt und in einer anderen Gesellschaft leben. Weil unsere Gesellschaft eine Netzgesellschaft, unsere Welt eine vernetzte ist. Weil der Mensch des 20. Jahrhunderts (ganz zu schweigen von seinen Vorgängern) ein aussterbendes Exemplar der Evolution ist. Die Shakespeare-Welt geht unter. Die Tschechow-Welt geht unter. Selbst die Brecht-Welt gibt es nicht mehr. Einem Heutigen zu seinen Herausforderungen zurufen zu wollen: "Schon Schiller sagte ja" – wird nur noch verständnisloses Kopfschütteln ernten. Das Bild von der Welt und der Gesellschaft, in der wir leben, ist die letzten 50 Jahre vom Fernsehen bestimmt worden. Diese Welt wandelt sich zur Digitalwelt, zur Netzwelt. Und diese neue Welt braucht die Erzählungen, die es mit ihr aufnehmen können. Heute würde Vater Moor den Karl kurz anrufen und ihn fragen, ob er noch alle Nadeln an der Tanne hat. Ende "Die Räuber".
Die Dramaturgie der Vergangenheit und die Erzählformen der Tradition sind formale Verwirklichungen eines Welt- und Menschenbildes. Wenn davon ausgegangen werden kann, dass Welt- und Menschenbild, dass sich Begriffe wie Nation, Freundschaft, Arbeit, Klasse fundamental ändern, wenn Heimat nicht mehr dort ist, wo die Wohnung ist, sondern überall dort, wo ich Handyempfang habe und ich dabei jederzeit das Spähen verschiedenster Herrschaftsapparate in meinem Intimsten gewärtigen muss: dann werden sich auch Erzählen und Dramaturgie ändern müssen. Das ist spannend wie lange nicht.
Ohne Schreiber kein Theater
Das setzt aber voraus, dass der unselige Paragone zwischen Regie und Schreibern beendet wird. Dass das grauenvolle Konzept von Genie und Autorschaft auf den Müllplatz der Geschichte wandert. Dass sich Theater mit Schreibern zusammentun, um in gemeinsamer Anstrengung das Erzählen und damit das "Theater der nächsten Gesellschaft" (Dirk Baecker) zu erfinden. Dabei geht es um Kollaboration, Respekt, gemeinsame Neugier. Es geht auch um Geld und Lebensunterhalt. "Writers' Rooms" mit zehn fest angestellten Schreibern an jedem Staats- und Stadttheater. Nicht einem, nicht zwei, nicht drei: zehn. Oder mehr.
Ob irgendjemand die Krabbelgruppe des Berliner Stückemarkts braucht oder nicht, sei dahingestellt. Der Stückemarkt, auf dem Autoren ihre Haut zu Markte tragen, kann ruhig geschlossen werden. Wenn aber damit weiterhin kommuniziert wird: Wir brauchen keine Schreiber, wir warten auf den Messias und solange machen wir unsern Kram – dann werden Theater zu einem Teil jener untergehenden Welt. Was keinerlei Anlass zur Freude ist, sondern ein Desaster. Auch wenn die brotlosen Schreiber vermutlich mit offenen Armen überall dort empfangen werden, wo Erzählen und Schreiben gefragt ist.
Ulf Schmidt ist promovierter Theaterwissenschaftler, Blogger auf postdramatiker.de, freier Social Media Berater und Theaterschreiber. Sein letztes Stück Schuld und Schein, dessen Uraufführungsrechte er auf ebay versteigerte, läuft seit Juli 2013 am Metropol-Theater München.
Mehr über die Stückemarkt-Neuerung beim Theatertreffen: Sascha Krieger hat u.a. mit TT-Chefin Yvonne Büdenhölzer und Holger Schultze, Leiter des Heidelberger Stückemarkts, gesprochen und beleuchtet die Hintergründe.
Mehr über die Debatte um Neue Dramatik im Lexikon-Eintrag.
Mehr über die Idee des "Writers' Room": Vince Gilligan, Erfinder, Executive Producer und Showrunner der erfolgreichen Serie "Breaking Bad" über die Arbeit im Writers' Room:
{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=ULaKzwivJQI#t=231}
{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=a2WEdvcMC6Y&feature=youtu.be&t=58s}
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
mehr debatten
meldungen >
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
- 04. Oktober 2024 Internationale Auszeichnung für die Komische Oper Berlin
- 04. Oktober 2024 Kulturschaffende fordern Erhalt von 3sat
- 04. Oktober 2024 Deutscher Filmregisseur in russischer Haft
- 01. Oktober 2024 Bundesverdienstorden für Lutz Seiler
- 01. Oktober 2024 Neuer Schauspieldirektor ab 2025/26 für Neustrelitz
- 30. September 2024 Erste Tanztriennale: Künstlerische Leitung steht fest
- 29. September 2024 Oberhausener Theaterpreis 2024
neueste kommentare >
-
3sat bedroht Gehälter
-
Vinge/Müller an der Volksbühne Dauer
-
Herr Puntila, Hamburg Paraderolle
-
Spardiktat Berlin Nachfrage
-
Glaube, Geld, Krieg..., Berlin Werde eine Karte kaufen
-
Spardiktat Berlin Hilfe!
-
Spardiktat Berlin Leider absehbar
-
Spardiktat Berlin Managementskills
-
Spardiktat Berlin Baumolsche Kostenkrankheit
-
Einsparungen 3sat Unterschreiben!
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
1) Der Begriff des Schreibers interessiert mich. Denn er hinterfragt tatsächlich den Autor als Originalgenie, als einsamen Erfinder aus dem Nichts heraus. Dass ein Schreiber sich immer schon - genauso wie ein Regisseur - auf seine Vorgänger bzw. Texte, welche er selbst gelesen hat, bezieht, wird im Begriff des Autors negiert. Und warum heisst der Schreiber Bartleby bei Melville wohl Schreiber? Weil er Akten kopieren muss, was damals noch "handschriftlich abschreiben" bedeutete. Und mit jeder Kopie schleichen sich Fehler ein. Fehler, welche einen Text nach und nach von Grund auf verändern können.
2) Warum hier jetzt aber gerade das Drehbuch von "Breaking Bad" als Beispiel für einen guten (Schreiberkollektiv-)Text hergenommen wird, verstehe ich dann doch wieder nicht. Ich habe mir diese Serie neulich endlich mal selbst angesehen, weil "alle" davon schwärmten. Die erste Staffel gefiel mir, aber schon bei der zweiten Staffel fing ich an, mich enorm zu langweilen. Erzählung sowie dramaturgische Form sanken rapide ab. Das Prinzip der Serie - Quantität - produziert oftmals leider nicht mehr Qualität, sondern stattdessen mehr Oberfläche statt Tiefe. Texte, in welchen (persönliche und/oder kollektive) Geschichte - Archäologie des Wissens - eingelagert ist, sind manchmal eben doch anregender und einfach besser. Meine Meinung.
Ist ihnen schonmal aufgefallen, dass fast niemand öffentlich schreibt, vor anderen, denn Schreiben ist ein enorm intimer Vorgang. Man kann beobachten, dass, wenn mehrere Menschen in einem Raum zusammen sind, es immer für einen Moment ein wenig stiller wird, falls jemand zu schreiben beginnt. Das ist dem natürlichen Respekt zu zollen, die jeder dem Schreiben entgegen bringt.
Als ich einmal im DT in meinem Büro anfing einfach den Anfang eines Stückes zu schreiben, so ca. sieben Seiten, verstummte mein Gegenüber und wurde ganz still. Es war übrigens Marianne Wendt, die Tochter von Ernst Wendt. Als ich meinen kleinen Ausflug nach gefühlten zwanzig Minuten beendete, es war der Einstieg zu einer Theaterfassung von "Jule et Jim.", gab ich ihr die paar Seiten direkt zum Lesen, verbunden mit der Frage, ob dies eine Exposition sein könnte?
Wenig später begegnete ich der damaligen Chefdramaturgin auf dem Gang und sie zischte mir nur entgegen, niemand kann sich einfach hinsetzen und ein Stück schreiben, das geht nicht!
Es war so, als ob ich öffentlich Sex gehabt hätte.
Ich ließ diese Äußerung unerwidert. Und doch ist sie mir gut in Erinnerung geblieben, denn dieses kleine Erlebniss zeigte mir überdeutlich, wie ungewöhnlich es für den Betrieb ist, wenn in ihm Theatertexte verfasst werde. Das ist eine Tätigkeit die heute traditionell außerhalb der Theater stattfindet.
Diese Erfahrung spricht nicht gegen einen Writer´s Room, im Gegenteil.
Ich denke nur, niemand kann einen Koltés daran hindern alleine ein Stück zuschreiben. Und das ist gut so und wird auch weiterhin geschehen.
Wie schon gesagt: Das Eine tun und das Andere nicht lassen.
Trotzdem begrüße ich das Schreiben im Theater und fände gut, wenn es sich dort genauso etablieren könnte, wie eine Theaterprobe mit Schauspielern, die ja ebenfalls ein gewisses Maß an Zeit und Intimität benötigt, bis sie am Ende öffentlich werden kann.
Die Frage wäre nur, ob sich die Theater solche Labore überhaupt leisten können (hier ist die Finanzierung völlig unklar), oder doch lieber bei einem der dann vermutlich wie Pilze aus dem Boden schießenden freien Laborbetriebe billiger einkaufen. Urheberrechtsprobleme müsste man dann auch nicht beachten. Man bekäme das Werk wie eh und je aus einer Hand. Das Ganze hat sicher Vor- und Nachteile. Die Werkproduktion würde sich sicher steigern lassen und man müsste sich nicht um den Nachwuchs kümmern. Das machen dann irgendwann Talentscouts wie im Sport. Rekrutieren könnte man die Talente weiterhin bei Open Mikes, Lesebühnen, dem nicht zu unterschätzenden und noch weniger kontrollierbaren Internet oder Ähnlichem. Theater lebt aber auch vom Nachspielen der Werke, was auch eine Einnahmequelle der Autoren ist. Und spätestens da kommt der „Autor“ Regisseur wieder auf den Plan und kann nun vermutlich noch viel freier mit dem vom Theater eingekauften Werk umgehen. Das alles gilt es ebenfalls zu regeln, und nicht nur in rechtlicher Hinsicht. Was wie gut gemeinter Kommunismus aussieht, würde in der heutigen Gesellschaft sehr schnell neoliberalisiert werden. Der kleine Autor müsste wie ehedem seine Haut zu Markte tragen und dürfte die Früchte seiner geistigen Arbeit wahrscheinlich nicht mal mehr sein Eigen nennen können.
Fortsetzung im nächsten Post.
Theater sinkt im Interesse und der gesellschaftlichen Relevanz, wird uns hier gezeigt. Das Problem lässt sich mit der Neudefinierung des Autors als kollektivem Schreiber nicht auf Dauer lösen. Es bietet dem Autor vielleicht einen kurzfristigen Ausweg aus der oft prekären Lage, aber nachhaltig ließe sich das gesamtgesellschaftlich auch anders lösen. Das bedingungslose Grundeinkommen ist nur eine Variante, über die man nachdenken könnte. Ein Mindestlohn hilft nur denen, die dann einen der begehrten Plätze im Schreibpool ergattern können. Beides braucht eine gesellschaftliche und politische Mehrheit, um es umzusetzen. Dann ließe sich auch, frei von existenzieller Not, über neue Modelle des Schreibens sinnieren. Denn der Geist lässt sich nicht quantifizieren. Er ist flüchtiger als das Kapital.
Ich denke dabei an mich selber, der ich dadurch, daß ich ein Theater leite, meine Stücke aufgeführt bekomme (Heiterkeit.) Das ist auch durchaus nötig; denn die Theater der DDR gehören - betrüblicherweise, von meinem Standpunkt aus - zu den wenigen Theater in Europa, die meine Stücke nicht aufführen. Ich bin also durchaus gezwungen, sie selbst aufzuführen, und rate Ihnen dringend, sich schleunigst in eine ähnliche Situation zu begeben. (Erneute Heiterkeit)."
Dennoch ist die Sache zweischneidig und "Breaking Bad" zeigt es ja: Der Writers Room ist eine Strategie der (versuchten) Industrialisierung von Kreativität. Man findet solche Kollektive daher überall dort, wo aus Kreativität Geld geschöpft werden soll, z.B. auch in Werbeagenturen. Ein Investor finanziert großzügige Bedingungen, damit das Ergebnis umso sicherer finanziell lohnend ist. Die Konzeptionisten und Schreiber assoziieren ja nicht entlang tatsächlich eigener Gedanken, sondern entlang fremder Schemata. Das KOllektiv wird "fokussiert" durch die Suche nach den Plots und Dialogen, die die Zuschauer am TV kleben lassen.
Ist das wirklich ein mögliches Vorbild für Theater? Ja, warum nicht. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das nicht zu einem Abschleifen der rückhaltlos eigenen Subjektivität führt und zur Prädominanz von Kriterien wie "Erfolg", "Publikumsgeschmack", "gefällt allen" etc.
Ich würde den "Writers Room" jedenfalls nicht als Lösung für sehen, höchstens als einen möglichen Weg neben anderen, zu Theatermaterial zu kommen. Dass ein Schreiber (zunächst) allein seiner Linie folgt, ohne irgendjemandem verantwortlich zu sein und ohne auf 10 Einwürfe hören zu müssen wie die Texter in den Agenturen, das bleibt eben auch ein valides Modell, vielleicht gerade in einer Welt, wo ansonsten überall Gremien, "Mitspracherechte", Kaufmannsseelen und sonstige befugte Dummbeutel dem Künstler was in die Feder diktieren wollen.
Diese "Theaterchern" - das ist natürlich heute die sog. Freie Szene. Hier gehören Sharing,Co-Creation, Kollaboration ganz selbstverständlich zur Arbeitsweise. Das macht sie eben nicht zur "Avantgarde des postmodernen Kapitalismus" (Stegemann), sondern zu Erben von Brechts Vorschlag. Theater is teamwork. Get used to it! Schafft zwei, drei, viele writers' rooms!
Google Trends versucht Interessentrends abzubilden. Der Zeitpunkt des relativ höchsten Suchaufkommens (hier in der Grafik Dezember 2004) bekommt die Indexzahl 100, alle anderen Zeitpunkte werden dazu ins Verhältnis gesetzt. Gesamtvolumina ließen sich früher über das AdWords-Tool bekommen, das gelang mir mit dem überarbeiteten Tool nicht. Vielleicht haben Sie da mehr Erfolg.
Konfiguration meiner Suche: Eingrenzung auf Deutschland und auf die Kategorie "Kunst und Unterhaltung - Darstellende Kunst" um etwa Suchen nach HomeCinema-Sytemen, die oftmals den Namen "Theater" oder "Theatre" tragen auszuschließen.
Semantische Analyse - so weit ich weiß, nein.
Zugriffszahlen fremder Websites sind nicht unbedingtt einfach zu bekommen, die sind nicht immer frei verfügbar. Maschinen wie Alexa oder urlm geben bestenfalls Abschätzungen. Das wäre dann ein eigenes Forschungsprojekt.
Ich glaube aber, dummer Suchbegriff oder nicht, dass man mit aller gebotenen Vorsicht doch einen Trend ablesen darf aus dem Ergebnis. Dafür ist die Veränderung doch zu deutlich.
Wenn Sie das anders sehen - würde es Ihrer Meinung nach wirklich Entscheidendes an dem ändern, was der Text vorträgt?
Es ist doch wirklich erstaunlich, wie tief die Romantik in unsere Kunstauffassung das Bild des genialisch einsam schreibenden Autors gebohrt hat. Als draußen Metternichs Soldaten marschierten, war es sicherlich die angemessene Technik. Heute sollte es anders gehen können.
glauben Sie mir: Ich bin der Letzte, der das, was Sie über das Schreiben und seine Intimität schreiben, in Abrede stellen würde. Aber gerade aus dieser Diskussion hier und den Anregungen, die ich aus den Kommentaren hier bekomme, aus diesem kleinen partizipativen Kommentardrama in den nachtkritik-Kommentaren, meine ich doch zumindest einen Hinweis ableiten zu können, dass das Gemeinsame des Gesprächs und der Diskussion doch dazu beiträgt, Dinge noch einmal zu überdenken, Gedanken klarer zu formulieren.
Dass das Schreiben selbst ein zumeist einsamer Vorgang ist, das ändern auch Writers' Rooms nicht. Und natürlich geht es nicht darum, irgendjemanden an irgendeiner Arbeitsweise zu hindern. Im Gegenteil. Es geht um das Ausprobieren von Arbeitsweisen, um das Erproben eines kollektiven Prozesse in jenem kollektiven Prozess, das Theater in sich selbst ist. Verbunden mit dem Gedanken, dass Theater in unserer Zeit nicht weniger Schreiber braucht, sondern vermutlich eher mehr, nach dem Ende des Autoren-Regisseur-Paragone, um gemeisam jene Kraft wiederzufinden, die Theater einmal hatte und die es - meine Behauptung - eingebüßt hat oder einzubüßen droht. Es ist an der Zeit, sich zusammenzutun und Kräfte zu bündeln.
Selbst wenn ich es auf die Schnelle schaffte, jedem Ihrer Anmerkungen nachzudenken, würde hier der Platz natürlich nicht reichen, um darauf zu antworten. Deswegen nur Stichworte:
Ich halte die Arbeitsweise des Writers' Room (oder ähnliche Arbeitsweisen der Softwareproduktion) für eine Inspirationsquelle. Ich glaube nicht, dass durch die Inspiration durch solche Arbeitsweisen unmittelbar die Gefahr der Ökonomisierung oder der Entmündigung der daran Beteiligten verbunden ist.
Vielleicht ist es doch hilfreich, das Zitat von Ivan Nagel hier zu bringen, das ich aufgrund der Textlänge nicht im Beitrag gebracht habe:
"Alles, was ihre Beine und ihre Kehlen, was ihre Körper, Herzen und Gehirne können, bringen sie in eine gemeinsame Handlung ein, Nicos ‚Wo du nicht bist‘ (dort ist das Glück) kennt keinen Autor und keinen Regisseur, der jeden Vorgang schon vor Probenbeginn den Spielern vor– geschrieben, vor-inszeniert hätten. Die Arbeitsmethode nennt sich und ist ‚angeleitete Improvisation‘: eine geminsame Findung bald in mimischen Zeichen, bald in französischen, japanischen, holländischen, deutschen, englischen Sprachhandlungen, die wir nach und nach enträtseln.
Solche Arbeitsweisen sind heutig. Oft ähneln sie dem Teamwork kleiner Gruppen um einen Forscher-und-Organisator, aus dem im Computerzeitalter die technisch-wissenschaftliche Avantgarde von Silicon Valley entstand. Und jedesmal ähneln sie jener uralten, schöpferischen Form europäischen Theaters, das […] ein Theater der Truppe war."
Der Writers' Room wäre also quasi der schreibende bzw. erzählungsentwickelnde Teil eines vergleichbaren oder vielleicht auch genau eines solchen Prozesses. Das Teamwork kleiner schreibender Gruppen. Utopisch - ja. Aber warum auf Utopien verzichten?
ich geben ihnen wollkommen Recht. Die Schwierigkeit bei Oberender besteht ja eben darin, dass seine Entscheidung auf persönlichen Erfhrungen beruhen. Er fühlte sich eben tot gefördert und zieht hieraus den falschen Schluss.
Nicht nur, dass er seiner Schreiberfahrung, die irgendwie "versandete", nicht all die positiven Beispiele entgegensetzt, (nehmen wir nur einmal, zum Beispiel, Moritz Rinke, der ja in der letzten Spielzeit ein in dieser Spielzeit viel nachgespieltes Stück ablieferte und mit diesem Stück auch in Mühlheim vetreten war, ein Autor, der auch in der Gruppe TNT auftrat) es fehlem ihm, Oberender offensichtlich eben gerade diese Erfahrungen mit neuen Schreibformen, die sich aus einem Writer´s Room entwickeln könnten, Schreibformen, die seine eigene Autorenschaft eventuell hätten weiter inspirieren können.
Es ist scheinbar ein sehr einsame Entscheidung, auf Grundlage eigener, negativer Erfahrungen, die andere Möglichkeiten unbeachtet lässt und die historische Situation des Theaters fehlerhaft einschätzt, glaubt man Nagel, der das Verfassen von Theatertexten zu Recht für unverzichtbar hielt.
Wir leben in der Tat in einem Moment der Geschichte, der stark durch neue Medien geprägt wird, und schon allein von daher, aber eben auch aus seiner wirtschaftlichen und sozialen Struktur heraus völlig neu erschrieben werden sollte.
Das hat mit Geniekult nichts zu tun, nur sind in Kollektiven die Bedingungen nicht gegeben, mit Unbedingtheit eine Sprache in eine bestimmte Richtung treiben zu können, weil Kompromisse gemacht werden müssen, und Kompromisse verhindern Radikalität - diese ist aber für das Schreiben so wichtig!
Um es deutlicher zu machen: Wäre ein Writer's room jemals in der Lage, zu einer Sprache zu kommen, zu Theatertexten zu kommen wie die von Elfriede Jelinek?
Das ist die entscheidende Frage, denken Sie darüber nach.
Was hier propagiert wird ist Storytelling, aber keine Literatur.
Und das Theater soll dem Autorenkollektiv gleich den genauen Auftrag geben, worüber wie geschrieben werden soll? Da werden sich die Dramaturgien sicher schöne Dinge ausdenken, die denken sich ja auch schon die fantasievollen Spielzeitmotti aus. Viel Spaß dabei! Adieu!
Vielleicht müssen es ja nicht gleich zehn Schreiber sein? Das ist finanziell kaum umsetzbar, und zu viele Köche verderben bekanntlich ... Mit Susan Sontag ließe sich zunächst mit vier Personen beginnen, man hätte dann auch gleich einen Casting-Vorschlag. Susan Sontag, 1961:
"Als Schriftsteller muss man vier Personen sein:
1) der Verrückte, Besessene
2) der Schwachsinnige
3) der Stilist
4) der Kritiker
1 sorgt für das Material, 2 lässt es heraus, 3 ist der Geschmack, 4 die Intelligenz.
Ein großer Schriftsteller, hat alle vier in sich - aber man kann auch ein großer Schriftsteller sein, wenn man nur 1 und 2 hat, sie sind am wichtigsten."
Im Übrigen lässt sich damit auch eine Typologie der Dramaturgen erstellen: Bei welchem der vier Punkte schreit welcher Dramaturg am ehesten auf und meint "das kann doch ich machen"?
das Urhebersiegel ist ja kein ideelles, sonder ein rechtliches. Der Urheber dieser Vielzahl von Produkten hat dadurch Anrecht auf Tantiemen und ein Recht auf Beteiligung bei einer Weiterverwertung.
Die wahre Zahl der Werke, die auf eine originäre Idee eines Autors zurück zuführen sind, dürften weitaus geringer sein und werden natürlich nicht gesondert aufgeführt. Es ist eine Profilierungszahl für die Theater, um sich aus einer weitergehenden Verantwortung herauszustehlen. Solche Zahlen sollen stets belegen, es sei bereits genug getan. In Wahrheit gehen sie an der Realität des Berufsstandes Dramatiker vorbei.
Das Entstehen von Writer-Rooms - EXPLIZIT für Serien - ist einfach eine Kostenfrage. Der unabhängige und freie Autor wird ja normalerweise nach 'Folge' bezahlt. Bei marktüblichen Preisen (TV-Martkt) von 10-25k pro Folge kann eine 10-tlg-Serie dann eben mal locker 100k bis 250k kosten; und das allein nur an Scriptkosten. Ebenso haben Writer-Rooms den Vorteil, das sich alle direkt einmischen können. Zwar entsteht dann auch ein Werk, das rund um abgesichert ist, aber für Einzelwerke (analog Filme) finden Writer-Rooms bei den Autoren eher kein Anspruch, weil sie wissen: als Angestellter verdiene ich zwar ein festes Gehalt, aber auch nicht viel (ca. 1,5-2k). Als Unabhängiger dagegen mehr, aber eben auch seltener und ich bin ungebundener.
Writer-Rooms eignen sich also eher primär für mehrteilige Werke oder eben Serien. Generell solche Writer-Rooms einzurichten würde bedeuten, den unabhängigen Autor auszubooten, da diese immer teurer sein werden, als festangestellte MA.
Es hängt somit auch vieles vom persönlichen Anspruch des Autors selbst ab. Unabhängiger Freiberufler oder abhängige Festanstellung? Als Festangestellter geht es einem finanziell somit auch nicht viel besser, außer das man dann ständig was zu tun hat und auch dann, wenn man eigentlich gerade nicht will.^^