Aufgesogen von A bis Z

20. Mai 2023. Felicitas Bruckers "Nora" mit den Texten von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch, Ivna Žic ist die Überschreibungs-Inszenierung in der 10er TT-Auswahl. Aufgesogen mit den Erfahrungen aller Noras. Im Horrorhaus mit großer Dach-Schräge turnt und windet man sich aus diesen Erfahrungen heraus – mit überraschendem Ende.

Von Sophie Diesselhorst

Felicitas Bruckers Inszenierung der "Nora" von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch, Ivna Žic an den Münchner Kammerspielen © Armin Smailovic

20. Mai 2023. Wegen technischer Probleme geht die Theatertreffen-Premiere von "Nora" erst eine Stunde später los – mehr Zeit also fürs Drumherum, dafür, sich zum Beispiel bei einem Glaserl in seine bürgerliche Doppelmoral zu vertiefen. Aus der katapultiert das kanonische Werk eine:n ja dann bekanntlich mit aller Wucht heraus. So zumindest die traditionelle Erwartung an "Nora".

Nur dass diese Nora hier, Katharina Bach, schon von Anfang an die Schnauze gestrichen voll hat. Sie ist aufgeladen mit der Nora-Erfahrung aller Noras, von A bis Z. Dementsprechend sitzt die Geschichte fast die gesamte Dauer des etwas über zweistündigen Abends schief, scheint Katharina Bach sich, auf der Halbschräge der Bühne entlang turnend, beharrlich da hinauszuwinden.

Horrorhaus mit vielen Schrägen

Zuhause ist ihre Nora nur in den Liedern, die sie mit dunkler Stimme singt und röhrt, und im Deklamationsmodus der Monologe, die Gerhild Steinbuch als eine von drei zur Ergänzung gebetenen Autorinnen in das Stück hineingeschrieben hat. Nach vorne wütend gegen die Reproduktion des Patriarchats.

Diese Wut ist eine echte, sie steckt in den Texten und sie steckt in dieser Nora-Darstellerin, die nicht einmal von ihrem schwindelerregenden Energielevel abstürzt. Allerdings produziert dieses Energielevel auch schnell eine gewisse Erwartbarkeit, so dass sich der Abend fürs Publikum ganz schön zieht. Dramaturgisch geht hier nicht viel, und man fragt sich schon, warum Ibsens Stück so breit auserzählt wird – damit die Zu-Schreiberinnen genug Platz drin finden konnten?

Zuhause in der Wut

Der Prolog von Sivan Ben Yishai weckt anfangs noch höhere Erwartungen ans Komplexitätsniveau. Schauspieler:innen auf der "Nora"-Leseprobe verheddern sich in ihren Eitelkeiten und denen der Ibsen-Figuren, ein Nebendarsteller sucht das Rampenlicht, Nora platzt darob das erste Mal der Kragen ("Male privilege!"). Aber sie lässt sich dann doch wieder in ihre Figur sperren, auch wenn sie es ja eben eigentlich schon längst besser weiß.

Dass Ibsens "Nora" zur Entstehungszeit des Stücks ein Schocker war, macht diese Aufführung quasi un-nachvollziehbar. Mit Absicht: Nora tut ja auch gar nicht so, als würde sie dem Publikum etwas Neues verkünden. Gegen Ende entgleist ihr das Gesicht und gefriert in einem Dauer-Grienen, aus dem die Erschöpfung spricht darüber, all das immer wieder sagen, sich immer wieder verausgaben, immer wieder stellvertretend befreien zu müssen.

Bis zum Ehekrisen-Finale

Wenn Noras mansplainender Fast-Ex-Ehemann sich zum Schluss (wieder von Gerhild Steinbuch) selbst vorführt und den Ausweg aus der Ehekrise in toxisch-männlicher Verzweiflung darin sieht, "was Radikales zu machen", dann scheint der Abend sich auf einmal selbst auf die Schippe zu nehmen. Denn eigentlich hat er doch bis dahin genau das selbst auch angestrebt. Konsequent, und ohne Spannungsbogen.

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Hier geht es zur Nachtkritik der Premiere an den Münchner Kammerspielen im November 2022, hier zur unserer TT-Festivalübersicht. In der TT-Vorstellung sprang Bernardo Arias Porras für den erkrankten Thomas Schmauser ein, über die Kunst solcher kurzfristigen Umbesetzungen und das Einspringen sprach Linda Pöppel auch im Januar im Theaterpodcast #43

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Kommentare  
Nora, TT2023: löst Versprechen nicht ein
Sehr gute Kritik, der Abend verspricht in seinem Prolog mit dem Geisterhaus sehr viel und löst fast nichts ein, bleibt seltsam inkonsequent - wie eine Regieschularbeit. Viele Mittel, viele Ideen, wenig Zusammenhang. Unterhaltsam aber eher nicht bemerkenswert... Warum diese Einladung? Gab es keine bessere Arbeit einer spannenden Regisseurin?
Nora, TT2023: eine eigene Geschichte werden
Zum Gastspiel beim Theatertreffen:

Diese Nora hat, stellvertretend für alle Frauen und Marginalisierten, für die Lindes und Krogstads, die Namenlosen der Besetzungsliste, das Schreiben der eigenen Geschichte in die Hand genommen. Denn darum geht es an diesem Abend: eine eigene Geschichte zu werden, statt Teil einer fremden zu sein. Was ist das für ein Mensch, fragt sie, dessen Geschichte immer nur ins Aufgeben führt? Ein emanzipatorischer Aufbruch, der weit über Ibsen hinausgeht und vielleicht auch deshalb im Text gelingt und auf der Bühne zumindest teilweise scheitert. Denn so intensiv und voller Spannung der Abend ist, so sehr bleiben doch Lücken, so sehr ist vieles verlautbart und behauptet, aber nicht gespielt, sind insbesondere die feministischen Reflexionsversuche Steinbuchs recht plakativ geraten, wirkt der Prolog etwas zu gewollt, erscheinen die Textzugaben oft etwas verkopft. Dieser Abend will alles und muss daran scheitern. Und erreicht doch viel: Er eröffnet Diskurswegen, zeigt Verbindungen auf, verknüpft aus Machtgründen separierte Kämpfe. Dabei passt vielen nicht zusammen, zerfasert der Ton mitunter, wirken Szenenabfolgen zuweilen wie von Tesafilm zusammengehalten. Aber der Abend wagt, riskiert, wirft sich in jede Bresche. Und das ist selbst so emanzipatorisch, wie Theater nur sein kann. Stürmischer Schlussapplaus voller Erkenntnis und Wut. Auch das kann Theater und muss es viel öfter sein.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2023/05/20/emanzipatorische-wut/
Nora, TT 2023: Freiheit einer Frau
Ich schließe mich J.A. an: sehr treffende Kritik von Sophie Diesselhorst. Katharina Bach spielt die wütende, röhrende Nora auf beeindruckendem Energie-Level. Aber ihr fehlt der Gegenpol. Vincent Redetzki hat ein paar schöne Szenen, aber dramaturgisch ist der Abend zu plakativ und breit auserzählt.

Warum der Abend eingeladen wurde, bleibt Geheimnis der Jury. Auf J.A.s zweite Frage habe ich eine Antwort: der zweite Teil des Münchner Doppelabends, "Freiheit einer Frau", ist wesentlich konzentrierter und aus meiner Sicht überzeugender. Ein Schauspiel-Trio auf Augenhöhe mit Rhythmus- und Lautstärkewechseln.

Komplette Münchner Doppel-Kritik, gute Besserung an Thomas Schmauser: https://daskulturblog.com/2022/12/30/nora-die-freiheit-einer-frau-muenchner-kammerspiele-kritik/
Nora, TT 2023: Das Stück als Spielvorlage
Liebe Sophie Diesselhorst,

auch von mir vielen Dank für ihre vorsichtig abwägende Rezension.
Nur an einer Stelle war meine Wahrnehmung eine andere: ich empfand den Ausruf „Man müsste etwas Radikales machen!“, den Edmund Telgenkämper - mehr als Spieler denn als Helmer - nach etwa zwei Stunden ins Publikum richtete, vielleicht auch ein das Theater betreffender Hilferuf. Ein Gedanke drängte sich mir sofort auf: das Stück spielen. Das wäre etwas Radikales. Mit Betonung vor allem auf SPIELEN. Das würde für mich, und, wie ich glaube, bei vielen Zuschauenden eine Hoffnung nähren, mit der wir Platz genommen hatten: das sich das Münchner Ensemble für Nora entschieden hat, um sich mit diesem Text als Spielvorlage zu beschäftigen, sich seinem Geheimnis fragend, vielleicht suchend zu nähern. Die Figuren ergründen zu wollen, nicht das bestätigt finden zu wollen, was man über diese (in unserer schnell überbelichteten Theater-Gegenwart) ohnehin zu wissen glaubt. Ein Bühnen-Feld zu schaffen, das SPIEL ermöglicht und nicht nur bedeutsam bleibt. Ibsens Dialoge wirklich zu Leben zu machen, dass nicht so vieles, was gesagt wird, grausam folgenlos bleibt. Zu schauen, ob auch einmal eine Replik, ein Gedanke stehen bleiben, berühren kann, die Spielenden selbst: uns. Und uns, dem Publikum vertrauen, uns ruhig eigenes Denken zuzumuten. Weniger Anklage – mehr Spiel. Figuren als Menschen. Das wäre heute radikal und schön.
Über vieles andere kann man gern streiten: welche Aussage war dem Ensemble wichtig, wieviel Fremdtext braucht Ibsens Nora (hier tatsächlich über weite Strecken eher Erklärung zum nicht erspielten Stück, eine Art „Nachrichten in einfacher Sprache“), warum gönnt man der Titelfigur keine Entwicklung und warum tragen sterbende Ärzte Frauenkleider usw. Aber berührendes Spiel sollte doch erst einmal versucht werden, an einem solchen traditionsreichen Haus, mit diesem dichten Stück, mit einem solch tollen Ensemble. Selbst der (vermutlich) kurzfristig eingesprungene Bernardo Porras ließ ahnen, was möglich gewesen wäre, wenn es um Spiel und nicht nur Proklamation von Ideen gegangen wäre, zu deren Untermalung man lange nur bedeutsam an der Hauswand klettern durfte.
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